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Wort unter uns
Über die Erfahrung
Luigi Giussani



Als Bischof der Diözese Mailand erkundigte sich Kardinal Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI. 1963 in einem Brief an Don Giussani unter anderem über den hohen Wert, der bei Gioventù Studentesca (aus der Comunione e Liberatione hervorgehen sollte) der Erfahrung gewährt wurde. (Vgl. M. Camisasca, Comunione e Liberazione. Le origini, San Paolo, 2001). Aus Don Giussanis Antwort wurde eine kleine Schrift mit dem Titel Die Erfahrung, die im November 1963 erschien und das Imprimatur von Monsignore Carlo Figini, dem strengen Glaubenshüter der ambrosia-nischen Kirche, sowie dem Generalvikar von Mailand, Monsignore Schiavini, trug. Knapp ein Jahr später, im August des Jahres 1964 wird Paul VI. in seiner Enzyklika Ecclesiam suam schreiben: «Das Geheimnis der Kirche ist nicht bloßer Gegenstand theologischer Erkenntnis. Es muss eine gelebte Wirklichkeit sein, von der der gläubige Mensch, noch bevor er einen klaren Begriff davon hat, eine gleichsam mit der Natur gegebene Erfahrung haben kann.» (Ecclesiam suam, Nr. 39. Dt. zitiert nach: Herderkorrespondenz 18 (1963/64)).
Die genaue Umreißung der Methode, wie sie sich im folgenden Text findet, der geschrieben wurde als die Bewegung ihren Anfang nahm, charakterisiert auch heute vortrefflich, wie sich Comunione e Liberazione vorschlägt. Er ist ein wertvolles Hilfmittel bei dem Versuch, die Gegenwart bewußter zu leben - ein Versuch der deswegen stets so riskant ist, weil er die Gefahr birgt, die Erfahrung auf ein Gefühl (Sentimentalismus) oder eine Moral (Moralismus) zu reduzieren, was besonders für die heutige Zeit gilt, in der aufgrund der allgemeinen Verunsicherung alles in Auflödung begriffen zu sein scheint. In der also keine Spur mehr von jener Gewißheit vorhanden zu sein scheint, die aus der Begegnung mit Christus entsteht. Daher hier der Text der Schrift Die Erfahrung (nunmehr Teil des Buches Das Wagnis der Erziehung zur christlichen Erfahrung, St. Ottilien, EOS-Verlag 1996. Mit einem Vorwort von Nikolaus Lobkowicz).

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Die Erfahrung als Entfaltung der Person
Die Person hat einmal nicht existiert - jetzt existiert sie: deshalb ist das, was ihr Bestand gibt, etwas Gegebenes, hervorgebracht durch einen anderen.
Diese ursprüngliche Situation wiederholt sich auf jeder Ebene in der Entwicklung der Person. Was mein Wachstum bewirkt, deckt sich nicht mit mir, sondern ist etwas anderes als ich.
Konkret bedeutet Erfahrung, das zu leben, was mich wachsen läßt. Die Erfahrung verwirklicht somit die Förderung der Person durch das Eingehen einer objektiven Beziehung.
N.B.: Die Erfahrung beinhaltet folglich das Bewußtsein des eigenen Wachsens. Und dies in seinen beiden Grunddimensionen, der Fähigkeit zu verstehen und der Fähigkeit zu lieben.

a) Die Person ist vor allem Bewußtsein. Deshalb ist das, was meine Erfahrung kennzeichnet, nicht so sehr das Tun so, als ob das In-Beziehung-Treten mit der Wirklichkeit etwas rein Mechanisches wäre: dies ist der Fehler, welcher der gewöhnlichen Aussage zugrunde liegt, nach der man «Erfahrungen machen muß» und dabei «Erfahrung» als ein Synonym für «Probieren» gebraucht.
Was die Erfahrung kennzeichnet, ist das Verstehen einer Sache, das Entdecken ihres Sinnes. Die Erfahrung beinhaltet also die Einsicht in den Sinn der Dinge. Und den Sinn einer Sache entdeckt man in dem Zusammenhang, in dem sie zu allem übrigen steht. Deshalb bedeutet Erfahrung, zu entdecken, wozu eine bestimmte Sache der Welt dient.

b) Aber den Sinn einer Sache schaffen wir nicht selber: Der Zusammenhang, der alles mit allem verbindet, ist objektiv. Die wahre Erfahrung ist deshalb das Bejahen einer Situation, die uns anruft, sie ist die Aneignung dessen, was uns gesagt wird. Es geht deshalb um die Aneignung der Dinge, aber in einer Art und Weise, die sich an deren objektiver Bedeutung orientiert. Diese Bedeutung aber ist das Wort eines Anderen.
Die wahre Erfahrung läßt mich aufbrechen und fördert meine Fähigkeit anzuhängen, sie fördert meine Fähigkeit zu lieben. Die wahre Erfahrung stellt mich in den Rhythmus der Wirklichkeit hinein und läßt mich unermüdlich nach der Einheit aller Dinge streben, bis hin zum ihrem letzten Aspekt, also bis hin zur wahren und erschöpfenden Bedeutung einer Sache.

Die Natur als Ort der Erfahrung
«Natur» ist der Ort jener objektiven Beziehungen, welche die Person entfalten. Somit ist die «Natur» der Ort der Erfahrung.
Es ist ein Kennzeichen der Natur, daß sie ein organisches und hierarchisches Netz bildet, welches das jeder Person innewohnende Bedürfnis nach Einheit fördert. Dieses wesentliche Bedürfnis findet eine Entsprechung in der Bejahung Gottes; denn Gott ist der einheitliche Sinn, auf den hin die Natur in ihrer objektiven organischen Verfaßtheit das Bewußtsein hinweist.

Der Irrtum in der menschlichen Erfahrung
Aber das Streben nach Einheit - die Seele des bewußten Lebens der Person - muß gegen Kräfte der Trennung kämpfen, die im Menschen ebenfalls vorhanden sind. Diese Kräfte bewegen ihn dazu, den objektiven Zusammenhang zu mißachten und die organische Verbundenheit der Natur zu lösen, indem sie einzelne Aspekte aus ihrem Zusammenhang isolieren.
Aufgrund des Strebens nach Einheit, das der Mensch in sich trägt, führt die Isolierung eines einzelnen Aspekts unausweichlich zu seiner Verabsolutierung. All das blockiert die Dynamik der Entwicklungsbeziehung der Person, weil sich diese Beziehung dann lediglich als eine Abfolge unverbundener Einzelheiten mit Überbetonungen des einen oder anderen Aspekts verwirklicht.
Hier haben die vielen, zwar häufig anzutreffenden, aber unangemessenen Deutungen des Wortes «Erfahrung» ihren Ursprung: So wird die Erfahrung etwa gleichgesetzt mit einer unmittelbaren Reaktion auf irgendeinen Vorschlag oder mit einer Vermehrung der Beziehungen durch eine bloße Anhäufung von Initiativen; man verwechselt sie mit einer plötzlichen Faszination oder Abscheu vor neuen Dingen oder mit der Durchsetzung eines eigenen Planes bzw. der eigenen Vorstellung, gelegentlich auch mit einer Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht als Wert der Gegenwart gelebt wird, oder gar mit Ereignissen, die lediglich zur Sprache gebracht werden, um eine neue Anstrengung zu verhindern oder um Ideale zu Fall zu bringen.

Das Geheimnis Gottes offenbart sich im Feld der menschlichen Erfahrung
Das Eingreifen der Propheten und Jesu Christi in die Geschichte sollte dazu dienen, mit absoluter Klarheit Gott als die letzte Implikation der menschlichen Erfahrung und folglich die Religiosität als unausweichliche Grunddimension einer authentischen und erschöpfenden Erfahrung bewußt werden zu lassen.
Aber die Außerordentlichkeit Christi liegt nicht so sehr in der Tatsache, daß er zur Wahrnehmung dieser Implikation aufruft, sondern vielmehr darin, daß das Ereignis Christi selbst die physische Anwesenheit dieses letzten Sinnes der Geschichte bildet. Es gibt keine erschöpfende menschliche Erfahrung, wenn sie nicht eine - bewußte oder unbewußte - Erschließung der Beziehung mit diesem Ereignis des Gottmenschen Jesus Christus ist.
Die objektive Beziehung, die der menschlichen Person zur Entfaltung dient, findet ihren Ort nicht mehr nur in der Natur, sondern auch in der «Über-Natur»: die Geschichte dieses Ortes heißt Kirche (der «mystische Leib Christi»).

Die christliche Erfahrung
Die christliche und kirchliche Erfahrung entsteht als Einheit eines lebendigen Aktes, der sich aus drei Faktoren ergibt:

a) Die Begegnung mit einem objektiven Faktum, das in seinem Ursprung unabhängig ist von der Person, welche die Erfahrung macht; einem Faktum, dessen existentielle Wirklichkeit eine Gemeinschaft ist, die sich spürbar zum Ausdruck bringt wie jede in vollem Sinne menschliche Lebenswirklichkeit, eine Gemeinschaft für die eine menschliche Stimme der Autorität mit ihren Urteilen und ihren Wegweisungen das Kriterium bildet und ihre Form bestimmt. Es gibt keine Art christlicher Erfahrung, sei sie auch noch so innerlich, die nicht zumindest im Letzten diese Begegnung mit einer Gemeinschaft und diese Beziehung zu einer Autorität beinhaltet.

b) Die Fähigkeit, den Sinn dieser Begegnung angemessen wahrzunehmen. Der Wert des Faktums, auf das man sich einläßt, geht über die Durchdringungskraft des menschlichen Bewußtseins hinaus. Es bedarf also einer Tat Gottes, um ein angemessenes Verständnis zu ermöglichen. In der Tat läßt derselbe Gestus, durch den Gott sich dem Menschen im christlichen Ereignis vergegenwärtigt, auch die Erkenntnisfähigkeit des Bewußtseins wachsen. Derselbe Gestus paßt die Schärfe des menschlichen Blickes der außerordentlichen Wirklichkeit an, mit der er ihn herausfordert. Dies wird Gnade des Glaubens genannt.

Aus: Luigi Giusani, Das Wagnis der Erziehung zur christlichen Erfahrung, St. Ottilien, EOS-Verlag 1996. S. 82-85.