Wort unter uns
Christus, alles was wir haben
Luigi Giussani
Mitschrift eines Gesprächs von Luigi Giussani
mit einer Gruppe von Comunione e Liberazione. New York, 8. März 1986
Wir bringen den folgenden Dialog wegen der Urteilskraft, die
ihn auszeichnet und des damit verbundenen Aufrufs, der an uns heute ergeht. In
seinen Antworten auf Fragen der ersten Freunde von CL in New York erklärt
Giussani den `Genius' der Bewegung, die die Kirche mit der Anerkennung der
Bruderschaft am 11. Februar 1982 bestätigte. Anhand eines kurzen
Rückblicks auf die Geschichte der Bewegung erläutert er insbesondere
die Originalität der westlichen Tradition - ein hochaktuelles Thema
angesichts der vielfach äußerst unbefriedigenden Diskussionen und
Kommentare der letzten Monate in den Medien.
Frage: Du hast uns die Geschichte der Bewegung erzählt
und sie in drei Teile unterschieden: Der Anfang, die Krise und die Gegenwart.
Könntest du uns helfen, aus diesem Blickwinkel heraus unsere derzeitig
Lage hier in Amerika zu verstehen? Worauf müssen wir achten oder wo
bestehen Gefahren, zumal wir ganz am Anfang stehen?
Don Giussani: Für die Bewegung ist folgendes
kennzeichnend: Vor allem eine Wiederaufnahme des Kernes des christlichen
Glaubens: Jesus Christus ist das Zentrum des Kosmos und der Geschichte! Das
christliche Leben wird dabei als fortwährende Verifizierung der Beziehung
zwischen Christus und den Fragen, die unsere Zeit kennzeichnen, verstanden und
empfunden. Diese lebendige und existenzielle Wahrnehmung Christi, welche der
Inhalt des Glaubens ist, kann nicht eine rein individuelle Entdeckung oder
Wiederentdeckung sein. Vielmehr setzen sowohl die Entdeckung als auch die
Verifizierung die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft voraus.
Die zweite Phase unserer Geschichte, die durch die
große Zerstörungskraft der Studentenrevolte von 1968 hervorgerufen
wurde, war durch die Entdeckung gekennzeichnet, dass das Christentum erst in
zweiter Linie ein ethischer oder moralischer Impuls ist. Doch was kommt davor?
Davor kommt die Wahrheit, dass das Christentum ein neuartiges Faktum in der
Geschichte ist. Ein neues, unzurückführbares, unvermeidliches
Ereignis in der Geschichte. Deshalb bedeutet das Christentum als Gegenwart ein
Ereignis, das gegenwärtig ist, auf das man stößt und das man
sieht: Man muss es finden, auf es stoßen und in es eintreten.
Die dritte Phase war durch das Bewusstsein bestimmt, dass wir
keine Alternative im Kampf mit anderen Kräften brauchten; nicht die
Antithese oder ein Wetteifern mit ihnen war von Nöten, sondern die
einfache Ausbreitung und Vervielfältigung dieses Ereignisses und damit
der christlichen Gemeinschaft. Weggemeinschaften hervorbringen, Fakten einer
neuen Menschlichkeit schaffen, das ist unsere einzige Aufgabe. Für euch,
die ihr am Anfang steht, sehe ich die Gefahr, dass ihr oberflächlich seid
bei der Erkenntnis der Güter, die euch übermittelt wurden. Auf der
anderen Seite besteht die Gefahr, das Ziel eures Einsatzes mit einem
bestimmten Erfolg zu identifizieren, mit einem einfach festzustellenden
Ergebnis, dass euch dann die Zuneigung und Wertschätzung der anderen
sichern soll. Es gibt eine schwerwiegende «Unannehmlichkeit» bei
unserem Einsatz: nämlich dass unser Einsatz nur eines zum Ziel hat,
staunend anzuerkennen, wer Christus ist. Wird Christus vergessen, dann geht
der Mensch zugrunde, wie der britische Literaturnobelpreisträger T. S.
Eliot in «Chöre aus The Rock» sagt.
Frage: Was denkst du über die westliche Kultur? Diese
Frage ist für uns deshalb von Bedeutung, weil wir in einem Land leben,
das beansprucht, der vollendete Ausdruck des Abendlandes zu sein.
Don Giussani: Das scheint mir eine allumfassende Frage... Ich
glaube, dass die abendländische Kultur Werte besitzt, auf Grund derer sie
sich sowohl kulturell als auch operativ beziehungsweise gesellschaftlich auf
der ganzen Welt durchgesetzt hat. Eine kleine Anmerkung gilt es hier jedoch zu
machen: der Westen hat all diese Werte vom Christentum geerbt. Da ist
zunächst einmal der Wert der Person, den die ganze Weltliteratur nicht
hätte entwerfen können. Denn die Person kann in ihrer Würde nur
verstanden werden, wenn anerkannt wird, dass sie nicht ausschließlich
aus der Biologie von Vater und Mutter stammt. Ansonsten ist sie wie ein
Kieselstein im reißenden Fluss der Wirklichkeit, oder wie der Tropfen
einer Welle, die sich am Felsen bricht. Der Wert der Arbeit, der in der ganzen
Weltkultur, in der antiken wie bei Marx und Engels, als Sklaverei verstanden
wird, wird in die Nähe zur Sklaverei gestellt. Christus jedoch definiert
Arbeit als die Tätigkeit des Vaters, als Tätigkeit Gottes. Der Wert
der Materie, das heißt die Aufhebung des Dualismus von einem noblen und
einem verachtenswerten Aspekt des Lebens der Natur. Dieser Dualismus existiert
für das Christentum nicht. Der revolutionärste Satz der
Kulturgeschichte stammt vom heiligen Paulus: «Alles, was Gott geschaffen
hat, ist gut». So kann Romano Guardini auch sagen, dass das Christentum
die «materialistischste» Religion der Geschichte ist. Der Wert des
Fortschritts, der Zeit, die eine Bedeutung gewinnt. Denn das Verständnis
von Geschichte schließt die Vorstellung eines intelligenten Planes ein.
Meines Erachtens sind dies Grundvorstellungen der westlichen Zivilisation.
Eines habe ich nicht erwähnt, weil es im Verständnis der Person
schon enthalten ist: die Freiheit. Wenn der Mensch ganz von seinen
biologischen Vorfahren abhängen würde, was die vorherrschende Kultur
behauptet, dann wäre er Sklave von Zufällen und somit Sklave der
Macht. Macht nämlich ist das Kleid, in dem das Schicksal in der
Geschichte auftritt. Wenn aber etwas im Menschen unmittelbar aus der Quelle
des Seins stammt, nämlich die Seele, dann ist der Mensch wirklich frei.
Der Mensch kann sich zwar nicht als vollkommen frei verstehen. Da er einmal
nicht da war, jetzt aber da ist, hängt er zwangsläufig von etwas ab.
Die Alternative hier ist sehr einfach: Entweder er hängt von dem ab, was
die Wirklichkeit schafft, also Gott, oder er hängt von der
Zufälligkeit dessen ab, was die Natur in Bewegung hält, also der
Macht. Die Abhängigkeit von Gott erlaubt die Freiheit des Menschen
gegenüber anderen Menschen. Der schreckliche Fehler, ja der
fürchterliche Irrtum der abendländischen Kultur liegt darin, dass
sie dies vergessen und bestritten hat. So ist der Mensch im Namen der eigenen
Autonomie zum Sklaven jedweder Macht geworden. Je raffinierter die
Möglichkeiten dieser Zivilisation werden, desto größer wird
die Sklaverei. Die Lösung liegt darin, für eine Rettung zu
kämpfen: es geht nicht darum, die Hinterhältigkeit jener
Gesellschaft zu bekämpfen, es geht vielmehr darum, dafür zu
kämpfen, dass die Abhängigkeit des Menschen von Gott wiederentdeckt
und bezeugt werde. Das was zu allen Zeiten die wirkliche Bedeutung des
menschlichen Kampfes war, das heißt der Widerstreit zwischen der
Verwirklichung der Menschlichkeit und der Instrumentalisierung des Menschen
durch die Macht, ist heute zum Äußersten gelangt. So warnte Papst
Johannes Paul II. mehrfach: Die größte Gefahr von heute liegt nicht
einmal in der Zerstörung der Völker, in der Tötung oder im
Mord, sondern im Versuch der Macht, das Menschliche zu zerstören. Und das
Wesen des Menschlichen ist die Freiheit, das heißt die Beziehung zum
Unendlichen. Deshalb muss der große Kampf vor allem im Abendland
ausgefochten werden, und zwar von Menschen, die sich als Menschen empfinden.
Es ist der Kampf zwischen einer authentischen Religiosität und der Macht.
Wahre Religiosität begrenzt die Macht. Sie stellt die Grenze jeder Macht
dar, sei sie gesellschaftlich, politisch oder klerikal.
Frage: Das wichtigste Ziel eines Christen besteht, so wurde
gesagt, darin, die Begegnung mit Christus mitzuteilen. In dieser Hinsicht bin
ich im vergangenen Jahr auf zwei Arten von Problemen gestoßen. Das
erste: Viele Menschen sind Christen, weil das Christentum ihre kulturelle
Tradition ist (viele stammen hier in den USA etwa von der irischen Kultur ab).
Und so glauben sie bereits zu wissen, was das Christentum ist. Im zweiten
Falle begegnet man Menschen, die vom Glauben in keiner Weise beeindruckt
werden und ihm gegenüber überhaupt keine Offenheit entwickeln. Wie
soll man diesen beiden Verhaltensweisen begegnen?
Don Giussani: Ich glaube, dass man beiden Typen von Menschen,
also denen die dem Christentum bereits begegnet sind, und denen die ihm noch
nicht begegnet sind, auf dieselbe Art und Weise begegnet: Es ist die
Botschaft, die durch das persönliche Zeugnis vermittelt wird. Denn
Christus ist in meinem Zeugnis gegenwärtig. Oder besser, es gibt
höchsten einen Unterschied: bei dem, der dem Christentum bereits begegnet
ist, braucht es ein wesentlich kraftvolleres und wirksameres Zeugnis, denn
«die Menschen lernen nur selten das, was sie bereits zu wissen
glauben», wie die Schriftstellerin Barbara Ward sagte.
Frage: Was ist das ursprüngliche Kennzeichen der
Bewegung? Was unterscheidet sie von anderen Bewegungen in der Kirche und in
der Welt?
Don Giussani: Mir scheint, dass der Genius - durchaus im
lateinischen Sinne des Wortes verstanden - darin besteht, dass sie die
Dringlichkeit empfand und verstand, dass es notwendig war, zu den wesentlichen
Aspekten des Christentums zurückzukehren. Das heißt die
Rückkehr zur Leidenschaft des christlichen Faktums als solchem, in seinen
ursprünglichen Elementen. Deshalb finden sich auch Priester, Brüder,
Ordensfrauen, Mitglieder anderer Bewegungen in unserer Akzentsetzung wieder.
Sie empfinden sich gleichsam als Freunde unserer Akzentsetzung. Wir wollen
nichts anderes als das, was wir mit allen anderen gemeinsam haben
müssten. Und unser Handeln, unsere Aufgabe besteht darin, alle auf diese
für jeden notwendigen Faktoren hinzuweisen. Vor allem auf das, was ich
oben genannt hatte: die Kategorie des Ereignisses, dass also das Christentum
ein gegenwärtiges Faktum ist, von dem du und ich ein Teil sind. Es ist
das Faktum Christi, der gegenwärtig ist. Aber diese Gegenwart braucht
mich und dich, uns. Ihr müsstet den Film «Gott braucht
Menschen» von Jean Delannoy sehen, wenn ihr ihn in einer Videothek
bekommt.
Frage: Welche Bedeutung hat das Gebet im Leben der Bewegung
und wie kann es einer Gemeinschaft wie der unseren nutzen, damit unsere
Freundschaft wächst?
Don Giussani: Christus ist gekommen, nachdem ihn die
Propheten und die Armen im Geiste über Jahrhunderte hinweg ersehnt
hatten. Das jüdische Volk stand in seinen hellsichtigsten Vertretern
für die ganze Menschheit, die etwas erwartete. So antwortet Gott stets
auf eine Frage, auf ein Betteln des Menschen. Und in der Tat finden sich in
der ganzen Weltliteratur Spuren dieser Erwartung oder dieses Schreies nach
etwas anderem, das der Mensch nicht kennt. Deshalb offenbart sich mir
Christus, er offenbart mir seine Gegenwart und tritt in mein Leben ein, je
mehr ich ihn darum bitte. Denn Er tritt doch nicht ein, wo Er nicht erwartet
wird. Das Wesen des Gebets besteht darin, um Christus zu betteln: «Komm,
Herr Jesus.» Es sind die letzten Worte der Bibel und die ersten Worte des
Urchristentums. Wir müssen in uns die ganze Erwartung der Menschheit
leben oder erneut durchleben. Denn Christus antwortet der Freiheit und die
Freiheit ist in jedem Augenblick wie neu. Das Größte im Leben
unserer Erfahrung ist die Entdeckung, welche Bedeutung das Gebet hat. Das
Gebet ist das einzige Phänomen, bei dem der Mensch sein ganzes Wesen
einsetzt. Wer dem Leben der Bewegung folgt, kann bezeugen, dass ich
persönlich hierzu vergleichsweise mehr gesagt habe, als zu anderen
Fragen. Denn der Mensch ist Verlangen, er ist Suche: Wenn es aber keine Frage
gibt, dann gibt es auch weder Verlangen noch Suche. Also versucht die
Weggemeinschaft, wenn sie uns an die Laudes, das Mittagsgebet, die Vesper, das
Abendgebet und den `Engel des Herrn' erinnert, nichts anderes als uns die
Bitte nach Christus zur Gewohnheit werden zu lassen. Das heißt die Bitte
nach dem Sein, nach der Erfüllung, nach der Wahrheit, nach dem Leben,
nach dem eigenen, wahren Ich. Entschuldigt, ich sage es euch als Freund, aber
wenn man versteht, was das Gebet ist, dann überschreitet man die Schwelle
zum Menschlichen. Wenn ein Mensch diese Schwelle nicht erreicht, kann er die
Natur nicht genießen und die Musik nicht verstehen, er kann die
Beziehung zur Frau nicht verstehen, und nicht die Beziehung zu sich selbst.
Denn wenn er nicht Frage ist, dann ist dies alles nichts.
Frage: Könntest Du uns helfen, die Beziehung zwischen
dem Gebet, so wie du es gerade erläutert hast, und der Nächstenliebe
zu verstehen.
Don Giussani: Wenn jemand wirklich die eigene Armut kennt,
wenn jemand wirklich bittet... Aber wir bitten nie. Wir warten, aber wir
bitten nicht. Auch ein Hund wartet, aber er bittet nicht! - Die erste
Befreiung, ja mehr noch, die eigentliche Verwirklichung des Menschen liegt
darin, zu bitten. Bei dieser Frage erinnere ich stets an den Vergleich, den
ich mal in der Schule gemacht habe. Um den Studenten verständlich zu
machen, dass sie nicht suchten - weil alle das suchen, was sie bereits im Sinn
haben -, schrieb ich das Wort «omre» an die Tafel. Daraufhin sagte
einer der Studenten: «Dieser Priester ist doch verschroben». Er
sagte das, weil er glaubte, das von mir geschriebene Wort habe keinen Sinn.
Daraufhin sagte ich zu ihm: «Du selbst bist verschroben. Denn eigentlich
hättest du fragen müssen: Was soll das heißen? Du hättest
fragen müssen! Und ich hätte dir geantwortet: Das wir nicht omre
sondern atche ausgesprochen und ist der Vokativ des Wortes `Vater' im
Altrussischen». Der Junge hat das Wort dem entsprechend angeschaut, was
er schon im Sinn hatte, deshalb konnte er auch nichts mehr lernen. Wenn aber
jemand fragt, dann lernt er und entdeckt Neues. Aber alle Leute verhalten sich
wie dieser Schüler von mir. Was eine solche Haltung verhindert und uns
zum Lernen öffnet, ist das Gebet als Bitte. Jede wahre Bitte ist ein
Gebet, weil die Frage, die wahre Frage, die von der Neugier getrieben ist,
nichts anderes als ein Ausdruck des Verlangens nach der Wahrheit, das
heißt dem Göttlichen ist: Die Bitte um Liebe, die Bitte um die
Erfüllung des Ichs, und damit die Frage nach Gott. Danke dir für die
Frage nach dem Gebet. Jemand, der die Frage versteht, versteht auch sofort,
worum es dem anderen geht. Er kann nicht gleichgültig bleiben, wenn der
andere eine Frage hat. Deshalb hilft er ihm umsonst: das nennt sich
Nächstenliebe. Wer aber seine eigene Bedürfnisse nicht
verspürt, wer nicht den Schmerz des Bedürfnisses lebt, kann nicht
verstehen, dass der andere ebenfalls ein Verlangen lebt. Und dann wird der
andere lediglich zum Gegenstand seiner Vorstellungen, selbst wenn dabei viel
Wohltätigkeit geübt wird: man könnte etwa das Vorhaben
verfolgen, mehr Ausgeglichenheit zu verwirklichen. Aber das wirkliche Ziel des
Menschen besteht nicht in seiner Ausgeglichenheit, sondern darin,
glücklich zu sein. Da mir Gott - Ihm sei's gedankt - die Freude schenkt,
täglich von Früh bis Spät von diesen Dingen zu sprechen, wird
mir klar, dass das Ziel des Lebens darin besteht, dies anzuerkennen und es
anderen mitzuteilen. Stellt euch vor, ihr hättet eine schöne neue
Maschine. Und ihr stellt einen Physiker wie unseren Freund Matthew an, um die
ganze Maschine zu analysieren, Teil für Teil. Aber auch wenn ihr alle
Teile beschrieben habt, könnt ihr noch nicht behaupten, die Maschine zu
kennen. Denn um die Maschine zu kennen, muss man sie benutzen können. Man
muss die Bedeutung der Beziehung aller Teile untereinander verstehen. Deshalb
ist der Mensch ganz verwirrt, verstört, nervös, unruhig und
gewalttätig: Denn er analysiert den ganzen Menschen, all seine Sinne.
Aber ihm fehlt der Sinn des Ganzen. Deshalb ist Gott einer von uns geworden.
Und er hat uns berufen, ihm dabei zu helfen, den Menschen die Bedeutung ihrer
«Maschine» mitzuteilen. Wenn man dies nicht tut, dann liebt man auch
die eigene Frau nicht, man liebt die Kinder nicht und ebensowenig die
Brüder, den Mann - man liebt nichts, ja nicht einmal sich selbst. Dies
ist es, wofür es sich zu leben lohnt. Deshalb gibt es keine
Möglichkeit eine Freundschaft wie die unsere zu erklären, wenn sie
einmal besteht. Unsere Freundschaft beginnt wahr zu sein, wenn sie von nichts
motiviert wird, scheinbar von nichts, das heißt, wenn sie von der
gemeinsamen Bestimmung motiviert wird. Das ist es, was eine Tochter mit ihrer
Mutter verbindet und einen Menschen mit dem fremdesten Menschen, den es
für ihn geben kann. Ich kannte Barbara nicht, bevor sie hier her kam.
Aber es brauchte weder Monate noch Stunden, sondern nur einen Augenblick, um
uns aus einem bestimmten Grund heraus gleich zu verstehen. Deshalb sagte ich
euch heute Morgen, so wie der Stall von Bethlehem ein Loch war, das niemand
kannte, ebenso sind wir nicht an außergewöhnlichen Erfolgen
interessiert. Wichtig ist, dass wir sind. Als ich mit vier Jugendlichen
anfing, dachte ich als letztes daran, dass sich unsere Beziehung über die
ganze Erde ausbreiten sollte. Aber das hängt von Gott ab. Die Freude und
die Fülle des Lebens liegt darin, dem zu entsprechen, wofür wir
existieren. Und dann kann man auch die Leute, die auf der Straße an
einem vorbeilaufen, nicht mehr anders anschauen.
Frage: Könntest du beschreiben, wie wir aus unserer
Erfahrung in der Beziehung zwischen uns und denen, denen wir begegnen, Gewinn
ziehen können?
Don Giussani: Wenn du mir einen Brief schreibst, dann lese
ich den Brief. Und wenn es ein umfangreicher, tiefsinniger Brief ist, dann
interpretiere ich den Brief entsprechend meinen Ansichten. Aber wenn du vor
mir sitzt und mir den Brief gibst, dann sage ich dir etwa: «Barbara, was
willst du hiermit sagen? Hör mal Barbara, ich bin damit nicht ganz
einverstanden». Und du sagst mir: «Aber nein, ich wollte folgendes
sagen». Wenn du mir den Brief gibst und dabei vor mir sitzt, dann wird
der Brief zum Dialog. Auch das Seminar der Gemeinschaft muss ein derartiger
Dialog mit Christus werden. Man braucht nicht unbedingt «Herr»
sagen. Das ist zwar auch schön, doch es kommt darauf an, dass sich im
Herzen die Frage regt: «Herr, was willst du damit sagen? Was lehrst du
mich damit? Was sagt diese Seite hier?» So wird es wie ein Gebet, durch
das du lernst. Ansonsten bleibt es ein intellektueller Austausch, ein
Streitgespräch, ein Gedankenspiel unter euch. Wenn aber jemand das
Seminar mit einer derartigen Religiosität ließt - und die
Religiosität ist da vorhanden, wo jemand darum bittet, zu lernen -, und
wenn auch deine Freunde in dieser Haltung sind, dann kann es wirklich eine
schöne Sache werden. Eine Frage vertieft die Freundschaft, weil wir alle
armselig und unterwegs sind. Also regt man sich nicht darüber auf, wenn
man nicht versteht, wenn man langsam voranschreitet, und wenn man wiederholt.
Denn normalerweise versteht man das, was man nicht weiß, noch nicht.
Entschuldigt, aber überlegt mal: in 99 Prozent der Fälle begegnet
ihr allen Menschen, auch euren Freunden, so als wären sie Fremde, so als
wären sie uns rein zufällig zur Seite gestellt. Wenn du ihnen aber
mit wohlwollendem Herzen begegnest, dann bist du ihnen zugewandt, auch wenn du
kein Wort mit ihnen sprichst. Es besteht keine Fremdheit mehr zwischen euch:
Es herrscht eine neue Menschlichkeit zwischen euch, oder besser zwischen dir
und ihnen, es ist wie eine beständig ausgesprochene Bitte: das ist die
Frucht des Gebets in der Beziehung unter uns und das nennt sich
Nächstenliebe. Was unter euch begonnen hat, ist eine neue Menschlichkeit,
die euch zwar nicht sofort alle Leer und Fehler nimmt, aber eine neue
Perspektive gibt, die andere nicht wahrnehmen. Es ist wie der Unterschied
zwischen dem Bild eines großen Künstlers, das eine Perspektive
besitzt, und dem Bild von Kindern, die diesen Sinn für die Perspektive
noch nicht haben. In dieser Perspektive zeigt sich, dass es einen Anderen
gibt, dass es zwischen mir und Renzo einen Anderen gibt. Denn wenn dies nicht
so wäre, dann hätte er mich nicht mit dem Langmut und der Güte
behandelt, die er mir in diesen Tagen zuteil werden ließ. Wenn aber
diese neuartigen menschlichen Beziehungen nicht unter uns beginnen, dann
beginnen sie nirgendwo. Eines jedoch lege ich euch nahe: Es soll ohne jeden
Anspruch geschehen.
Frage: Wenn du sagen müsstest, weshalb du Christ bist,
was würdest du antworten? Und wie teilt sich dies mit?
Don Giussani: Vielen Dank für diese Frage. Wer mir
zuhört, weiß, dass es ein Gebet gibt, dass ich immer bete und auch
weiter empfehle: «Veni Sancte Spiritus. Veni per Mariam.» Denn das
Christentum ist die Verkündigung, dass Gott auf menschliche Weise in die
Welt eingetreten ist. Deshalb vergeht die konkrete Art und Weise mit der Er in
die Welt eingetreten ist, nicht mehr. Es ist für alle und für alle
Zeiten entscheidend. Deshalb ist das 15- oder 16-jährige Mädchen die
Mutter aller Lebenden. Und das Glück des Menschen, aller Menschen,
verwirklicht sich (und wird es immer tun) durch ihr Fleisch und noch zuvor
durch ihr Herz, durch ihr «Ja», ihr «fiat» - (mir geschehe
nach deinem Wort). Was ich den Zehntausenden von Freunden, die ich
kennengelernt habe, gesagt habe, konnte ich ihnen aufgrund des Temperaments
meines Vaters und meiner Mutter sagen; und ich kann das für immer. Wenn
uns also die Ausprägung des Glaubens durch eine bestimmte Freundschaft
begegnet ist, dann können wir ihn nicht mehr verlieren! Stellt euch vor,
ein Kind hätte in seinen ersten Tagen oder im ersten Monat nach der
Empfängnis im Uterus der Mutter Bewusstsein. Stellt euch vor, welche
Dankbarkeit und welches Empfinden der Abhängigkeit es gegenüber
jenem Fleisch hätte, das es trägt - wenn es schon ein
Bewußtsein hätte. Ich verstehe, dass ihr zu klein seid, um
derartige Dinge zu sagen. Aber einmal muss man anfangen, sie zu sagen. Denn
wir sind auf noch viel engere Weise miteinander verwoben, als das für
einen Fötus im Leib seiner Mutter gilt. Dies hättet ihr beim
diesjährigen Seminar der Gemeinschaft verstehen müssen, wo es um die
Zugehörigkeit ging. Der Mensch zerfällt psychisch in dem Maße,
wie er sich nicht in Besitz genommen, das heißt gewollt, geliebt,
ernährt, verteidigt und zur Vollendung geführt sieht. Einen
zentralen Punkt müsst ihr euch jedenfalls merken: Wir sind Christen, weil
der Mensch ohne Christus nach und nach sich selbst verliert, er fängt an,
zu schwinden. Vielleicht habe ich euch schon mal gesagt, was der letzte
große römische Schriftsteller, Marius Victorinus (er war der
«Ideologe» von Julian Apostata), verkündete, als er
überraschend seine Bekehrung zum Christentum kund tat und zwar von der
damaligen Rednertribüne der Anwälte aus. Er begann seine Rede mit
den Worten: «Als ich Christus begegnet bin, habe ich mich als Mensch
entdeckt.» Wenn wir dies in gewisser Weise nicht selbst so sagen
können, dann nur weil wir noch nicht verstanden haben, was der Glaube
ist. Doch kaum dass wir auch nur ein wenig Ahnung davon haben, verstehen wir,
dass wir nur dank des Glaubens leben können. Glaube, verstanden nicht als
Propaganda, sondern als liebende Leidenschaft. Denn in meinem Herzen denke ich
immer, dass ein Mann ansonsten seine Frau nicht lieben und eine Frau ihr Kind
nicht lieben könnte, außer in einer verzweifelten Leere. Und in
Verzweiflung zu lieben bedeutet, die geliebte Person zum Tode zu verurteilen.
Seid eurer Gemeinschaft treu, auch wenn die Gemeinschaft euch
scheinbar nicht befriedigt. Und noch eines abschließend, verzeiht: Wir
glauben an Christus aus Liebe zur Vernunft und aus Liebe zum Menschen. Das
gilt es erst noch zu verstehen!
Anmerkungen:
1 Vgl. 1 Tm 4,4.
2 Vgl. Romano Guardini, Dante-Studien, Kösel, später
Matthias-Grünwald Verlag.
3 Vgl. Barabra Ward, Faith and Freedom, W.W. Norton & Company, New
York 1954, p. 4.
4 Vgl. Marius Victorinus, In Epistola ad Ephesios, in Marii Victorini
Opera exegetica, II. Buch, Kap. 4, v. 14.
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