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Wort unter uns
«Frau, weine nicht!»
Luigi Giussani

Bewegt von einem tiefen Mitleid für alle Leiden der Menschenbrüder.
Mitschrift des Schlussworts von Luigi Giussani bei den Exerzitien der Fraternität von Comunione e Liberazione, 5. Mai 2002

An jenem Abend wurde Jesus aufgehalten auf dem Weg zum Dorf, in das er gehen wollte. Unterwegs wurde er angehalten. Er hörte das laute Weinen einer Frau. Ihr Schmerzensschrei durchdrang die Herzen aller, die da waren. Aber er bewegte vor allem das Herz Christi. ''Frau, weine nicht``. Er hatte sie vorher nie gesehen, nie gekannt. ''Frau, weine nicht``. Welche Hilfe konnte jene Frau erfahren, die die Worte hörte, die Jesus an sie richtete? ''Frau, weine nicht``: Dieses Wort gilt, wenn man nach Hause zurückkehrt, mit der Straßenbahn fährt, wenn man in den Zug einsteigt, wenn man die Autoschlangen sieht, wenn man an all die verworrenen Dinge denkt, die das Leben von Abermillionen Menschen beschäftigen. Wie entscheidend ist der Blick, den ein Kind oder ein Erwachsener auf diesen Mann gerichtet hätten, der der Gruppe von Freunden vorausging, diese Frau aber niemals gesehen hatte. Aber er hielt inne, als der Klang, der Widerhall des Weinens bis zu ihm drang! ''Frau, weine nicht!``. Es war, als habe sie niemand je tiefer, umfassender und endgültiger gekannte oder wieder erkannt! ''Frau, weine nicht!`` Wie ich bereits gesagt habe, wenn wir auf das gesamte Treiben der Welt blicken, in dessen Strom und in dessen Verästelungen die Menschen dem Leben gewahr werden und sich das Leben vergegenwärtigen, dann ist die eigentliche Frage keine andere, als jene, wie es möglich war, zu dieser Neuheit zu kommen. Diese Neuheit, die darin besteht, dass man einen Menschen trifft, jemanden, den man zuvor nie gesehen hat, und der angesichts des Schmerzens jener Frau, die er zum ersten Mal sieht, ausruft ''Frau, weine nicht!``, ''Frau, weine nicht``! ''Frau, weine nicht!``: dies zeichnet das Herz aus, mit dem wir auf die Dinge schauen und vor der Traurigkeit stehen, vor dem Schmerz aller Leute, mit denen wir in Beziehung treten, auf der Strasse oder unterwegs, auf all unseren Reisen. ''Frau, weine nicht!`` Wie unvorstellbar ist es, dass Gott - ''Gott`` , der, der in diesem Augenblick die ganze Welt schafft - während er den Menschen hört und anblickt, sagen kann: ''Mensch, weine nicht!`` - ''Du, weine nicht!``, weine nicht, denn ich habe dich nicht für den Tod, sondern für das Leben geschaffen! Ich habe dich in die Welt gesetzt und ich habe dich in eine großartige Gemeinschaft von Menschen gestellt!`` Frau, Mann, Mädchen, Junge, du, ihr alle weint nicht! Weint nicht! Es gibt einen Blick, ein Herz, das euch bin ins Mark durchdringt und bis in eure Bestimmung hinein liebt. Es ist ein Blick und ein Herz, das niemand ablenken kann. Niemand kann verhindern, dass es das sagt, was es denkt, und es sagt, was es fühlt. Niemand kann ihm diese Macht nehmen. ''Gloria Dei vivens homo``, die Herrlichkeit Gottes, die Größe dessen, der die Sterne am Himmel und jeden Tropfen des Meeres schafft und es in Blau hüllt, ist der lebendige Mensch. Nichts kann diese unmittelbare Kraft der Liebe aufheben, diese Kraft der Anhänglichkeit, der Wertschätzung und der Hoffnung. Denn er ist für jeden, der ihn gesehen hat und der ihn sagen hörte ''Frau, weine nicht!``, zur Hoffnung geworden; für jeden, der Jesus auf diese Weise sagen hörte ''Frau, weine nicht!``. Nichts kann die Gewissheit einer geheimnisvollen und gütigen Bestimmung aufheben! Wir sind zusammen, um uns gegenseitig zu sagen: ''Du, ich habe dich zwar noch nie gesehen und weiß nicht, wer du bist, doch weine nicht!`` Denn das Weinen ist deine Bestimmung, es scheint deine unausweichliche Bestimmung zu sein. ''Gloria Dei vivens homo``: die Herrlichkeit Gottes, die der Welt, ja dem Universum Bestand gibt, ist der lebendige Mensch, jeder Mensch, der lebt, die Frau, die weint, die Frau, die lächelt, das Kind, die Frau, die als Mutter stirbt. ''Gloria Dei vivens homo``: wir wollen nichts anderes als dies: dass die Herrlichkeit Gottes der ganzen Welt offenbar wird und alle Bereiche der Erde berührt, von den Blättern der Blumen bis zu den Herzen der Menschen. Wir haben uns nie gesehen. Aber dies ist es, was wir unter uns sehen und unter uns wahrnehmen. Ciao!