Editorial
Lebendige Quelle
Luigi Giussani
Als Editorial dieser Ausgabe bringen wir das
abschließende Grußwort zum Meeting von Luigi Giussani
24. August 2002.
Es stellt das Ideal der Woche von Rimini klar heraus und weist
den Weg in die Zukunft, auf dass die Hoffnung der Menschen Bestand habe.
Was ich Euch sagen möchte, stellt eine Art Revanche dar für die
scheinbare Nutzlosigkeit des Lebens, für das scheinbare Scheitern unserer
Pläne, eine Art Revanche, wie man sie sich nicht klarer und tiefer
vorzustellen vermag. Wer diese Revanche nicht erlebt hat, wer nicht erfahren
hat, wie sie ist, weil sie ihm nie gegeben wurde, gibt im Leben ständig
Anlass für wirklich hässliche Dinge. Das schönste Gedicht auf
Erden ist Dantes Hymne auf die Jungfrau im Paradies, das
jahrhundertelang niemanden interessiert hat, außer vielleicht manch'
einen Verehrer des Dichters:
«Jungfrau und Mutter, Tochter deines Sohnes,/ Vor allen Wesen
groß und voll von Demut,/ Du vorbestimmtes Ziel im ewigen Rate»,
unumgänglicher Hinweis auf Den, der alle Dinge entworfen hat, den Kosmos
als Ausdruck Seiner selbst. Ja, «durch dich allein ist die Natur der
Menschen/ So sehr geadelt, dass ihr Schöpfer selber/ Es nicht verschmäht
hat, ihr Geschöpf zu werden/ in deinem Leib»... bei diesem Vers hier
haben wir es mit dem faszinierendsten Aspekt der Danteschen Dichtung zu tun...
«In deinem Leib entbrannte jene Liebe/ Durch deren Glut in diesem ewigen
Frieden/ Uns diese Blume hier erblühen konnte.» Durch deren Glut in
diesem ewigen Frieden, d.h. ohne allen Kleinmut, ohne die Scham der Lüge,
ohne jede Falschheit. Das Wort «Glut» bezeichnet dabei jene innige,
unaussprechliche Faszination für das Leben des Kosmos, welches der Geist
des Ewigen hat beginnen lassen. Und Dante fährt fort: «Hier bist Du
uns die mittägliche Leuchte/ der Nächstenliebe», Du bist der
sichere Hort der Liebe, «drunten bei den Menschen/ Bist Du der Hoffnung
stets lebendige Quelle.» Ich wollte euch allen diese Verse vorlesen, weil
ich genau das euch wünsche, was dieser Vers sagt: «Hier bist Du uns
die mittägliche Leuchte/ der Nächstenliebe/ Drunten bei den
Menschen/ Bist Du der Hoffnung stets lebendige Quelle.»
Unter allen Nationen des Universums bist Du der Hoffnung
stets lebendige Quelle, unerschöpfliche Quelle der Hoffnung; stets von
neuem bietest Du die Hoffnung an als Bedeutung aller Dinge, als Licht des
Lichtes, als Farbe der Farben, als das Andere des Anderen.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle: die Hoffnung ist
der einzige Bahnhof, an dem der große Zug des Ewigen für einen
kurzen Augenblick anhält.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Ohne Hoffnung
kann es kein Leben geben. Das Leben des Menschen besteht in der Hoffnung,
daher lade ich euch ein, eure Augen auf die Hoffnung zu richten! Eure Augen
wurden in diesen Tagen des Meetings dank zahlreicher Vorträge darauf ausgerichtet.
Unter den Sterblichen bist Du der Hoffnung stets lebendige
Quelle. Die Gestalt der Gottesmutter ist wirklich die Gestalt der Hoffnung,
der Gewissheit, dass Du - wie sich das Mittelalter ausdrücken würde
- unter dem Himmelszelt bei Tag und Nacht die Quelle strömenden Wassers
bist. Möge diese stets lebendige Quelle der Hoffnung unmittelbar jeden
Morgen der Sinn unseres Lebens sein, jeden Morgen so energisch und beharrlich,
wie nur möglich. Aus diesem Grunde sind wir Freunde. Bleiben wir also
Freunde! Doch wie? Allein deswegen! Auch in meinem gebrechlichen Alter wollte
ich euch zurufen: es gibt eine Hoffnung, nur eine Hoffnung gibt es! Sie
besteht objektiv gesehen in dem, was die Gottesmutter der Welt ?auferlegt":
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Möge diese Quelle Tag
für Tag, jeden Morgen lebendig sein! Seit einigen Jahren habe ich den
Gedanken liebgewonnen, dass man spontan von Freude überfallen wird, die
auch nur einen Augenblick lang dauern mag, aber in der die Wahrheit des ganzen
Lebens zum Vorschein kommt.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Ich wünsche euch allen,
dass wir Weggefährten werden und wir uns innig als Freunde verbunden
wissen, auch wenn wir uns nicht direkt kennen. Wir kennen uns indirekt, doch
mehr, als wenn es direkt wäre. Stets lebendige Quelle, Jungfrau und
Mutter, Du vorbestimmtes Ziel im ewigen Rate. Wahnsinn! Von diesen Dingen nach
siebzig Jahren zu sprechen, ist einfach beeindruckend. Es ist völlig
klar, dass nichts auf der Welt gewiss ist, wenn nicht all dies. Ciao und
verzeiht die Störung!
"Jungfrau und Mutter, Tochter deines Sohnes,
Vor allen Wesen groß und voll von Demut,
Du vorbestimmtes Ziel im ewigen Rate,
Durch dich allein ist die Natur der Menschen
So sehr geadelt, dass ihr Schöpfer selber
Es nicht verschmäht hat, ihr Geschöpf zu werden.
In deinem Leib entbrannte jene Liebe,
Durch deren Glut in diesem ewigen Frieden
Uns diese Blume hier erblühen konnte.
Hier bist du uns die mittägliche Leuchte
Der Nächstenliebe, drunten bei den Menschen
Bist du der Hoffnung stets lebendige Quelle."
Dante, Göttliche Komödie, Paradies, 33. Gesang
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