Briefe
Briefe Februar 2004
Zusammengestellt von Paola Bergamini
Der ‘positive’ Anteil an der Torte
Lieber Don Giussani,
ich arbeite in der
Verwaltung von zwei kleinen GmbHs. Eine davon steckt ziemlich in der Krise. Die
Diagrammtorte zur Darstellung der finanziellen Situation weist mittlerweile ein
Minus von achtzig Prozent auf. Nur ein kleines Stück von 20% kann hingegen
das Pluszeichen aufweisen. In der Betriebsversammlung lag es an mir, diese
wirklich prekäre Lage zu erläutern: dass uns kein weiterer
Zahlungsaufschub unserer Schulden mehr gewährt wird; alle regionalen
Finanzierungshilfen erschöpft und neue Kredite nicht mehr zu bekommen
seien, hohe strukturelle Kosten auf uns lasten und so weiter. Ich sah, wie der
alleinige Geschäftsführer und der Gesellschafter immer blaßer
wurden. Da warf ich einen Satz ein, der mir spontan einfiel: «Klar, wenn
wir es schaffen wollen, dann müssen wir von dem ausgehen, was es an
Positivem gibt.» Daraufhin entspannten sich ihre Gesichtszüge als
wollten sie sagen: „Es gibt also noch Grund zur Hoffnung.“ Der
kleine Anteil an der Torte mit dem Pluszeichen hat unser Gehirn wieder in Gang
gebracht; im Blick auf ihn haben wir uns wieder neu an die Arbeit gemacht. Ich
schwebte im Himmel. Durch einen Geistesblitz hatte ich verstanden, wieso man
dem Positiven stets Glauben schenken muss: Das Pluszeichen beinhaltet den Keim
der Hoffnung, es bringt dich zurück ins Spiel, belebt und lässt von
Neuem beginnen. Meine Freundin Giò erinnert mich oft an die Geschichte
aus den Apokryphen, die Du immer wieder erzählst, als Jesus vor dem
faulenden Gerippe eines Hundes steht und dessen weiße Zähne
betrachtet. Mir erschien es unlogisch, die weißen Zähne anzuschauen
und dabei das Aas zu vergessen. Doch jetzt habe ich am eigenen Leib erfahren,
dass es selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen immer einen kleinen
positiven Teil gibt, eine gute Seite, an der man sich wieder aufrichten kann.
Ich hätte nie gedacht, einmal anhand von Zahlen und Prozenten lernen zu
können, das Leben durch den kleinen Schlitz an Positivem zu sehen, das es
in der Wirklichkeit immer gibt.
Olivia, Montello
Ein besonderer Tag
Lieber Don Gius,
am Freitag vor dem
Eröffnungstag (Jahrestreffen von CL, A.d.R.) hier in London hatte ich
einen besonders schweren Tag im Büro. Meine Vorgesetzte versteckte sich
seit mehr als einer Woche vor mir und war nicht bereit, einmal fünf
Minuten für mich zu finden. Daher verbrachte ich den Vormittag damit,
ständig wie ein Bettler vor ihr Büro zu ziehen, damit sie mir ein
wenig Zeit schenke. Am selben Tag hat sich mein Kollege regelrecht und ohne
irgendeinen Grund geweigert, mir bei einem Problem zu helfen. Ich war
wütend wie ein Stinktier und sagte mir: «Von jetzt an ist Krieg
zwischen uns, mein Lieber. Ich warte nur darauf, dass du bei der nächsten
Gelegenheit etwas von mir willst. Aber dann lass ich dich hängen!»
Ich war völlig wild geworden, aber auch traurig über das Klima, das
in unserem Büro herrschte. Doch dann ruft mich meine Kollegin an, eine
Griechin, die ich bereits zum Grillen bei meinen Freunden der Memores
eingeladen hatte, und lädt mich auf einen Kaffee ein. Sofort habe ich eine
Idee: «Ich könnte sie doch zum Eröffnungstag einladen!»
Ich lege also die Einladung Education and Work für sie bereit, stutze
jedoch für einen Moment, weil mir einfällt: «Wie kann ich sie
so zum Eröffnungstag einladen? Ich bin rasend wütend! Falls sie mich
fragt, wie es mir geht, komme ich nicht umhin, ihr zu erzählen, was
passiert ist und dass ich meinen Kollegen am liebsten in die Fresse schlagen
würde.» Auf jeden Fall gab es da etwas, das mir keine Ruhe mehr
ließ, so dass ich mich fragte: «Aber wieso will ich sie zum
Eröffnungstag einladen? Wieso gehe ich eigentlich dorthin?» Ich gehe
also mit der Einladung zu ihr. Wie ich es mir dachte, fragt sie mich, was los
war und ich erzähle ihr von diesem frustrierenden Tag, füge aber
hinzu, dass ich mir etwas anderes von der Arbeit erhoffe und es mir nicht
reiche, so zu leben. Dass ich mir wünsche, die Arbeit in einer
menschlicheren Art und Weise zu erleben und sie deswegen einlade, einige
Freunde zu treffen, die von einer viel faszinierenderen Art zu leben
erzählt hätten. Dabei hat mich am meisten bewegt, dass ich nicht
diejenige bin, die alles verstanden hat. Ich habe sie nicht eingeladen, weil
ich besonders tüchtig und gut bin und mich nie aufrege, sondern weil die
Gemeinschaft und damit die Freunde, die ich getroffen habe, für mich den
Unterschied ausmachen. Es sind Freunde, die das, was ich mir ersehne,
ständig in mir wach halten, mich nicht gleichgültig werden lassen und
mich erkennen und spüren lassen, dass es eine Art zu leben gibt, die mich
fasziniert und mich mehr anzieht als ich es mir selbst vorstellen und
verwirklichen könnte.
Emanuela, London
Chiaras Glück
Als unsere kleine Tochter Chiara kam, brachte sie alle
bisherigen Pläne, Erwartungen, ja das ganze Leben in unserer Familie
durcheinander. All die Jahre baten wir Gott um ihre Heilung, aber gleichzeitig
gaben wir uns Ihm mit unserem ganzen Leid hin. Die Bitte um Hilfe wurde so zu
einer immer bewussteren Bestätigung des «Dein Wille geschehe»,
da wir uns sicher sind, dass Gott unserer Chiara und einem jeden von uns nur
Gutes will. Oftmals am Tag überwiegt die Anstrengung, das Auflehnen gegen
die Tatsachen, der Schmerz und die Ablenkung. Das Nichts siegt. Viele Male
ertappen wir uns dabei, wie wir vor der Realität flüchten und
Träumereien Überhand gewinnen, in denen wir uns ausmalen, wie es sein
könnte. Dann merken wir, dass unser Blick mehr auf das gerichtet ist, was
fehlt, als auf die Gegenwart und fühlen uns traurig. Aber dann ist da
Chiara, die uns durch ihre Verschiedenheit ständig zurückholt und uns
unaufhörlich dazu auffordert, die Realität zu lieben, für das,
was ist. Wenn man der Realität derart gegenüberstehst, mit dem leisen
Bewusstsein, dass alles von Ihm gemacht ist, dann versteht man, dass die Dinge,
Ereignisse und Gesichter alle in etwas anderem gründen. Neulich musste
sich Chiara einer Reihe von Untersuchungen unterziehen lassen. Als uns der
Abschlussbericht mitgeteilt wurde, begann die zuständige Psychologin mit
folgenden Worten: «Chiara ist ein glückliches Kind!» ... Was
könnte man sich und seiner Tochter mehr erhoffen? Es erschien uns sofort
klar, dass das nicht unser Verdienst sei, sondern dass alles, was geschieht,
wie Papst Luciani sagte, Ergebnis der Güte, Gnade und Barmherzigkeit des Herrn
ist, der uns Kraft, Frieden und die Fähigkeit zum Guten schenkt. Was
könnte also wünschenswerter sein als sich Ihm anzuvertrauen.
Maria und Michele, Treviso
Ein dankbares Lächeln
Lieber Don Giussani,
als Arzt am Krankenhaus Sant’Anna in Como habe ich eine 53-jährige
Frau kennen gelernt, die mit 31 Jahren infolge eines Flugzeugabsturzes eine
Rückenmarksverletzung mit Lähmungen der unteren Gleidmaßen und
des Blasennervs erlitten hat. Die Frau wurde wegen einer Urininfektion
eingeliefert, wegen der sie lange in intensiver Behandlung war. Nach der
Entfernung eines Gallensteins und der Amputation einiger Finger der linken und
rechten Hand, wurde sie auf unsere Station verlegt. Hier begann sich ihr
Zustand zu verbessern, aber als die Patientin wieder in einen wacheren Zustand
kam, verweigerte sie die Fortsetzung jeglicher Behandlung und vor allem die
Aufnahme von Nahrung. Es blieb mir also nichts übrig, als mich neben das
Bett der Patientin zu setzen, die währenddessen ein wenig döste, und
mich manchmal teils abwesend teils mit vorwurfsvollem Blick betrachtete. Zuerst
versuchte ich alles, um ihr die Gründe darzulegen, wieso sie die
Behandlung akzeptieren sollte. Doch dann fiel mir ein, dass sie erst dann
überzeugt sein kann, wenn sie sich bewusst macht, dass ihr Schicksal zwar
unklar und schwierig zu erfassen sein wird, aber gut ist. Ich hörte daher
auf zu reden und beschränkte mich darauf, sie anzusehen, wobei ich ihre
verstümmelte Hand in der meinen hielt und zu überlegen begann, dass
ich die Bestimmung, von der ich ihr sprach, bereits anfänglich kenne, sie
für sie aber weit weg, dunkel und bedrohlich erscheint. Ich wollte diese
gute Bestimmung für sie anrufen und begann im Stillen zu beten. Auch die
Stationsvorsteherin, die Krankenschwestern und die Kollegen setzten sich, auf
ihre Art, in diesem Anliegen ein. Es war schön mitanzusehen, mit welcher
Aufmerksamkeit sie gepflegt wurde und wie alle nur darauf warteten, von einer
möglichen Änderung ihrer Entscheidung zu hören. Am folgenden Tag
begann sie die Behandlung anzunehmen, danach die Nahrung und ein paar Tage
später sagte sie mir: «Darf ich ihnen einen Kuss geben?» In ir
war wieder die Dankbarkeit erwacht, die dem Menschen eigentümlichste
Fähigkeit. Mit ihr kamen auch ihre Kräfte und der Wille, die Zukunft
zu planen, wieder. Als sie sich im Spiegel betrachtete, sagte sie: «Mir
ist doch noch ein ganz nettes Lächeln geblieben.» Noch unglaublicher
jedoch der Satz, den sie bei der Entlassung sagte: «Ich bin dankbar
für das, was mir geschehen ist, denn dadurch habe ich erkannt, wie viele
Leute mir wohl wollen.» Lieber Don Giussani, ich habe dieses Ereignis
erzählt, um Dir für die ständige und liebevolle erzieherische
Sorge um unsere Menschnatur zu danken, die im religiösen Sinn zum Ausdruck
kommt und in der Begegnung mit Christus zur Erfüllung gelangt, durch den
alles Wunder wird.
Carlo, Buccinasco
Wahrer Reichtum
Lieber Don Giussani,
im Jahre 1966 habe ich Comunione e
Liberazione kennen gelernt und habe diese Begegnung sehr ernst genommen. Unsere
Gemeinschaft hatte sich in Folge einer immensen Krise aufgelöst, und so
bin ich leider zwischen 1969 und 1970 von der Bewegung entfernt. Ich
fühlte mich völlig verloren und verraten, und so kam es, dass ich,
ohne es mir wirklich bewusst zu machen, anfing, mich politisch zu
betätigen. Es war ein Desaster. Ich fühlte mich total verlassen und
war auf die ganze Welt wütend. Ichließ mich auf mancherlei Projekte
ein, beschritt immer verworrenere und zermürbendere Pfade. Bisweilen stieg
eine sehnsüchtige melancholislche Erinnerung in meinem Herzen auf, die ich
oft unterdrückte. Wenn ich bei jenen seltenen Gelegenheiten, bei denen ich
eine Kirche betrat, eines
der Lieder von CL hörte, verließ ich sie verwirrt und weinend. Es
schien mir, als habe Gott mich vergessen. Oder war ich so stolz, dass ich ihn
nicht gehört, gesehen und seinen Ruf, der meine Seele beständig
ereilte, nicht vernommen hatte? Als ich 1999 anfing, in einer großen
Firma in Mailand zu arbeiten, klopfte der Herr an meine Türe: ich
sieß wieder auf die Bewegung. Diesmal war ich so aufmerksam und wachsam
genug, ‘Ja’ zu sagen. Dieses ‘Ja’ wird bis zu meinem
Lebensende halten. Ich habe verstanden, dass der Herr mich unabhängig von
meinen Sünden, Fehlern, meinem Verrat gerufen hat. Obwohl ich klein und
schwach bin, weiß ich, dass er mir sein Antlitz zugewandt hat. Seine
Botschaft hat mein Leben, das meiner Familie und das meiner Fraternität
erreicht. In diesen Tagen habe ich einen Brief mit der Bestätigung der
Aufnahme in die Fraternität erhalten, und das ist das schönste
Geschenk, das ich je bekommen habe. Die Titelseite der Dezemberausgabe von
Spuren hat mich beeindruckt: «Die Freiheit des Menschen ist die Rettung
des Menschen». Die Rettung erfolgt durch das Geheimnis Gottes, welches
sich den Menschen mitteilt. Dies ist der größtmögliche
Reichtum, den ein jeder von uns besitzt. Alles, was du uns gelehrt hast, ist
Zeugnis der Erziehung, die du uns als Vermächtnis für unser Leben
geschenkt hast, damit wir nicht führungslos bleiben und einander
aufrichten können. Danke für diese väterliche Beziehung, die du
uns geschenkt hast.
Erberta, Mailand
Der Ort des Gedächtnisses
Unser Haus, euer Haus ist der Ort, wo man am konkretesten
Christi gedenkt: in den Gesichtern der Personen und in der täglichen
Mühe, zu verstehen, welche Bedeutung die Dinge haben, die man Augenblick
für Augenblick tut. Jedes Mal, wenn Wolken am Horizont erscheinen und der
Sturm losbricht, wenn die Kräfte nicht auszureichen scheinen und der
Wunsch, aufzugeben, Überhand zu gewinnen droht, bemerkt einer vor allen
anderen die Gegenwart und schreit: „Schau! Ein Regenbogen!“ Die
Wolken machen der Hoffnung Platz und das Gedächtnis Christi kehrt mit
größerer Kraft zurück. Jede Handlung, jeder Schmerz, jede
Freude wird somit Hingabe und in kindlichem Vertrauen begeben wir uns in die
Umarmung der Gottesmutter, um aufgenommen und getröstet zu werden. Das
Haus ist der Ort, wo man zur gegenseitigen Annahme erzogen wird, bis zu jenem
Grad, dass man die Vergebung erfährt, sie empfängt oder gewährt,
auch wenn die Andersheit des Anderen ein Zeichen der Feindseligkeit zu sein
scheint. Wir wünschen euch allen, liebe Freunde, dass das Leben, welches
euer Haus erfüllt, zutiefst Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus
werde.
Elena und Pietro, S.Giorgio Monferrato
Einem Volk zugehören
Nun ist mir auch der Grund klarer, weshalb Gott den Menschen
durch ein Volk begleiten will. Man kann nicht in einer Umgebung leben, ohne
deren Sorgen und Nöte, deren Freuden und Schmerzen zu teilen, man kann
nicht wirklich in einem Volk leben, ohne es als Teil von sich selbst zu
empfinden. «Ich könnte nicht mehr leben, wenn ich ihn nicht jeden
Tag reden hörte», und dies sagte ich mir auch lange Zeit, wobei ich
an die Gegenwart Jesu in meinem Leben dachte, die sich in verschiedenen Formen
zeigte. Jetzt bemerke ich, dass ich ein neues Bewusstsein entwickelt habe, das
einem Gedanken sehr ähnelt, der mich fast mein ganzes Leben lang (ich bin
55 Jahre alt) begleitet hat: Während es für mich stets sehr
tröstlich war, davon auszugehen, dass der einzige Grund, weshalb es sich
zu leben lohnt, die Tatsache ist, dass Gott da ist und mich liebt, bemerke ich
nun, dass es fast genauso tröstlich ist, davon auszugehen, dass es ein
Volk gibt, welches Gott Raum gewährt und dass ich diesem Volk
zugehören kann. Es ist, als sei dieses Volk meine Heimat: schön, aber
manchmal unfähig, mich zu verstehen. Wie sehr danke ich Gott, dass er mich
dieses Volk hat treffen lassen! Natürlich, Roberta hat sich nicht um mein
Bedürfnis gekümmert oder Rita hat mich vergessen (die Namen sind
ausgedacht), aber ich könnte nicht leben, wenn es Roberta oder Rita nicht
gäbe. Ihre Gegenwart, auch wenn es die einzigen Übriggebliebenen
dieses fantastischen und heruntergekommenen Volkes wären, wäre das
Einzige, was mir helfen würde, wie jemand zu leben, der keine Heimat hat
(wie alle anderen Christen). Ich glaube deshalb, dass das letzte Wort, das
endgültige, immer „Danke“ sein wird. Danke, denn alles ist ein
Geschenk, auch die Fähigkeit, es zu begreifen.
Maria Vittoria
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