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Aufmacher
Auf den Trümmern der Neuzeit
Luigi Giussani

Mitschrift einer Ansprache von Monsignore Giussani bei den Exerzitien der Memores Domini. Gardasee

Was ich euch sagen möchte, hat mich der Herr in den vergangenen Tagen erkennen lassen. Und da ich es für sehr wichtig halte, erlaube ich mir, es euch allen mitzuteilen. Ich halte es für eine Hilfe, um mit immer größerem Bewusstsein auf dem Weg zu unserer Bestimmung voranzuschreiten. Wovon ich im Folgenden sprechen werde, ist eine Mentalität und eine unverbildete Herzenshaltung, die die Grundlage dafür ist, in allen Situationen unseres Lebens etwas dazulernen zu können.
Kürzlich schrieb mir die Leiterin eines Kulturzentrums: «Viele von uns erleben die Arbeit im Kulturzentrum als etwas Befreiendes, als Ort, an dem sie andere Menschen aufbauen und zugleich selbst aufgebaut werden ...» Nun, worauf es bei der Leitung eines sogenannten Kulturzentrums jedenfalls ankommt, ist, dass diejenigen, die bewusst Verantwortung übernehmen und ihr gerecht werden wollen, auch wissen, dass es stets darum geht, anderen Menschen in ihrer menschlichen Armseligkeit dabei zu helfen, ihre eigene Verantwortung in Gänze zu entdecken, und sich ganz in der Hand Gottes geborgen zu wissen.
Die Worte von Dantes Lobgesang auf die Gottesmutter, mit denen mittlerweile viele von uns beten, haben in diesem Sinne bereits eine ganze Menge bewirkt, viele gute Impulse gegeben und Einsichten erschlossen. Als ich jedoch gestern an die über achtzig Freunde [1] dachte, die uns der Herr hat begegnen lassen und die nun in eine feste Weggemeinschaft mit uns treten, da ließ mich der Herr ganz deutlich den Wert dessen, was ich euch jetzt sage, für diesen Augenblick in eurem Leben verstehen. Wovon ich sprechen werde, ist wiederum ein Lobgesang auf die Gottesmutter. Er wird allerdings von Petrarca am Ende seines Canzoniere angestimmt, der Sammlung seiner Liebesgedichte:

Schon naht der Tage Ende, nicht lange
währt die Frist,
Des Tageslauf beendet fast wie im Fluge ist,
O einsam Jungfrau reine, wie einzig du
nur bist.

Bald ist's mein Herz, bald meine Schuld,
bald Todesnot die plagen,
Empfiehl mich deinem Sohn, so will ich
bitten wagen,
dem wahren Mensch und wahrem Gotte
hocherhaben,
dass er mein' Geist in tiefen Frieden möge
tragen.[2]

Ich habe ein wenig über dieses Gedicht nachgedacht. Als ich sechzehn war, habe ich es gelernt und überdacht, denn damals gehörte das Studium der italienischen Literatur noch zur Ausbildung in den Priesterseminaren Mailands, damals wurde sein Wert noch nicht der Polemik unterzogen, mit der sie ein antiklerikaler Geist heute bedenkt; vielmehr wusste man noch um ihre Tiefe, die sie mit dem Glauben verbindet, aus dessen innerer Stoßkraft sie hervorging.
«Schon naht der Tage Ende, nicht lange währt die Frist», schreibt der Dichter: Ja, die Zeit eilt uns davon, die Bilder einer vergänglichen Gegenwart ziehen stürmisch an uns vorüber. Doch die Hingabe an Christus, die ihr lebt und von der euer ganzes Leben Zeugnis geben möge, werde gerade in diesen Umständen der alleinige Sinn, aufgrund dessen ihr (noch bevor ihr morgens aufsteht) die Mühe des ersten Schritts in den neuen Tag unternehmt!
«Des Tageslauf beendet fast wie im Fluge ist», heißt es weiter bei Petrarca. Es fällt uns nicht schwer, die Worte des Dichters zu verstehen, denn was sie ausdrücken, rührt uns alle an. Jeder, der ein wenig nachdenkt, der ein wenig menschlich ist, spürt ihren tragischen Sinn!
Die darauffolgenden Worte «O einsam Jungfrau reine, wie einzig du nur bist» führen jedoch ganz unvermittelt zu einem Bruch, einem Bruch, den man an dieser Stelle nicht erwartet hätte. «Einsam und einzig»: von wegen einsam, von wegen einzig! Petrarca war zwar von großer Verehrung gegenüber der jungfräulichen Mutter Christi erfüllt. Doch für ihre siegreiche Bestimmung als Königin des Himmels und der Erde hatte er keinen Sinn. Sie schien im etwas ganz und gar Unmögliches zu sein! Deshalb deutete er auch das ganze mühevolle Erlöserwirken des Herrn als die Frucht einer zwar ganz und gar sinnvollen Anstrengung, die man aber letztlich nur widerwillig auf sich nimmt, ohne bereits an der Erlösung Anteil zu haben, einer Erlösung, die es einem erlaubt, Augenblick für Augenblick am Reichtum des SEINS teilzuhaben, es zu lieben und sich im Herzen des Vaters geborgen zu wissen.
Vor diesem Hintergrund versteht man dann auch die letzten Worte des zitierten Abschnitts, die mir lebhaft in Erinnerung geblieben sind, seit ich sechzehn war:
« Empfiehl mich deinem Sohn, so will ich bitten wagen, dem wahren Mensch und wahrem Gotte hocherhaben ... » Petrarca lebte in der unumstösslichen Gewissheit der Erhabenheit Christi. Darin war er noch ganz vom Geist des Mittelalters erfüllt, insofern lebte er noch ganz aus der Taufe. «Empfiehl mich deinem Sohn, so will ich bitten wagen, dem wahren Mensch und wahrem Gotte hocherhaben.» Doch ein ganzer Schwall von 'Werten' überlagerte bereits die Reinheit des Aktes dieser Anerkennung.
Unser Leben darf um Gottes willen nicht so werden, das geht nicht an! Ja, es kann einfach nicht mehr so sein! Unser Leben ist bereits jetzt Auftakt, Vorspiel, intensiver Beginn künftiger Geborgenheit und Sicherheit. Das ganze Lebensgefühl Pertrarcas zeugt nicht mehr von dieser Erfahrung: Sein Gewissen klagt ihn ständig an, ohne dass die Erfahrung der Vergebung auch seine Armseligkeit und Schwäche in Größe verwandeln würde. Es ist im Innersten von einer Furcht ergriffen, die niemals nachläßt: Nichts gebietet seiner Selbstanklage Einhalt, da Christus für ihn nicht mehr Mittler ist, nicht als Heiland erlebt wird. Christus, Gottes Sohn und wahrhaft Sohn der Jungfrau, wurde nicht mehr als Rettung der conditio humana betrachtet, sondern höchstens noch als wager Zuspruch einer Vergebung, deren Gründe nur unzureichend zu erkennen waren.
Wenn wir hingegen Dantes Lobgesang auf die Gottesmutter lesen, ihn rezitieren (wir müssen uns Tag für Tag dazu anleiten!) wird der himmelweite Unterschied zu Petrarca unmittelbar klar! Petrarca steht für eine Entwicklung, die die Menschheit vom rechten Weg abbrachte, sie ihres Vaters und ihrer Mutter beraubte, wenn sie sich den Frieden von einem gerechten (vielleicht sollten wir besser sagen: unzuträglichen) Richterspruch des SEINS erwartete, der aus der Ewigkeit zu uns gesprochen würde.
Bei uns hingegen wird allmorgendlich beim Aufstehen die Bereitschaft da sein, der Angst vor der Zeit Herr zu werden, die in unserem lodernden Bewußtsein bzw. den rasch verließenden Tagen tatsächlich «wie im Fluge» davonläuft. Denn mit Sicherheit wird uns geholfen werden, uns auf den Trümmern zu erheben, den Trümmern der Menschlichkeit.
Mit Dante hatte eine Entwicklung, die zwölfhundert Jahre zuvor mit Christus ihren Lauf genommen hatte, ihren Höhepunkt überschritten. Mit Petrarca hob eine Zeit an, die von Menschen geprägt wird, die des Sinns ihres Lebens nicht mehr gewiss sind.
Doch die Berufung, die uns Gott hat zuteil werden lassen, erfüllt die Stunden unseres Lebens mit dem Lied der Rettung, das allein aufgrund seiner Einfachheit zu einem zeitlichen und ewigen Lobgesang wird.
In der Erwartung, dass unser Leben künftig als gegenseitige, warmherzige, die anderen stets willkommenheißende Begegnung verlaufe (als Begegnung untereinander sowie als Begegnung von uns allen gemeinsam mit der Welt), einer Erwartung, die sich möglichst bald erfülle, wollen wir nun beten, dass Gott uns wieder jene Hoffnung schenke, die den ganzen Reichtum an Menschlichkeit hervorgebracht hat, den wir noch heute als Hinterlassenschaft des Mittelalters vorfinden können und bei ihm suchen müssen. Wir wollen diese Bitte mit den Worten Dantes aussprechen, die in sich noch das Heilige bergen, das die todbringende Gewalt der nachmittelalterlichen Zeit zertrümmert hat.
Was alle Welt von uns erwartet, wenn sie sich nach Gerechtigkeit und Schönheit, nach Wohlergehen und Glück sehnt, ist genau dies: dass wir gemeinsam, Tag für Tag, jenen faszinierenden Weg gehen, den uns Dante Alighieri, dieser große christliche Heilige, vorangegangen ist.
Danke.

Anmerkungen:
[1] Die Rede ist von Novizen der Memores Domini, die im Anschluß an die Ansprache Giussanis ihre Profess ablegten.
[2] F. Petrarca, Canzoniere, CCCLXVI, vv. 131-137 (eigene Übersetzung).