Kirche
Plädoyer für eine lebendige Pfarrei
Luigi Giussani
Was kann eine kirchliche Bewegung zum Pfarrleben beitragen?
Spuren möchte anhand eines Beitrags von Don Giussani zum Nachdenken über
das Verhältnis von Institution und Bewegung anregen. Der Text geht auf
einen Vortrag des Gründers der Bewegung von CL zurück, den er im Oktober
1985 zum Patrozinium einer Mailänder Pfarrei hielt.
Vorbemerkung: Zur Haltung des Säkularismus
Heute berichtete der Avvenire[1] kurz über die Europäische Bischofssynode,
die derzeit in Rom stattfindet. Dabei geht es um die Frage des Atheismus
und der Religionslosigkeit, die unsere Zeit immer stärker prägen.
Eigentlich steht Europa auf dem Programm, aber der Papst hatte bereits in
Loreto, wo er von einer "Neuevangelisierung Italiens"[2] sprach, durchblicken
lassen, dass es durchaus um uns und unsere Mitmenschen geht.
Ihr habt sicher gelesen, was der Kardinal von Brüssel, Danneels, gesagt hat.
Nach seiner Überzeugung gibt es nur ein Heilmittel für den sich
ausbreitenden Säkularismus (Säkularismus bedeutet nicht Wertschätzung
des Zeitgeistes beziehungsweise der Welt, sondern meint eine Sichtweise der Welt
unter Absehung von Gott), nämlich "die Wirklichkeit der Gnade und die Allmacht
des Wortes Gottes wieder zu entdecken". Und vielleicht müsste man diese
Beobachtung des Kardinals noch ausweiten, wenn wir die Zeitungen und andere
Zeugnisse des Zeitgeistes - gleich ob kirchlich oder nicht - mit Intelligenz
beurteilen wollen. Denn die Bejahung der Welt und der Wirklichkeit als Wert begann
in der Menschheitsgeschichte mit dem Christentum.
Es gibt einen Satz des heiligen Paulus, der in kultureller Hinsicht die
revolutionärste Aussage der ganzen Geistesgeschichte darstellt:
"Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut."[3]
Weshalb ist jedes Geschöpf gut? Weil es Geschöpf ist, weil Gott es
gemacht hat! Deshalb ist die Zeit beziehungsweise die Welt, die ihr
vorläufiges Leben in der Zeit fristet, eine wertvolle Wirklichkeit.
Denn sie ist der Weg, auf dem der Herr uns ruft und uns sogar entgegenkommt.
Unser Leben wird einmal nach unserem Verhalten auf diesem Weg gerichtet werden.
Wenn also von Säkularismus als von einer der Religion oder der gelebten
Religiosität entgegengesetzten Haltung oder Sichtweise die Rede ist,
dann bedarf dies noch weiterer Klärung. Es ist nämlich keineswegs
nötig, im Gegenzug dazu auf eine Engelswelt zu verweisen oder einen
abstrakten Spiritualismus zu predigen. Denn die Beziehung zu Gott spielt sich
in dieser Welt ab, in der Wirklichkeit dieser Welt bis hinein in die Einzelheiten
des Alltags.
Deshalb wiederhole ich in diesen Jahren immer wieder den sehr bezeichnenden Satz
des Evangeliums: "Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden,
werden sie am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen"[4].
Das heißt, selbst ein im Scherz gesagtes Wort besitzt einen Wert vor Gott.
Darum ist die ganze Wirklichkeit gut, alles Geschaffene ist gut.
Weshalb ist dies aber kulturell gesprochen ein revolutionärer Satz?
Weil der Mensch, der die Welt ohne Gott verstehen will, der Mensch, der keine
klare Vorstellung von Gott hat (wie sie uns Jesus gegeben hat: "Niemand hat Gott
je gesehen", außer dem Sohn, der ihn offenbart hat[5]), die Welt stets
dualistisch betrachtet. Wer das versucht hat, hat die Welt stets als etwas
verstanden, das aus guten und schlechten Dingen besteht, aus würdigen und
unwürdigen Dingen. Aber es gibt in der Natur keine würdigen und
unwürdigen Dinge, denn sie sind alle von Gott geschaffen. Das Würdige
oder Unwürdige "kommt aus dem Herzen des Menschen"[6], bemerkt Jesus bei
einem Streitgespräch mit den Pharisäern. Also nochmals: Alles ist gut!
Die dualistische Mentalität - für die es gute Dinge gibt und schlechte,
die es zu vernichten gilt - hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie kommt zustande,
wenn Gott nicht der Ausgangspunkt für das Verständnis aller Dinge ist.
Das gilt nicht nur für die Antike, z. B. für den Manichäismus.
Das gilt auch heute. Denn jede Ideologie, gleich ob sie herrscht oder nicht,
beurteilt bestimmte Dinge als gut und andere als schlecht. Und die schlechten
Dinge muss man austilgen, notfalls auch mit Gewalt. Deshalb gibt es keine
Ideologie beziehungsweise kein Lebens- und Weltverständnis, das der Mensch
nicht mit Gewalt durchzusetzen sucht, sobald er nur etwas Macht besitzt.
In der marxistischen Ideologie ist beispielsweise der Reiche das Übel,
das es zu vernichten gilt, und der Arbeiter das Gut, das einen Wert besitzt.
Jedes Verständnis des Menschen und jede Herrschaft des Menschen, die auf
einer menschlichen Auslegung der Dinge beruht, führt zu diesem Dualismus.
Diese ursprüngliche Versuchung können wir auch in uns selbst feststellen.
Denn sie ist eine Folge der Erbsünde. So halten wir einige Dinge für
schön und wertvoll, und andere für hässlich; so als könnte es
Dinge geben, die von ihrer Natur her schlecht sind. Jeder von uns steht in dieser
Versuchung. Es kommt aber eigentlich darauf an, welchen Gebrauch das Herz von den
Dingen macht, nämlich ob sie ihm zum Ausgangspunkt für das Schlechte
werden oder zu einem Verweis auf das Gute.
Ich wiederhole: Alles ist gut. Und wenn Jesus sagt: "Für sie bitte ich;
nicht für die Welt bitte ich"[7] (seit dem Konzil hat man diesen Satz nur
selten gehört, und dennoch hat Jesus ihn gesagt) dann meint Er damit nicht
die Welt als die Wirklichkeit, die aus den Händen des Vaters hervorgegangen
ist, die aus der Kraft Seines Heiligen Geistes entstanden ist.
Die Welt, für die Er nicht betet, ist vielmehr das Herz des Menschen,
der versucht, die Wirklichkeit seines Lebens und das Leben der Gesellschaft
unabhängig von Gott zu organisieren.
Hier liegt auch der Grund des Bösen: in der Unabhängigkeit von Gott.
Denn der Herr von allem ist "der Herr". Es ist Gott. Und da alle Dinge von Ihm
sind, müssen sie auch mit Seinen Augen betrachtet und in Seinem Sinne
benutzt werden.
Die Wurzel des Bösen, das wir zu beklagen haben, die allgemeine
Entchristlichung, die religiöse Verkümmerung des Volkes, hat durchaus
ihren Ursprung auch im Verhalten von uns Christen. Wir haben in der Zeit nach
dem Konzil leider eine Vorstellung von Gott, ein Bild von Christus, ein
Verständnis von Kirche und eine Wirklichkeit des Glaubens gefördert,
die mit dem Leben nichts zu tun haben. Das zeigt sich in vielen Sätzen,
die wir gehört und vielleicht selbst wiederholt haben, wie etwa:
"Die Religion hat nichts mit der Politik zu tun; die Religion hat nichts mit der
Erziehung zu tun; sie hat nichts mit der Industrie, der Wirtschaft und der Arbeit
zu tun; die Religion hat nichts mit der Schule und der Bildung zu tun; die
Religion hat nichts mit der Kunst zu tun", und so weiter. Alle diese Aussagen
bringen einen Dualismus zum Ausdruck. Sie zeugen von einem Bruch zwischen dem
Glauben und dem Leben mit seinen Ansprüchen und Bedürfnissen.
Es gibt ein Wort, das dieses Verständnis vom Menschen und von der Gesellschaft,
in der der Glaube von den Bedürfnissen des Lebens getrennt ist, zusammenfasst.
Es lautet: "Laizismus". Der Säkularismus ist die Folge des Laizismus.
Wo der Glaube nicht im Rahmen der Bedürfnisse und Ansprüche des Lebens
gelebt wird, hat das Leben bereits begonnen seine eigenen Wege zu gehen.
Und der Glaube rückt in immer weitere Ferne, wird abstrakt.
Die zunehmende Säkularisierung, über die sich der Papst und die
Bischöfe Sorgen machen, ist eine Folge des Laizismus, Konsequenz eines
Glaubens, der im täglichen Leben, in privater wie gesellschaftlicher Hinsicht
keine Rolle mehr spielt, weil das Gesellschaftliche immer mehr das Private bestimmt.
Ich wollte diese Beobachtung zum Begriff des "Säkularismus", der in den
Zeitungen und Vorträgen immer wieder gebraucht wird, vorausschicken, um auf
einen gewissen Bruch hinzuweisen, der auch durch uns selber geht, weil uns diese
Trennung zwischen dem Glauben und den Bedürfnissen des privaten und
gesellschaftlichen Lebens allzu oft sogar als Ideal dargestellt wurde. Gerade hier
liegt die Ursache für die heutige Situation. Die religiöse
Gleichgültigkeit scheint so schlimm zu sein, dass der Avvenire seinen Artikel
mit dem Titel überschreibt: "Die religiöse Gleichgültigkeit ist
schlimmer als der Staatsatheismus."[8] Denn im Staatsatheismus kann das Herz des
Menschen selbst im Lager wieder erwachen, wie dies Solschenizyn in seinen Romanen
und besonders in seinen Dokumentationen über den Archipel Gulag gezeigt hat.
In den Konzentrationslagern hat das beeindruckendste Wiedererwachen des Glaubens
in der Moderne begonnen.
Kardinal Danneels sagt: "Es gibt [angesichts des gegenwärtigen
Säkularismus] nur ein Heilmittel, nämlich die Wirklichkeit der Gnade
und die Allmacht des Wortes Gottes wieder zu entdecken." Wie aber kann man die
Wirklichkeit der Gnade und die Allmacht von Gottes Wort wieder entdecken?
Anhand einiger Fakten. Denn die Tatsachen offenbaren die Macht der Worte Gottes
und die Wirklichkeit der Gnade. Es gilt also, "auf das zu setzen, was in der
Kirche an Neuem entsteht, wie die kirchlichen Bewegungen, das Wiederaufleben
bestimmter religiöser Orden, die Gründung neuer christlicher Familien."
Zweitens: "Man muss die Rolle der Gemeinde neu bewerten und die Beziehung zwischen
ihr und der ganzen kirchlichen Wirklichkeit."
Nur die Rückkehr zu diesem doppelten Wert - das Leben und die Wirklichkeit
der Institution - nur die Rückkehr zu diesen Werten, kann Europa von einer
langsamen Vergiftung heilen.
Die Institutionen: Gemeinde und Diözese
Im Rahmen des Patroziniums, das ihr als christliches Volk dieser Kirche feiert,
sind die Worte des Kardinals von Brüssel ein wichtiger Hinweis, den wir
aufgreifen müssen. Sie vervollständigen das, was wir lernen müssen.
Kardinal Hamer sagt in seinem Buch Die Kirche ist eine Gemeinschaft: "Wie war es
möglich, dass eine Ortskirche (das heißt eine Gemeinde), wie die von
Antiochien, Korinth oder Rom, wie auch die erste Gemeinde in Jerusalem, wie war
es möglich, dass sie im Verständnis des Apostels Paulus und der ersten
Christen dieselbe Würde hatten wie die Weltkirche, die ganze Kirche?
Die Weltkirche repräsentiert die Gegenwart Christi. Und die Kirche in
Antiochia? Die Gegenwart Christi dort."[9] Sie hat deshalb denselben Wert.
Welchen Wert hätte aber eine Kirche in einer Stadt, wenn sie nicht zutiefst
mit der ganzen Kirche verbunden wäre, wenn in ihr nicht die Weltkirche
wahrnehmbar würde? Die Kirche ist der Leib Christi. Und die Ortskirche macht
den Leib Christi vor Ort sichtbar.
Deshalb werden auch die Eucharistie, das Wort Gottes, die Vergebung der
Sünden, also die Vollmachten, die Christus seiner Kirche verliehen hat,
das heißt seinem geheimnisvollen Leib in der Welt, dem ganzen Volk Gottes,
ebenso in der Ortskirche gelebt und mitgeteilt.
Wie kann nun dort, wo die Menschen leben, die Gegenwart der Weltkirche erfasst
werden? Hierzu ist im Laufe der Jahrhunderte das entstanden, was wir heute
"Gemeinde" nennen: die Ortskirche (die Kirche, die um den Bischof versammelt ist),
an dem Ort, dort wo man wohnt. Früher spielte sich das ganze Leben in der
Nähe des Wohnortes ab. Noch vor 50, 60 Jahren war das Leben hundert Mal
näher an "Zuhause". Deshalb vollzog sich das Leben der Kirche, das Leben
des Leibes Christi, in der Pfarrei. Es war durch die Pfarrei gesichert.
Wie viele Stunden sind wir aber heute noch zu Hause und wie viele auswärts?
Aber noch entscheidender: Woher erhält eine Frau, die den ganzen Tag zu Hause
verbringt, ihr Empfinden vermittelt, das was sie lernt, woher bezieht sie ihre
Vorstellungen? Aus dem Radio und dem Fernsehen! Wie ohnmächtig wären
die Worte, die der Priester Sonntag für Sonntag wiederholt, mag er das auch
noch so eindringlich tun, wohnte ihnen nicht die Kraft der Wahrheit inne.
Doch in Anbetracht der Fülle der Worte und Bilder, die den Alltag auch einer
fünfzig- oder sechzigjährigen Frau überschwemmen, sind sie doch
unterlegen. So empört sie sich auch nicht mehr über Dinge, über
die sie sich früher in 98 Prozent der Fälle empört hätte!
Und so kommt es, dass eine säkularisierte Lebens- und Weltauffassung,
in der Gott keine Rolle mehr spielt, überall Einzug hält und
"auch in die Kirche eindringt", wie der Papst in seiner bekannten Ansprache
über den Atheismus sagte.[10]
Deshalb ist es illusorisch, zu glauben, der Einzelne könne allein dieser
Mentalität widerstehen, durch eine Anstrengung seines Gewissens, seines
Glaubens oder seines Willens. Wir sind keine "Hochleistungssportler", das
heißt wir sind kein Volk von Heiligen. Wir sind insoweit heilig, als uns
der Herr in der Taufe ergriffen und uns zu Gliedern seines Leibes gemacht hat.
Aber er muss unsere ganze Person erobern, das Land unseres Herzens und unseres
Verstandes.
Für wen bedeutet die Wirklichkeit Christi also noch ein neues Verständnis
der Dinge im Lichte des Glaubens, eine neue Zuneigung im Lichte der Liebe, ein
neues Leben? Und für wen kann der Arbeitsplatz, die Universität, die
Schule, das Treffen mit Freunden zum Ausgangspunkt dieses neuen Lebens werden?
Glücklich ist jener Christ, zu dem die Arbeitskollegen sagen:
"Du bist anders als die anderen. Wie machst du das?"
Was also einst aus dem Inneren der Pfarrei hervorging, sich innerhalb der Grenzen
der Pfarrei abspielte, kommt heute aufgrund der größeren Entfernung
von ihr oft aus völlig anderen, ja feindlich gesinnten Umfeldern.
Worauf kommt es hier also an? Dass es eine Wirklichkeit gibt, die "Kirche" genannt
wird, ein Volk, das Paul VI. als "ethnische Wirklichkeit sui generis" [11]
bezeichnet hat, also ein wirkliches Volk. Was ist also wichtiger, dass man eine
wohl organisierte Pfarrgemeinde mit einer mehr oder weniger schönen Kirche
hat, oder dass sich der Glaube ausbreitet?
Damit sich die Kirche ausbreitet, braucht es die Pfarrkirche, damit der Glaube
gestützt wird, braucht es die Pfarrei. Aber der wirkliche Akteur der
Evangelisierung ist der Mensch. Und wie gelingt es einem Menschen, den Glauben
mitzuteilen? In dem Maße wie der Glaube in ihm lebendig ist, das heißt
eine Art, die Dinge wahrzunehmen und zu verstehen, ist, die sich von anderen
unterscheidet und darüber hinaus auch in dem Maße, wie der Glaube sein
Handeln prägt. Letzteres sage ich aber nur mit großer Zurückhaltung,
denn ohne dass Gott ein Wunder wirkt, ist es uns kaum möglich, unserem Glauben
Taten folgen zu lassen.
Kardinal Danneels fordert nun, die Pfarrei wieder neu als Wert zu entdecken.
Eine erste Möglichkeit, dies zu tun besteht in der Pflege ihrer Beziehungen
zu allen kirchlichen Wirklichkeiten.[12] Weshalb? Weil ein beschränkter Raum,
auch wenn er viele Menschen umfasst, kein angemessener Ursprung einer Kultur sein
kann, die in der Lage ist, sich der vorherrschenden Kultur entgegenzustellen,
die nicht nur durch die Fenster und Türen eindringt, sondern auch durch
die Mauern (zumal alle Art von Radiowellen auch durch Mauern gehen!).
Die Beziehung zur Kirche vor unserer Haustüre - die erster, grundlegender
und unersetzlicher Bezugspunkt für den Geist und das Herz des gläubigen
Christen ist - kann nur dann richtig wirksam werden, wenn dort - über den
engen Bereich der Pfarrei hinaus - Empfehlungen und Anregungen vermittelt werden,
eine größere Sensibilität für Probleme, und Hilfestellungen,
ihnen zu begegnen.
Das gilt auch für die Ortskirche, die Diözese. Eine Diözese kann
nicht aus sich heraus in der Lage sein, eine geistige Haltung, eine bestimmte
Kultur hervorzubringen oder eine bestimmte Sensibilität und Handlungsweise
zu entwickeln, die in der Lage ist, dem Druck stand zu halten, mit dem die gesamte
Welt versucht, ihre nichtchristliche und nichtreligiöse Interpretation des
Lebens durchzusetzen.
Denn die vorherrschende Kultur, die Ost und West bestimmt, ist jene, die die
ganze Welt umspannt. Es ist kein Zufall, dass man auf der einen Seite von
Kapitalismus spricht und auf der anderen von Neokapitalismus. Trennt man Gott
vom Leben ab, so bleibt als einziges Ideal des Lebens der Konsum.
Die Kultur ist gerade in ihren bestimmenden Faktoren ein universales Phänomen.
Gerade aufgrund ihrer Katholizität kann die Kirche erkennen, wo die Gefahren
liegen und was man tun muss, um ihnen zu entgehen. Aufgrund der Katholizität
der Kirche kann sie uns unterstützen, das gute Werk zu vollbringen.
Es ist beeindruckend, wenn man sieht, wie sich im Lehramt des Papstes (dem Petrus,
dem Christus gesagt hat: Ich habe dich gesandt, damit du deine Brüder, also
die anderen Bischöfe, stärkst), die nötige Sensibilität,
Intelligenz, richtungsweisende Energie, Ermahnung und klare Ermutigung finden.
Darin ist er zuverlässig, ausdauernd, unbeirrbar und konsequent wie niemand
sonst. Der Herr schützt seine Kirche. Aber er hat ein Instrument, um sie zu
schützen: Das letzte Unterscheidungskriterium, die letzte Garantie ist der
Bischof von Rom.
Will man also die Pfarrei erneuern, dann muss sie, wie der Papst in Loreto sagte,
mit ihrem Verstand, ihren Ohren, ihren Augen, ihrem Herzen ganz der großen
Catholica, das heißt der Universalkirche zugetan sein.
Je mehr eine Gemeinde darauf ausgerichtet ist, die universale Dimension der Kirche
zu leben, desto lebendiger wird sie als Pfarrei sein: Man sieht dies etwa im
missionarischen Eifer, der sich auf verschiedene Weisen ausdrückt: in
Berufungen zum Priestertum, zum Ordensleben, zur Weihe an Gott, in der
aufopferungsvollen Mitarbeit in den Missionsgebieten, in Spenden, die für
viele Christen wirklich ein Opfer bedeuten, und schließlich im Gebet der
Christen. An all diesen Dingen zeigt sich ihre Lebendigkeit.
Die Bewegungen
Will die Pfarrei in der Ortskirche verwurzelt sein, und will diese wiederum ihr
Selbstverständnis in der gelebten Einheit mit der Gesamtkirche verankern,
so bedarf es einer immer engeren Zusammenarbeit zwischen der traditionellen,
aus der Vergangenheit erwachsenen Struktur und der Neuheit der Bewegungen.
Diese stellen die Ursprünglichkeit und Lebendigkeit der Kirche in ihrer
Antwort auf die Bedürfnisse der modernen Zeit dar: Charakteristiken, die,
auch wenn sie "in der Organisationsstruktur der Kirche Probleme verursachen
können, doch in jedem Fall wertzuschätzen sind"[13].
Versuchen wir kurz, das Wesen dieses Phänomens zu verstehen.
Wenn es in einer Familie mehr als nur ein Kind gibt, sagen wir noch vier
weitere, so wird die Familie mitunter größere Schwierigkeiten haben
als mit nur einem Kind. Aber man wird gewiss nicht auf die Kinder verzichten
wollen, um es leichter zu haben: Ein Haus mit fünf Kindern ist menschlich
gesehen sicher reicher als ein Haus mit einem einzigen Kind. Auch wenn diese
Beobachtung sehr banal ist, halte ich sie dennoch für nicht ganz unnütz.
Als die Priester von Comunione e Liberazione vor zwei Wochen in Castelgandolfo
zusammenkamen, hielt der Papst eine Ansprache, in der er das Erscheinungsbild
einer Bewegung und deren Beziehung zur kirchlichen Institution wunderschön
erklärte. Er sagte: "Die Kirche, die in der Passion und Auferstehung Christi
und durch die Ausgießung des Heiligen Geistes geboren wurde, und die sich
in der ganzen Welt und in der ganzen nachfolgenden Zeit auf dem Fundament der
Apostel und ihrer Nachfolger ausgebreitet hat, wurde im Laufe der Jahrhunderte
durch immer neue Gnadengaben bereichert"[14]. Was ist eine Gabe?
Dieser Begriff weist auf den Heiligen Geist hin, der die Gabe schlechthin ist -
donum Dei Altissimi. Worin besteht die Gabe des Heiligen Geistes?
Darin, dass Herz und Sinn des Menschen von Gott die Fähigkeit geschenkt
bekommen, zu verstehen, was der Glaube ist, und sich danach zu sehnen, ihn zu
leben, und dass sie die nötige Kraft erlangen, zu versuchen, diesen Glauben
zu leben. Die Gabe des Heiligen Geistes belebt den Menschen.
Nicht umsonst beten wir: "Veni Creator Spiritus".
Die Gabe des Heiligen Geistes ist die Kraft, mit der der auferstandene Herr
Jesus Christus den Menschen erreicht und ihn auf überzeugende, ansprechende
und impulsive Weise verstehen lässt, wer er ist. Er lässt ihn die
großartige Wahrheit des Lebens der Welt verstehen, wodurch der Mensch immer
bewusster und überzeugter wird und sich immer mehr nach dem Leben sehnt.
Er wird unermüdlich und stets von Neuem seinen Weg aufnehmen, um immer mehr
Anteil am Leben zu haben und auf immer authentischere und tiefere Weise die
unerschöpfliche Fruchtbarkeit seines eigenen Ursprungs zu entdecken,
der Christus ist. Christus und die Kirche immer mehr kennen zu lernen ist die
Berufung dazu, gerade innerhalb der verschiedenen Begebenheiten der Geschichte
zu verstehen, wer Christus ist. "Wer in Christus ist, hat Seinen Geist!"[15]
Ein Tier kann den Menschen nicht verstehen, nur der Mensch kann den anderen
Menschen verstehen, weil er den gleichen Geist hat. Die Tiefe des Geheimnisses
versteht nur der Heilige Geist. Das Fleisch, das heißt der Mensch als
Naturwesen, kann nicht verstehen; es ist die Gabe des Geistes, die verstehen
lässt. Deshalb müssen wir stets die Muttergottes bitten, dass sie uns
den Geist Christi gebe. Wie Christus in ihr durch das Wirken des Heiligen Geistes
in die Welt gekommen ist, so verwirklicht sich in uns die Kenntnis und Liebe
dessen, was in ihr und von ihr durch das Wirken des Heiligen Geistes geboren wurde.
Der Geist ist alles, der Geist macht lebendig. Doch wie wird uns dieses Geschenk
gegeben? Wie teilt der Heilige Geist sich mit? Oft waren die Päpste und
Bischöfe selbst die Träger dieses erneuernden Charismas.
"Charisma" meint jene Kraft des Heiligen Geistes, die den Glauben auf eine
bestimmte Art und Weise belebt.
Bisweilen hat der Heilige Geist auch gewollt, dass Priester oder Laien die
Initiatoren und Gründer eines Werkes kirchlicher Erneuerung waren, durch
welches man die Zugehörigkeit zur einen Kirche und den Dienst an dem einen
Herrn leben konnte. "Der Geist weht, wo er will!"[16]
Normalerweise tritt der Heilige Geist in das Leben der Kirche und damit in das
Leben des einzelnen Gläubigen durch Menschen ein, die eine Bewegung
anstoßen, die in Bewegung versetzen. Bewegung bedeutet nicht, dass sie
agitieren, sondern dass sie Herz und Seele bewegen. Das Entstehen einer Bewegung
bedeutet das Entstehen von bewegten Herzen, von einem herausgeforderten
Bewusstsein, von Überzeugungskraft, von einer neuen Pädagogik und
Erziehung, von einem neuen Geschmack am Leben, von neuen Werken in der Kirche,
jeweils gemäß den Umständen der jeweiligen Zeit.
Und diese Neugeburt ist eine Gabe des Heiligen Geistes, der sich stets durch
Menschen mitteilt.
"Der Geist weht, wo er will, und wo er weht, da schafft er eine Bewegung,
denn der Heilige Geist ist für die ganze Kirche" bemerkt Kardinal
Ratzinger in seinem wunderschönen Buch Zur Lage des Glaubens[17].
Der Heilige Geist ist nicht für den Einzelnen, sondern für die ganze
Kirche, er ist dem Einzelnen für die ganze Kirche gegeben.
Hier liegt also der Ursprung von allem. Der Papst hat außerdem darauf
bestanden, uns eindringlich wieder in Erinnerung zu rufen, was uns geschehen ist.
"So wie die objektive Gnade der Begegnung mit Christus uns durch Begegnungen mit
bestimmten Personen erreicht hat, an deren Aussehen, Worte und Umstände wir
uns mit Dankbarkeit erinnern, so teilt Christus sich den Menschen durch die
Wirklichkeit unseres Priesterseins mit, wobei er alle Aspekte unserer
Persönlichkeit und Sensibilität mit einbezieht"[18].
Hier liegt der eigentliche Sinn der Rede vom "Charisma".
Was ist für eine Mutter und einen Vater, die den Glauben leben, ihre
Familie? Eine kleine Bewegung! Es wird sofort klar, wo die zwei oder drei oder
fünf Kinder das her haben, was ihnen mit auf den Weg gegeben wurde.
Doch um das Wesen einer Bewegung noch genauer zu charakterisieren, möchte
ich sagen: eine Bewegung wirkt der "zersetzenden Macht der Gewohnheit" entgegen.
Wenn ich einem Menschen begegne, der den Glauben lebt und mich mit seiner
Lebendigkeit ansteckt, dann werde auch ich, dort wo ich bin, einen lebendigen
Glauben leben: an meinem Arbeitsplatz oder im Sommerlager der Pfarrei, beim
Katechismusunterricht oder bei einer Vorlesung, die ich halte.
"Das Entstehen einer derartigen Gemeinschaft ist ein universelles Gesetz".
Wenn jemand in einem Charisma lebendigen Glaubens lebt, wirkt das anziehend,
vielleicht nicht auf alle, aber viele werden sich überzeugen lassen und ihm
nachfolgen, und so entsteht eine Gemeinschaft. Genau das ist es, was im
christlichen Leben trägt, in der Pfarrei, in der Diözese und in der Welt.
"[Diese Gemeinschaft] zu leben gehört zum Gehorsam gegenüber dem
großen Geheimnis des Heiligen Geistes. Eine authentische Bewegung ist
daher eine die Institution von innen belebende Seele"; sie nährt die Kirche,
die Gesamtkirche, die Kirche im Bistum, die Kirche in der Pfarrei.
"Es geht nicht um eine alternative Struktur"; eine Bewegung ist keine alternative
Struktur zu der einzigen institutionellen Struktur, der objektiven Struktur der
Kirche, sondern sie ist wie eine Seele in ihr, die die Leute in ihr lebendig
werden lässt. Wie bei Soldaten, die beim Klang der Fanfaren los stürmen;
die Fanfare stellt keine Alternative zu den Befehlen des Hauptmanns dar,
doch sie elektrisiert die Herzen der Soldaten, so dass sie ihm folgen.
Eine authentische Bewegung ist daher "die Quelle einer Gegenwart, die
kontinuierlich die existentielle und historische Wahrheit der Institution zum
Tragen bringt". Ansonsten bleibt die Institution als solche wie die Kirche aus
Stein, sie verflacht, sie wird zur reinen Gewohnheitsangelegenheit, sie wird
formal. Wie viele von uns entsprechen wohl der Anforderung des heiligen Petrus:
"Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt,
die euch erfüllt!"[19] Die überwiegende Mehrheit von uns hat diese
Hoffnung nie an andere weitergegeben und hat sie auf diese Weise in sich
austrocknen lassen: Denn ein Leben nimmt entweder an Kraft zu, oder aber es
trocknet aus und stirbt ab.
Christus heri et hodie, ipse et in saecula! (Christus gestern und heute, jetzt
und in Ewigkeit): Diese Wahrheit, die immer galt und gilt, muss man in neue
Sichtweisen, Stellungnahmen und Antworten übersetzen können, die den
Bedürfnissen, Formen und Fakten der Welt von heute entgegenkommen.
Wenn sich daher die kirchliche communio nicht in der etablierten Gesellschaft,
am Arbeitsplatz oder in der Schule, an der Uni oder im sozialen und politischen
Leben Ausdruck verschafft, so ist es, als gäbe es sie nicht, sie wäre
leblos, nichts als eine abstraktes Ideal von Gemeinschaft, das nichts mit der
Wirklichkeit zu tun hat.
Das erste Zeichen dafür, dass eine Bewegung Leben in die Kirche bringt,
besteht darin, dass derjenige, der in dieser Bewegung lebt, den anderen
Bewegungen Hochachtung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringt
und bereit ist, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wer lebendig ist,
der schätzt und liebt das Leben des anderen und arbeitet mit ihm zusammen.
Zwei große Aufgaben hat der Papst bei seinem Treffen mit den Priestern
von CL in Erinnerung gerufen hat:
1. Die Aufgabe, zum Gebet zu erziehen, insbesondere im Sakrament.
Es gab eine Periode, die von einer bedeutsamen Rückkehr zu den Sakramenten
geprägt war, insbesondere zur Eucharistie - zur Beichte sehr viel weniger,
und dies weist darauf hin, das noch etwas vervollständigt werden muss -,
doch in letzter Zeit schient dies wieder abzunehmen. Eine Bewegung,
das heißt eine Erfahrung eines lebendigen, charismatischen, christlichen
Lebens, erkennt man zuallererst daran, dass sie zum Gebet erzieht, insbesondere
zur sakramentalen Anbetung.
2. Eine zweite Aufgabe formuliert der Papst so: "Scheut keine Mühe ...
seid Lehrmeister der christlichen Kultur, jener neuen Auffassung vom Dasein,
die Christus in die Welt gebracht hat, und unterstützt die Bemühungen
eurer Brüder, damit jene Kultur in immer wirkmächtigeren Formen
öffentlicher und sozialer Verantwortung zum Ausdruck kommt.
Nehmt mit Hingabe an jener Arbeit teil, zu der ich [in Loreto] die ganze
italienische Kirche aufgerufen habe: den Bruch zwischen Evangelium und Kultur
zu überwinden. Verspürt, wie großartig und zugleich drängend
die Aufgabe einer Neuevangelisierung eures Landes ist! Seid die ersten Zeugen
jenes missionarischen Impetus, den ich eurer Bewegung als Aufgabe übertragen
habe!"[20]
Das Gebet und der Glaube, der sich in der Kultur Ausdruck verschafft, bringen
eine neue Art und Weise hervor, das Leben in all seinen Facetten zu erleben:
die Beziehung von Mann und Frau, die Erziehung, die Schule, die Arbeit,
die beruflichen Beziehungen, die Beziehungen zwischen Nachbarn und Mitbürgern,
eine neue Art und Weise, sich um die Kranken zu kümmern. Gebet (insbesondere
die Mitfeier der Eucharistie) und Engagement, das heißt Mission.
Der Glaube kann dann daher gar nicht anders, als danach zu streben und sich danach
zu sehnen, dass eine Gesellschaft und eine Welt entstehen möge, in der
"eine Kultur der Wahrheit und der Liebe"[21] herrscht. Doch was kann der Aufbau
einer Kultur der Wahrheit und der Liebe anderes bedeuten als den Aufbau von
menschlichen Beziehungen, die der Wahrheit und der Liebe Christi entsprechen?
Der Mensch gelangt ins Paradies, indem er menschliche Beziehungen aufbaut, die
der Wahrheit und der Liebe Christi entsprechen. Man erreicht dieses Ziel durch
den Aufbau von menschlichen Beziehungen, die der Wahrheit und Liebe Christi
entsprechen. Die christliche Theologie spricht hier von "Verdienst":
Das, was uns ins Paradies gelangen lässt, ist das "Verdienst". Worin genau
besteht es? Darin, dass wir unsere Art und Weise zu handeln und damit auch unsere
Beziehungen untereinander dem Glauben gemäß umgestalten.
Je mehr also eure Pfarrei von diesen Charismen und Anstößen
erfüllt wird, die der Geist eingibt, insbesondere durch die Person des
Priesters, desto mehr Rat und Richtungsweisung werdet ihr in eurer Pfarrei
erhalten, die zu einem Ort der Hoffnung für alle wird, ausgenommen jene,
die ihre Ohren verschließen.
Anmerkungen:
[1] S. Mazza, L'indifferenza religiosa peggio dell'ateismo di Stato,
in Avvenire, 10. Oktober 1985, S. 10.
[2] Il Papa a Loreto, Dokumente Nr.4, Beilage zu Litterae Communionis -
Cl, 4 (1985), S. 10.
[3] 1 Tim 4,4
[4] Vgl. Mt 12,36.
[5] Vgl. Joh 1,18.
[6] Vgl. Mt 15, 18.
[7] Vgl. Joh 17,9.
[8] Hier und im Folgenden: S. Mazza, a.a.O.
[9] Jean Jerome Hamer, La Chiesa è una Comunione, Morcelliana 1985.
[10] Johannes Paul II., Ansprache zum Kongress
Evangelisierung und Atheismus, 10. Oktober 1980.
[11] Paul VI., Generalaudienz am 23. Juli 1975, in: L'Osservatore Romano,
25. Juli 1975.
[12] S. Mazza, a.a.O.
[13] Ebd.
[14] I movimenti nella missione della Chiesa, Documenti n. 5, Beilage zu
Litterae communionis-CL, 11 (1985), S.23.
[15] Vgl. 1 Joh 4, 12-15.
[16] Joh 3,8.
[17] Vgl. J. Ratzinger, Zur Lage des Glaubens, München 1985.
[18] Hier und im Folgenden: I movimenti nella missione della Chiesa, S. 24f.
[19] 1 Petr 3,15.
[20] I movimenti nella missione della Chiesa, S.26.
[21] Johannes Paul II. beim Meeting für die Freundschaft unter den
Völkern, Rimini, 29. August 1982.
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