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Ehe
Von der Zeit der Erwartung
Anna Campiotti Marazza

Eines der vielen Werke, die innerhalb der Bewegung von Cl entstanden sind, ist ein Verein, der sich der Vermittlung von Pflege- und Adoptivkindern annimmt. Denn die Freundschaft in Christus bringt auf vielfältige Weise Frucht. Ausgangspunkt sind immer die konkreten Bedürfnisse der einzelnen.
Der folgende Erfahrungsbericht, gerichtet an zukünftige (Pflege-)eltern, dokumentiert das. Doch die Zeit der Erwartung, von der die Rede ist, fordert uns alle heraus.

«Alles, was ich zum Thema Adoption zu sagen habe und wovon ich immer wieder berichte, habe ich gelernt, weil ich der Geschichte von Personen und von Familien, denen ich begegnet bin, mit Leidenschaft nachgehe. Das ist mein persönlicher Wunsch, aber es ist sicher auch das Anliegen unseres Vereins, die Erfahrung ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen: Was liegt uns am Herzen? – Der Wunsch, dass der Mensch lebt und zwar lebt in «Fülle». Wie viele Kinder in Italien geboren werden oder wie viele Adoptionen es gibt, interessiert mich bedingt. Es interessiert mich aber brennend, Erwachsene zu sehen, die ernst machen mit ihrem Wunsch, groß zu sein, und sich für fähig oder geeignet halten, anderen Menschen das Leben weiterzugeben. Das ist es, wofür ich mich begeistere.

Erwachsen werden
Ich habe schon erwähnt, dass es mir in erster Linie auf die Eltern ankommt, ich stehe prinzipiell auf ihrer Seite – denn was mich zunächst und vor allem interessiert ist der reife Mensch. Dafür arbeite ich, natürlich auch für eure Kinder, denn das Beste, was euren Kindern passieren kann, dass ihr voll und ganz «erwachsen» seid.
Von dieser Sehnsucht wollen wir ausgehen. Der Wunsch, der viele von euch bei der Suche nach einem Kind erfüllt, ist wirklich eine großartige Sehnsucht. Er muss aber von allem, was es an Kleinkariertem an ihm gibt – und irgendetwas Kleinkariertes haftet all unseren Wünschen an – gereinigt werden und das, was Sehnsucht eigentlich ist, nämlich das Gespür für die Abwesenheit von etwas oder jemandem, muss klar daran hervortreten. Das Herz des Menschen ist dafür geschaffen, diese große Sehnsucht zu verspüren, eine Sehnsucht die es ganz erfüllt. Diese Sehnsucht sehnt sich nach «etwas, dem ich noch nicht begegnet bin.» Es ist eine Sehnsucht nach Fülle, das Verlangen nach «jemandem». Unser ganzes Leben sehnen wir uns danach, jemandem zu begegnen, der uns hilft, wir selbst zu sein und der uns auf dem Weg zu unserer Fülle begleitet. Und genau auf einer dieser Etappen unseres Lebensweges bedeutet dieser Wunsch auch: Wunsch nach einem Kind. Und das ist gut, denn ein solcher Wunsch zeigt, dass ein Erwachsener mit seinem Leben wirklich ernst machen will.

Das Warten als Gefahr
Was wünscht ihr euch für euch selbst? Ich für meine Person ersehne nicht weniger als die Fülle, alles, was in meinen menschlichen Möglichkeiten liegt, wenn nicht gar mehr als das. Ich hoffe, dass keiner von euch sich mit weniger zufrieden gibt. Das jedenfalls treibt mich an. Ihr versteht natürlich sofort, dass dieser Wunsch Gefahr läuft, sich auf etwas zu verlegen, das außerhalb von mir liegt. Er läuft Gefahr, zur Utopie zu werden.
Nur allzu oft haben wir mit Menschen zu tun, die nicht leben und immer auf etwas «anderes» warten, das sie sich erträumen oder wünschen, die auf die große Gelegenheit im Leben warten, für die es sich zu leben lohnt. Die warten, der großen Liebe ihres Lebens zu begegnen, in der Zwischenzeit was tun? Warten. Ein Kind zu haben, ist ein Ziel. Und solange ich noch keines habe, kann ich eben nichts machen, denn ich warte ja darauf, ein Kind zu bekommen. Aber es finden sich viele Gründe so zu warten. Für viele wird auch das Kind zu einer dieser Utopien, auf die man wartet - und in der Zwischenzeit herrscht eine Leere. Warten müssen, macht mir ganz schön Angst, und ich bestehe immer sehr darauf, dass niemand, der eine Zeit der Erwartung durchlebt, allein ist. «Warten» ist eine gefährliche Zeit. Es ist eine Zeit, die die Möglichkeit in sich birgt, zu einer Leere zu werden, zu einem Traum von etwas «anderem». In der Zeit des Wartens besteht die Gefahr, dass man sich selbst verliert. Ein solches Warten ist am Ende immer eine Enttäuschung, denn: Das, was eintrifft, ist immer anders als das, was ich mir erträumt habe. Und wenn es dann eintrifft, bin ich so unaufmerksam, so unbeweglich und starr, dass ich noch nicht einmal bereit bin, mich als Person ins Spiel zu bringen.
Wenn ich zu dem Urteil gelange, dass «eine Familie für eine Adoption nicht geeignet ist», dann liegt der Grund dafür darin, dass ich Personen gegenüberstehe, die sich «nicht bewegen», die immer noch auf eine Gelegenheit warten, sich in Bewegung zu setzen. Und ich bin mir sicher, dass sie sich nicht bewegen werden und dass es kein Kind geben wird, das so sehr ihrem Wunsch entspricht, dass sie sich dazu entschließen, ihre Person ins Spiel zu bringen. Ein Kind ist niemals Mittelpunkt im Leben eines Menschen, ein Kind kann und darf nicht Mittelpunkt eines Menschen, einer Familie sein.

Unsere eigentliche Aufgabe
Was aber ist dann unsere Aufgabe? Doch sicherlich, völlig wir selber zu werden. Es ist meine Aufgabe, ganz ich selbst zu sein. Mein Leben, meine Person, meine Bestimmung, meine Wirklichkeit, das ist meine Aufgabe, allein schon deshalb, weil ich mein Kind mit einer Erklärung an die Wirklichkeit heranführen muss. Warum stellt sich denn ein Erwachsener vor ein kleines Kind? Doch nur, um ihm zu sagen: «Komm, folge mir. Ich sage dir, wie man das Leben angeht». Dieses «Ich-sage-dir» bedeutet: Ich bringe dir bei, wie man sieht. Ich lebe an deiner Seite und zeige dir, was das Leben ist. Also muss man sehen können. Um Vater und Mutter sein zu können, muss es Erwachsene geben, die bereits schon jetzt mit ihrem Leben ernst machen, für sich persönlich und im Miteinander. Ein Kind wird immer von einem Ehepaar geboren, das lebt. Ein Kind kann nur von einem Ehepaar geboren werden, das lebt. Das gilt für leibliche Kinder und erst recht für adoptierte. Ein Mann und eine Frau, die sich um eine Adoption bemühen - wie leben sie miteinander? Was und wie sind sie? Haben sie das Bewusstsein, bereits eine Familie zu sein? Denn es wird nicht das Kind sein, das die Familie entstehen lässt. Eine Familie entsteht, wenn zwei Erwachsene einander helfen, das zu leben, was sie sind, wenn sie schon miteinander eine ernsthafte Arbeit begonnen haben, wo jeder tagtäglich spürt, dass der eine dem anderen hilft, er selbst zu sein. Wenn wir diese Erfahrung machen, können wir auch zu einem Kind sagen: «Weil wir Ehepartner diese gemeinsame Arbeit als Basis haben, wirst auch du, Kind, groß werden können.» Aber dort, wo man sich nicht bereits diese Mühe macht, wo eine solche Arbeit an meiner Identität nicht in Angriff genommen wird, wird es sehr gefährlich, ein Kind anzuvertrauen, denn eine solche Arbeit, bei der man lernt, zum anderen zu sagen, «Ich helfe dir, das zu sein, was du bist», improvisiert man nicht einfach so. Es ist eine Arbeit, die ich bereits für mich, für uns unternehme.

Die Erwartung als Chance
Das Leben ist ganz Erwartung. Nichts von dem, was uns bis jetzt begegnet ist, entspricht genau unseren Bedürfnissen. Ebenso wenig werdet ihr genau den Bedürfnissen eurer Kinder entsprechen. Wir werden immer auf etwas anderes warten.
Die Zeit des Wartens, die man im Verlaufe einer Adoption durchlebt, macht bisweilen auch sehr schmerzhaft klar, dafür aber umso deutlich klar, worum es uns in allem gehen müsste: um die Fülle unseres Lebens. Unser ganzer Alltag sollte davon bestimmt sein.
Oft habe ich mit Leuten zu tun, die mit ihrer Unzufriedenheit nichts positives anzustellen wissen. Sie suchen immer irgendetwas, und wenn sie es erhalten haben, heißt es: «Das war es doch nicht, was ich suchte» und ein neuer Wunsch ersetzt den alten. Die Sehnsucht wird nicht als integraler Bestandteil unserer Existenz erkannt.
Sich ein Kind zu wünschen, bedeutet, sich eine ganz besonders dringliche Gelegenheit zu wünschen, bedeutet sich ganz und gar erziehen lassen zu wollen, und mich daher ganz ins Spiel zu bringen. Ein Kind stellt keine Aufgabe dar, es ist vielmehr eine Gelegenheit, die ein Elternteil förmlich «zwingt», sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Vielleicht hat der eine oder andere dieses endlose Suchen nach dem, was uns fehlt, schon einmal satt gehabt. Und im Fall einer Adoption zieht sich diese Suche besonders lange hin: Für die einen sind es medizinische Angelegenheiten, für die anderen schmerzvolle psychologische Erfahrungen. Bis man versteht, dass auch dieses Warten etwas Gutes an sich hat, bedarf es meist etwas, das uns angesichts unseres Wunsches nach Fülle in die Knie zwingt, vor allem aber braucht es Zeit. Diese Zeit bedeutet Arbeit und nicht Leere.
Die Zeit des Wartens ist eine Zeit, die euch hilft anzuerkennen, dass es nicht nur ein Kind war, das ihr euch gewünscht habt, sondern auch etwas, das euch «groß» werden lässt, etwas, das euch unaufhörlich zuruft: Dieser Wunsch von mir - woher kommt er, wohin geht er? Keine dieser Wartezeiten darf ‘leer’ sein, uns dazu bringen zu sagen: «Zuerst mussten wir das Problem der Sterilität angehen, dann waren die Formalitäten zu klären und nun haben wir an diesen Gesprächen teilgenommen, alles in der Angst, auch ja die richtigen Antworten zu geben ...» Darauf kommt es nicht an. Vielmehr darauf, sich immer auch ins Spiel zu bringen. Und dafür gibt es kaum genug Zeit. Beschleicht euch nicht eine Art Schauder bei dem Gedanken: «Jetzt, wo ich das Kind in meinen Armen halte, muss ich ihm das Leben erklären. Jetzt schaut es mich jeden Tag mit seinen Augen an und möchte von mir lernen, was das Leben ist»? Ich jedenfalls nehme diesen Blick der Kinder, auch den der Freunde und all jener, denen ich begegne, sehr deutlich wahr. Es ist ein Blick, der von ‘Erwachsenen’ lernen möchte, was das Leben ist. Können wir angesichts einer solchen Frage, die da ist und immer drängender wird, einfach Mama und Papa spielen? Natürlich nicht.

Die Ehe ist bereits Familie
Vor ein paar Jahren las ich zufällig von weitem in einer Schaufensterauslage den Satz: «Alles, was Ihr Kind braucht». Ich ging natürlich in den Laden. Es war ein Kindergeschäft mit einer Unzahl teurer Produkte. Doch was braucht dein Kind eigentlich? Zwei wirklich erwachsene Personen, die mit sich selbst und mit ihrem Leben ernst machen und die bereits mit einer gemeinsamen Arbeit an sich selbst begonnen haben. Wir müssen voneinander lernen, worin diese Arbeit besteht, was es für andere bedeutet, wie andere Menschen Vater und Mutter sind.
In diesem Sinne sind wir alle auf dem gleichen Weg. Ich sage den Eltern, selbst dann, wenn das Kind endlich da ist und sie ganz in der Sorge um das Kind aufgehen, dass sie sich ein bisschen weniger um ihr Kind und mehr um sich selbst sorgen sollen. Denn ein Kind braucht einen ‘wirklichen’ Erwachsenen.
Die Ehepartner müssen sich auch mit sich selbst und mit dem Partner auseinandersetzen. Neulich hatte ich innerhalb weniger Tage mit drei Ehepaaren zu tun, die sich nach der Adoption getrennt haben und zwar mit allen Konsequenzen für das Kind und für das Paar. Sie haben einfach weiter geträumt und in dem Kind etwas gesehen, das die Familie wie durch ein Wunder hätte entstehen lassen sollte. Das Kind war aber nichts anderes als ein Zeichen für die Unzufriedenheit zwischen ihnen, die sich damit trösteten: «Wenn das Kind kommt und wir eine wirkliche gemeinsame Aufgabe haben, wird es auch mit uns beiden besser gehen». Und dann geschieht meist das Gegenteil. Die Frau sieht sich ganz als Mutter und vergisst dabei, dass sie auch Ehefrau ist, und die Ehe bricht auseinander. Die Ehe ist schon ein Ort, wo man ernsthaft an sich selbst arbeiten muss. Und wenn man dann einem Kind Raum gibt, bedeutet dies - vor allem für das Ehepaar - noch ernsthafter und genauer an sich selbst zu arbeiten.
Also, bleibt nicht die ganze Nacht über wach, getrieben von dem Gedanken, was wohl dein Kind dort jetzt ohne dich macht. Nein, schlafe ruhig und schau deinen Mann an, denn wenn das Kind kommt, schläfst du vielleicht nicht mehr und hast nur noch wenig Zeit, deinen Mann anzusehen. Je aufmerksamer ihr seid, hier und heute gut zu leben, desto mehr gewöhnt ihr euch daran, wahrzunehmen, was um euch herum geschieht. Folglich werdet ihr auch euer Kind, das vor euch stehen wird, mit größerer Aufmerksamkeit anschauen. Eine Person, die zerstreut in der Gegenwart lebt, wird sehr wahrscheinlich auch die Ankunft des Kindes ‘zerstreut’ erleben. In der Gegenwart ist bereits schon alles gegeben. Ihr könnt sicher sein, dass auch das Kind euch vor viele Dinge stellen wird, die oberflächlich betrachtet keineswegs glücklich machen. Man muss also schon fähig sein zu sehen und anzuerkennen, dass genau der jeweilige Lebensumstand gut für mich ist, damit ich all das bin, was ich sein kann. Wenn ihr nicht gelernt habt, dies jetzt anzuerkennen, wird es euch schwer fallen, dies vor eurem Kind anzuerkennen.
Selbst beim Anblick des schönen Gesichtes seines Kindes, kann sich einer elend, schlecht und unfähig fühlen und muss doch sich selbst und dem Umstand verzeihen, das es so ist. Das passiert immer wieder: Wir wünschen uns etwas Großes und wenn es dann eintrifft sagen wir: «Dazu bin ich nicht fähig, das schaffe ich nicht.» Was sich als erster herausstellt ist die eigene Zerbrechlichkeit. Die Adoptiveltern schrecken dann zurück, weil sie glauben, sie hätten in ihrem Leben alles falsch gemacht. Wenn ihr aber einen Augenblick darüber nachdenkt, werdet ihr zugeben müssen, dass es immer mühsam war, wenn wir uns ernsthaft den Umständen gestellt haben.
Wenn man sich verliebt und dabei einem anderen begegnet, ist das schon «Arbeit». Geben wir uns also nicht der Illusion hin, dass die Begegnung mit einem Kind nur idyllisch sein wird. Das wird es auch sein, aber sicher auch viel Arbeit. Die Zeit des Wartens ist der Moment, wo wir uns Fragen über unsere Fähigkeit stellen müssen, selbst an uns zu arbeiten. Fragen, wie sehr wir uns - ungeachtet unseres Wunsches, ein armes verlassenes Kind zu retten – wirklich einen Ort wünschen, an dem wir uns selbst herausfordern, damit wir ‘groß’ werden.
Warten erzeugt Angst und blockiert uns immer ein bisschen. Doch als Ehepaare müssen wir uns helfen, unser Herz lebendig zu halten. Und da müssen wir uns helfen lassen, wieder auf unser Herz zu blicken. Unsere Freunde etwa könnten dies tun.

Veröffentlicht in
„Lettera periodica“ Nr. 59;
http://www.famiglieperaccoglienza.it