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Wissenschaft - Szientismus
Stellungnahmen
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Als Reaktion auf den Artikel von Giorello ging bei der Redaktion des Magazines eine Reihe von Beiträgen ausgewiesener Wissenschaftler ein. Außer einem wurde keiner veröffentlicht. Die folgenden Beiträge haben uns ihre Verfasser zur Kenntnisnahme übermittelt


Lucio Rossi

Cern - Accelerator Technology Department Magnet and Superconductor Group Leader & Università di Milano - Dipartimento di Fisica

Wer ist hier der Obskurantist? Beim Lesen von Giorellos kurzem Text haben mich der Ton des gekränkten Wissenschaftlers und die unnützen Beschuldigungen Don Giussanis als Obskurantist sehr betroffen, da letzterer doch, ob man ihm nun recht gibt oder nicht, auf jeden Fall die Frage nach der Wahrheit und den Möglichkeiten ihrer Erkenntnis thematisiert hat. Gerade deshalb kommen ja viele Wissenschaftler gern zu den Diskussionen in die Kulturzentren oder zum Meeting, das von Giussanis Anhängern organisiert wird.
Das Märchen, dass es der Wissenschaft zukomme, jede Art von Fortschritt beurteilen zu können, ist in wissenschaftlichen Kreisen zum Glück gar nicht so weit verbreitet (darin kann ich Giorello zustimmen, wenn er sagt, er kenne keine von dieser „Krankheit“ befallenen Wissenschaftler). Leider greift diese Krankheit jedoch in der öffentlichen Meinung umso mehr um sich, propagiert von denen, die – möglicherweise aus ideologischen Gründen - wissenschaftliche Desinformation betreiben. Um sich die Falschheit des Szientismus vor Augen zu führen braucht man nur an die Sowjetunion zu denken, die sicherlich 30-40 Jahre lang eines der Länder mit der größten wissenschaftlichen Entwicklung war und in der sogar das politische System als «wissenschaftlich» bezeichnet wurde.
In unseren Laboratorien arbeiten wir jeden Tag hart, um neue Erkenntnisse zu g ewinnen, um durch unsere Suche nach Wahrheit in ihren verschiedenen Aspekten kleine Körnchen von Gewissheit zu erlangen: Wer an dieser mühsamen, aber aufregenden Unternehmung teilnimmt, kennt nur zu gut Faszination aber auch Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wissenschaft mit Szientismus zu verwechseln ist wie Kultur mit Körperkultur zu verwechseln!


Giorgio Ambrosio

Fermi National Accelerator Laboratory, Batavia (Illinois)

Sehr geehrte Redaktion, ich schreibe Ihnen mit Bezug auf den im Corriere vom 20. Mai erschienenen Artikel von Giulio Giorello. Kommt er auch von einem Autor, den ich aufgrund seiner Klarheit und Tiefgründigkeit oft bewundert habe, so hat er mich doch sehr verwundert. Denn dort wird Wissenschaft und Szientismus schlichtweg verwechselt, so dass es den Anschein nimmt, dass jeder Kritiker des Szientismus zwangsläufig ein Feind der Wissenschaft und der Technik sein müsse. Ja er wird sogar als Obskurantist abgestempelt.
Ich bin Wissenschaftler. Ich habe meine Karriere am Nationalen Institut für Nuklearphysik begonnen und arbeite seit sechs Jahren am Fermi National Accelerator Laboratory, der ersten Adresse für hochenergetische Nukleraphysik in den Vereinigten Staaten. Ich liebe die Wissenschaft (vor allem die Physik) und habe die technischen Höchstleistungen, die die Menschheit zu vollbringen verstanden hat und die sie immer wieder übertrifft, stets bewundert (auf meinem Gebiet versuche ich einen kleinen Beitrag dazu zu leisten). Aber zugleich wende ich mich gegen jeden Szientismus, was Giorello im besagten Artikel als Obskurantismus verteufelt.
Gegen einen Szientismus, d.h. gegen den Anspruch, die ganze Realität mit Hilfe von Methoden in den Blick nehmen und erklären zu wollen, die lediglich für einen Teilbereich angemessen sind, wendet sich schon Hamlet: «Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf der Erde als in deiner Philosophie...». Mir fällt dazu ein Kollege ein, ein Physiker, der mir vor einigen Jahren seine Begeisterung darüber kundgetan hat, in der Mathematik eine Quelle der Gewissheit gefunden zu haben («Endlich!»), bis zu dem Punkt, seine Karriere diesbezüglich auszurichten. Aber die Verwendung jenes Instrumentes, das sich in seinem Beruf als so fruchtbar erwiesen hatte, verstanden als die einzige Quelle der Gewissheit in jedem Bereich der Wirklichkeit, hatte im Bereich der Erziehung seines Sohnes miserable Resultate gebracht. Ich möchte mich nicht in eine Kritik am Szientismus versteigen (dies ist nicht mein Handwerk), aber ich möchte erzählen, was mich bei Kollegen und Freunden mit Trauer und Schmerz erfüllt. Es gibt eine Mentalität, die ich nicht besser erfassen könnte als mit dem Terminus «szientistisch», die dazu tendiert, den Horizont der Wirklichkeit auf das einzuschränken, was wir mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Instrumenten messen und manipulieren können. Diese Reduktion aber erschwert den Lebensweg. Verliebt man sich, so hilft es dem Wachstum der Beziehung nicht, die Liebe lediglich als Frucht einer biochemischen Anziehung zu verstehen. Und noch viel weniger wird es dabei helfen, eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen.
Was Giussani betrifft, den ich kennen lernen durfte, als ich noch in Italien arbeitete, so muss ich sagen, dass ich nie jemanden mit einem solchen Interesse und einer solchen Leidenschaft für die gesamte Wirklichkeit, Wissenschaft und Technik eingeschlossen, vor allem aber mit einem so großen Respekt für die Verwendung der Vernunft getroffen habe wie ihn. Dies reicht so weit, dass einige seiner Beobachtungen über die Beziehung zwischen Methode und Objekt und über die Dynamik der Erkenntnis sich für meine Karriere als Wissenschaftler als außerordentlich nützlich erwiesen haben. Einen Obskuranten kann man ihn nun gerade nicht schimpfen.


Massimo Robberto

European Space Agency and Space Telescope Science Institute, Baltimore (Mariland)

Letzte Woche war ich aus Anlaß der Ehrung von Ed Salpeter und seiner Initial Mass Function in Italien, im Großraum von Siena, und habe zufällig in Ihrer Zeitung den kurzen Artikel von Giulio Giorello mit dem Titel «Don Giussani, genug des Obskurantismus» gelesen. Sei es, weil ich seit langer Zeit Don Giussani kenne und ihm folge, und ein gewisses Echo seines Wirkens auch bei uns in den Vereinigten Staaten zu spüren ist, sei es, weil ich als Wissenschaftler von Beruf mich davon betroffen sehe, ich fühle mich zu einer kurzen Replik verpflichtet. In seinem kurzen Artikel erklärt Giorello, wie der Terminus «Szientismus» als imaginäre Linie Kultur und Geschichte teile. Auf der einen Seite stünden Luther, Christus, Rubbia, der Sinn der Dinge, Wissenschaft und Technik, Kunst und Gutenberg. Auf der anderen Seite Don Giussani, ein gewisser Galimberti, Nationalsozialismus und Kommunismus. Es lohnt sich sicher nicht, irgendeinen Gedanken auf diese einzigartig grottesken Mannschaften zu verschwenden, die Giorello da aufgestellt hat. Aber eines kommt mir dazu doch in den Sinn: Hätte ich gerade wenig Zeit gehabt, den Artikel überflogen und dann umgeblättert, hätte ich eine gewisse Irritation bzw. Aversion gegenüber Giussani und den Seinen verspürt. Vielleicht sind solche Leser die Zielgruppe des Autors. Wer sich selbst gegenüber ehrlich ist, wird - um es wissenschaftlich verbrämt durch die Blume zu sagen - kaum Anhaltspunkte dafür finden, die Anschuldigung des Obskurantismus aufrechtzuerhalten. D.h. diese Anschuldigung geschah grundlos. Der springende Punkt in Giorellos Artikel besteht in der Gleichsetzung von (ich zitiere:) «Wissenschaft und Technik (,die man in der Antike ‚Kunst’ nannte!’) ...  und dem ‚Szientismus’, den Giussani versteht als «eine Auffassung des wissenschaftlichen Forschrittes, die ihn zum Maß erhebt, mit der man jede Form von Entwicklung beurteilt». Giussani scheint mir hier in einem Satz eines der zentralen Axiome der modernen Kultur zusammenzufassen: alles, was die Wissenschaft machen kann, ist per definitionem gut. Ich spreche von der modernen, nicht der zeitgenössischen Kultur, weil es keine Neuigkeit der letzten Jahre darstellt, sondern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt, den Jahren des Triumphs der klassischen Physik, aber auch der berüchtigten ‘Ismen’, Materialismus, Marxismus, ... die «wissenschaftlich» sein mussten, um in den kulturellen Salons Legitimation zu finden. Die Frage ist bekanntlich wieder aktuell seit der Explosion von Biologie und Medizin, von Genetik und Gentechnik.
Wie sehr ein gewisser Szientismus in die allgemeine Mentalität eingedrungen ist, sieht man deutlich an den diffusen Schwierigkeiten, ob und wie die Verwendung des Klonens, der Stammzellen oder bestimmter Techniken zur künstlichen Befruchtung zu beschränken ist. Denn alles ist schließlich und endlich gut, weil es ja eben «wissenschaftlich» ist. So gut es natürlich auch sein mag, dass die Wissenschaft neue Dinge entdeckt und neue Möglichkeiten eröffnet, so folgt doch daraus nicht logisch, dass all diese Dinge gut sein müssen oder dem Menschen letzten Endes zuträglich. Angesichts der Tatsachen ist dies eine naive Annahme, die zahllose Male und oft um einen hohen Preis von der Geschichte widerlegt wurde.