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Hispanidad
Spanien - neues Missionsland
José Miguel Oriol

Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, wie schwach das Bewusstsein des spanischen Volkes ist. Der Zerfall der christlichen Identität in der spanischen Gesellschaft wirkt sich in gefährlicher Weise auch in Übersee aus, in den Vereinigten Staaten wie in Lateinamerika.

Die Ereignisse in Spanien im März dieses Jahres und die Reaktion eines großen Teils der spanischen Gesellschaft darauf, haben einige Aspekte des «Bewusstseinszustands der Spanier» ans Licht gebracht, die nur dank des wachsenden materiellen Wohlstands und der berühmten «spanischen Vitalität» (vgl. Time von Anfang März) bislang verborgen bleiben konnten.
Auf verschiedene Weise zeigt sich ein Zurückweichen vor dem radikalen Islam, das – während wir diese Zeilen schreiben, wenige Monate nach dem Attentat des 11. März und dem ersten politischen Sieg des islamischen Terrorismus über eine westliche Demokratie bei den Wahlen vom 14. März – mit spitzfindigen Argumenten verteidigt wird. Dieses Zurückweichen zeigt die stark geschwächte Selbstachtung des spanischen Volkes, das aufgrund des unleugbaren wirtschaftlichen Fortschritts während der achtjährigen Regierung des Partito Popolare den Anschein einer «fröhlichen und sorglosen» Vitalität erweckte, aber schließlich unsere Geschichte und unsere Tradition verraten hat, die gewiss pluralistisch, aber zugleich einheitlich und fest verankert im christlichen Glauben ist, der Jahrhunderte lang das Rückgrat unserer Nation war. Diese unsere Identität wird heute, und schon seit langem, in Schulbüchern, im Kino, in der Kunst, im Fernsehen, in der Literatur, von der großen Mehrheit unserer Schriftsteller und Journalisten mit Füßen getreten. Deshalb ist Spanien heute das schwächste Glied des Westens. Der radikale Islam hat das klar erkannt.

Bezugspunkt für Amerika
Dennoch, Spanien bleibt auch ein Angelpunkt für die Zukunft des christlichen Glaubens in ganz Amerika, im Norden und im Süden. Warum? Weil Spanien vom amerikanischen Kontinent als Bühne und Spiegel betrachtet wird und der spanische Katholizismus als Hauptdarsteller auf dieser Bühne (auch wenn er zunehmend an Bedeutung verliert). Die Gründe für diese Verbundenheit reichen in die Geschichte zurück, liegen aber nicht so sehr auf institutioneller oder kirchlicher Ebene als vielmehr im Volk aufgrund tausender familiärer Bindungen und Beziehungen auf Gebieten wie Ausbildung, Finanzen, Politik, Wirtschaft, im Bereich der Unternehmen, Universitäten, Entwicklungsdienste, Missionsorden und -kongregationen, den Medien usw.
Das Universum der 300 Millionen Spanisch sprechenden, auf vielfältige Weise miteinander verbundenen Personen bildet die menschliche Basis der ‘Hispanität’, die wir auch soziologische Hispanität nennen könnten. Aber ist der Begriff Hispanität auch noch als eine geschichtliche Einheit mit einer eigenen, im Wesentlichen katholischen Identität lebendig? Nein. Das spanisch sprechende Amerika wie das Portugiesisch sprechende erlebt (ähnlich wie Spanien) einen Prozess des Zerfalls, der Zersplitterung und Schwächung der eigenen Identität. Die Hauptfront dieser Schlacht, bei der es um die Zukunft geht, liegt in Mexiko, das mit seinen mehr als hundert Millionen Einwohnern und Emigranten tatsächlich bereits die größte Spanisch sprechende Nation ist.

Injektion von außen
Was also können die spanischen Christen heute zu einer Wiederbelebung dieser Hispanität beitragen? Sehr wenig. Heute ist das spanische Christentum erschöpft, höchste Priorität der spanischsprachigen Christen ist, wenigstens zu überleben, zu arbeiten, zu studieren und die eigene Erfahrung in der demokratischen Gesellschaft aufmerksam, klug und entschieden zu stärken, einer Gesellschaft, die es zweifellos entscheidend mitgeformt hat, die es aber heute auf erdrückende Weise in Wort und Bild aus der Welt der Kultur verweist.
Es ist keine Neuigkeit, dass Spanien unter christlichem Gesichtspunkt Missionsland ist. Schon seit vielen Jahren ist das so (längst vor dem berühmten «Übergang zur Demokratie», dem Franco-Regime, dem Bürgerkrieg). Der engagiertere Teil der spanischen Kirche stimmt darin überein, dass der spanische Katholizismus von außen einer kräftigen Injektion an neuer Lebenskraft (an gelebtem, bedachtem und öffentlich gezeigtem Glauben) bedarf, um in Übereinstimmung mit dem II. Vatikanischen Konzil wieder aufzublühen. Dass diese Injektion eher aus Italien als aus Frankreich oder Deutschland kommen würde, das hätte sich vor dreißig Jahren kaum einer vorstellen können. Doch der italienische Katholizismus (oder wenigstens ein Teil davon) erweist sich zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts als der einzige Rest der Christenheit, der fähig ist mit den Menschen unserer Zeit einen Dialog über bedeutsame Fragen aufzunehmen, intellektuelle Neugier zu erregen, ein moralisches Interesse und den Wunsch, das Abenteuer des eigenen Lebens mit anderen zu teilen.

Kulturell würdevolle Formen
Don Giussani ist eine der Schüsselgestalten, die es verstanden hat, zusammen mit den großen römischen Päpsten, die Gott der Kirche – und damit auch Italien – in den letzten Jahrhunderten geschenkt hat, ein Christentum, «das interessiert» zu vermitteln. Es ist kein Zufall, dass er schon vor vielen Jahren betonte, dass «eine Tradition oder ganz allgemein eine menschliche Erfahrung nur in dem Maß die Geschichte herausfordern und im Strom der Zeit Bestand haben kann, in dem es ihnen gelingt, sich auf eine kulturell würdevolle Art und Weise auszudrücken und mitzuteilen» (Luigi Giussani, Was ist und was will Comunione e Liberazione?) Und genau das ist es, was seit langer, vielleicht zu langer Zeit dem spanischen Katholizismus fehlt.