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«Alles geben»
Paola Ronconi

Das, was ein Mensch wirklich will, zeigt sich nicht bei der Arbeit, im Studium, also bei dem, was er machen muss, in den Usancen und gesellschaftlichen Zwängen. Es tritt vielmehr darin zu Tage, wie er seine Freizeit nutzt.
Deswegen sind die Sommerferien in der Bewegung seit den Anfängen vor 50 Jahren ein ganz besonders wichtiger Moment, eine Gelegenheit, bei der man seine Zeit so verbringt, wie man will, gemäß dem Ideal, das man in seinem Leben als vorrangig anerkennt.
Ein Bericht über die Ferien mit Don Giussani in den 1960er Jahren und ein Gespräch mit ihm über die Freizeit.

Die zwei Ordensschwestern Gelsomina und Silvana erzählen von ihren ersten Ferien mit GS, der Schülergruppe um Don Giussani, aus der später CL hervorging.

Mailand. Wir befinden uns vor dem Konvent der Schwestern der Kongregation der Carità dell’Assunzione, was auf deutsch etwa soviel heißt wie ‚Die Liebe der Aufnahme in den Himmel’. Hier war von 1965 an für viele Jahre die Wohnung von Don Giussani. In einem Raum des Konventes treffen wir Schwester Gelsomina und Schwester Silvana. In den frühen 1960er Jahren teilten sie die Schulbank am Mailänder Berchet-Gymnasium und waren Schülerinnen von Don Giussani. Die Faszination, die er während des Unterrichtes ausstrahlte, hatte sie dazu gebracht, sich ihm anzuschließen und im Sommer 1961 seinem Vorschlag zu folgen, gemeinsam eine Woche in den Bergen zu verbringen.
«Wir gingen zum Karerpass im Trient in den Dolomiten», erzählt uns Gelsomina. «Ein Teil von uns, darunter auch ich, war weiter talwärts untergebracht, in Vallonga, weil wir nicht alle in einem Hotel Platz fanden. Das Niveau der Ferien war anspruchsvoll. Bezeichnend an den Treffen mit Giussani war, dass wir aufgefordert wurden, sowohl zu Hause, wie auch in den Ferien stets alles zu geben.» Was war damit gemeint, was kann das heißen für 15-16jährige Jugendliche?
«Nun, es gab nicht eine einzige Minute, die bedeutungslos gewesen wäre.» erklärt Gelsomina. «Man begann früh am Morgen mit dem Gesang der Laudes, darauf folgte die Heilige Messe. Jeden zweiten Tag gab es eine Bergwanderung. Zuerst leichte Wanderungen, dann anstrengende Bergtouren. Dabei ging es vorwärts im Gänsemarsch, alle im Gleichschritt, schweigend. Das Schweigen war ganz von der Beziehung unter uns und dem was wir drum herum zu sehen bekamen erfüllt. Don Giussani pflegte zu sagen: ‘Die Schönheit der Berge ist ein Zeichen, die gesamte Realität ist ein Zeichen. Deswegen muss man beim Wandern Stille halten.’»
An den schwierigsten Wegstellen halfen die Erfahrensten den anderen; diejenigen, die am schlechtesten dran waren, gingen vorweg. «Ich erinnere mich noch, dass einmal eine Gruppe völlig erschöpft zurückgeblieben war. Pigi Bernareggi kam die Idee, durch Pfeifen den Schritt vorzugeben, und schaffte es, sie als erste auf den Gipfel zu führen, ohne sie zu ziehen oder sie physisch zu unterstützen, sondern einfach indem er ihnen den richtigen Takt zu atmen vorgab.»
Am Ziel wurde gesungen. «Die Worte der Lieder brachten einen Reichtum zum Ausdruck», bekräftigt Gelsomina, «da gab es nichts zu interpretieren: Jedem Wort entsprach eine Realität, eine Erfahrung. Bestimmung. Gemeinschaft. Freiheit. Wir mochten diese Worte verstehen oder nicht, aber sie waren kein vager Widerhall einer momentanen Stimmung oder einer ausgeklügelten Theorie. Damals, als wir sangen, hatten die Worte der Lieder Gewicht. Mir fallen ganz viele ein: oft waren es Psalmen. Es war die Zeit von Gélineau (einem Jesuiten, der 1953 auf Französisch ein Psalmbuch über die Bibel von Jerusalem verfasst hat, A.d.R.).» Silvana: «Ja, als wir sangen: ‘Meine Zunge soll am Gaumen kleben bleiben, wenn ich dich je vergessen sollte’, haben wir das wirklich wie eine Sache um Leben und Tod erlebt. Die Psalmen erschlossen uns unsere eigene Erfahrung.» «Das Berglied ‘La Ceseta de Transaqua’» , wirft Gelsomina ein, «drückte unsere Liebe zum Ideal aus, das, wofür sich das Opfer lohnt. Der Wächter-Hymnus aus Assisi stellte die Bestimmung, das Volk, das Ziel vor Augen, weswegen wir zusammen waren, das Wachen über der Stadt. Und wir verstanden, dass wir in die Welt gesandt waren. Wir hatten die gleiche Verantwortung wie das Volk, das diesen Hymnus geschrieben hatte. Alles, wirklich alles half uns, uns im Leben zu orientieren.»
Weil es das Leitmotiv von Don Giussani war, keine Zeit zu verschwenden, wurden auch die Fahrten im Bus sinnvoll genutzt. «Dort unterhielten wir uns beispielsweise über unsere Klassenkameraden. ‘Der da ist doch auch sehr aufgeschlossen, schlagt ihm vor mitzumachen’, sagte er uns. Oder er sprach von den Lehrern und ihrer feindseligen Haltung der Kirche gegenüber. Wir saßen auf den Sitzen übereinander, damit uns ja kein Wort entging. In dem Maße, wie unsere Vertrautheit wuchs, wuchs auch die Ahnung für die Erhabenheit des Geheimnisses, an dem wir Anteil hatten. Und das wachsende Gespür für das Geheimnis ließ die Gemeinschaft mit Don Giussani noch weiter anwachsen. Er stieß bis ins Innerste der Dinge vor, nichts blieb außen vor. Ich denke oft an die unermessliche Wonne dieser Augenblicke.» «Aber auch an die Aufmerksamkeit, die wir füreinander hatten und die sich bis auf Einzelheiten erstreckte», fährt Silvana fort. «So wie beispielsweise als auf einem Ski-Ausflug im Winter einer seine Leih-Skier kaputt gemacht hatte und kein Geld hatte, sie zu bezahlen. Don Giussani zahlte alles – mit seinem Geld, nicht mit dem des Gemeinschaftsfonds.»
Die beiden Schwestern berichten von einer Vielzahl von Ausflügen, Spielen und den berühmten abendlichen Sketchen, mit denen die Ferien angefüllt waren. Silvana erinnert sich an die Ferien im Jahr zuvor, bei Alba di Canazei: «Dort hat uns Don Giussani, Abend für Abend, Stück für Stück, das Buch Mariä Verkündigung von Paul Claudel vorgelesen. Wir hingen an seinen Lippen, durch diese Seiten erklärte er uns unser Leben.» Ab einer gewissen Uhrzeit abends war Stille. Und die war heilig. «Don Giussani vergab uns alles, aber er ließ nicht zu, dass wir die erlebte Zeit der Schönheit und der Nachfolge irgendwie ruinierten», erläutert Gelsomina.
So lebte man die ganze Woche zusammen, doch mit den gemeinsamen Ferien war nicht alles vorbei. «Da waren zum Beispiel die Bücher», sagt Gelsomina, «es gab da eine Liste empfohlener Bücher für die Ferienzeit, und darunter, jedes Jahr, ein ganz Besonderes, von dem man eine Zusammenfassung an Don Giussani schicken sollte. Ich erinnere mich an das Buch von Charles Moeller, Griechische Weisheit und das christliche Paradoxon, oder Die christliche Lektüre der Bibel von Celestino Charlier. ‘Wenn Ihr das nicht macht’, sagten die führenden Köpfe unter uns, ‘setzt ihr eure Teilnahme in Varigotti (fünf gemeinschaftlich verbrachte Tage vor dem Beginn des neuen Schuljahres, die sogenannte Schüler-Woche) aufs Spiel!’ Zwar hat sich diese Drohung für niemanden je verwirklicht, aber wir haben diese Zusammenfassung immer gemacht.» Doch damit nicht genug. Silvana: «Giussani forderte uns auf, unseren Freunden und Gefährten regelmäßig zu schreiben, als missionarische Geste, um die Beziehungen aufrecht zu erhalten und um die erlebte Erfahrung im Laufe des Jahres nicht zu verlieren. Für mich war das ziemlich lästig, aber ich habe das gemacht. Ich hatte mich sogar verpflichtet, einen Brief pro Tag zu schreiben.» Und weiter: «Tägliches Gebet des Stundengebetes und die Treffen in den jeweiligen Urlaubsorten: Es war für uns ganz natürlich, wenn wir irgendwo hin in Urlaub fuhren, dort sofort jemanden von der Gemeinschaft aufzusuchen.»
Das also war damit gemeint, «alles zu geben». «Dieser berühmte Satz der heiligen Katherina (‘Gebt euch nicht mit den kleinen Dingen zufrieden. Er, der Herr, will große Dinge’) begleitete uns überall, und Giussani hat uns seither stets mit dieser Ausrichtung leben lassen.»
Ob es auch heute noch, 50 Jahre später, möglich ist, die Sommermonate so zu verbringen? Der Faszination, die dahinterstand, kann man jedenfalls immer noch begegnen.