Herausforderung - Erziehung
Die Kunst der befreienden Einflußnahme
Onorato Grassi
Die heftige Polemik, die der Vortrag des
Erzbischofs von Bologna hervorrief, hat die von ihm aufgezeigten Perspektiven
in den Hintergrund gedrängt. Voreilig verlegte man sich auf seine Aussagen
zum Nihilismus und die anderen philosophischen Anspielungen. Die eigentliche
Frage aber, die der Vortrag aufwirft («Ist es möglich zu erziehen,
ohne in die Wirklichkeit einzuführen? Oder besser: ist es vernünftig
zu erziehen, ohne in die Wirklichkeit einzuführen?») und die Antwort,
die er versucht («Der einzige vernünftige erzieherische Vorschlag ist
meiner Meinung nach jener, der in der Einführung der menschlichen Person
in die Wirklichkeit besteht») kommen ebenso zu kurz wie die
Hinführung zum Problem: dass nämlich Erziehung unmöglich sei,
weil sie außerhalb des Bereichs des Denkmöglichen liege. Erziehung
sei, so der Erzbischof, heute nicht mehr möglich, weil die Bedingungen
fehlten, sich darunter etwas vorzustellen, und dies nicht weil es an
äußeren Einrichtungen oder dem guten Willen fehlte. Der Grund, so
bemühte sich Caffara zu zeigen, liegt in dem Verlust der Kategorie
‘Wirklichkeit’. Kritiker des Erzbischofs hätten bemerken
müssen, dass mit diesem Begriff der Erziehung eine Objektivität
zugesprochen wird, die sie gerade von jeder Indoktrination unterscheidet. Ohne
die Öffnung des Geistes für die Wirklichkeit verlieren Erziehung und
Unterricht ihren Kontext und schweben frei im Raum. Aber noch auf einen
weiteren Punkt zielt der Vortrag ab. Erziehung und Bildung sind nicht, wie oft
vertreten wird, allein politischen oder geistigen Eliten zu überlassen. Es
kann also nicht genügen, die allgemeine Erziehung nur auf die Verteidigung
der individuellen Freiheit auszurichten, wie sie mit dem sogenannten harm
principle (Schadensprinzip) von John Stuart Mill vorrangig geworden ist und
demgemäß niemand in das Leben eines anderen eingreifen darf,
außer um ihn vor Schaden zu bewahren (nicht aber um seines Wohles
willen). Charles Taylor (vgl. Die Formen des Religiösen in der Gegenwart)
bemerkt hinsichtlich dieses Prinzips, dass es einst zurückgewiesen wurde,
weil es einen Libertinismus befördere, heute aber «allgemein
anerkannt» werde und gleichsam zur «Leitformel des vorherrschenden
expressiven Individualismus» geworden sei. Das Verbot, Einfluß auf
das Leben anderer zu nehmen, hat ohne Zweifel auch heute die Funktion, vor der
geistigen Vereinnahmung der Individuen durch die (politische) Macht zu
schützen. Und doch hat diese berechtigte Sorge und die dazugehörige
Haltung, Beziehung nur um der Abwendung von Schaden zuzulassen, mittlerweile
dazu geführt, Beziehung zu etwas eigentlich Undenkbaren werden zu lassen -
und damit Erziehung zu etwas Unmöglichem. Denn was ist Erziehung anderes
als eine gewisse Einflußnahme, die im anderen eine Dynamik auslöst,
die sonst kaum oder gar nicht auszulösen wäre? Die Größe
und Genialität echter Erziehungsgabe besteht darin, die Freiheit des
anderen zu potenzieren und zu diesem Zweck die Einflußnahme freiheitlich
zu gestalten. Das Wagnis dieser Einflußnahme jedoch muss eingegangen
werden. Das bringt das Leben so mit sich, da wir Menschen uns und
unseresgleichen tendenziell leider immer als Einzelgänger betrachten, die
für die sie umgebende Wirklichkeit und die anderen nicht wirklich offen
sind.
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