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Herausforderung - Erziehung
Eine notwendige Herausforderung
Carlo Caffarra

Wenn ‘Wirklichkeit’ zur Floskel wird und ‘Freiheit’ zur Flucht vor der Entscheidung und überdies das Zeitgefühl abhanden kommt, dann stellt sich die Frage: Wie kann Erziehung wieder möglich werden? Auszüge aus dem Vortrag von Carlo Caffara. Bologna, 29. April 2004

1.Zeitdiagnose
Ich nehme an, dass alle mir bei folgender Feststellung zustimmen werden: «Niemals zuvor hatte unser Umfeld, das heißt das mentale Klima und die Lebensweisen, die uns umgeben, derart despotische Einflussmöglichkeiten auf unser Bewusstsein wie heute. Mehr als je zuvor werden wir von unserer Umwelt in all ihren Ausdrucksformen geprägt bzw. mit aller Macht verbogen.» (L.Giussani, Porta la speranza. Primi scritti, Genua 1998, S. 16). Dieses Umfeld macht meiner Meinung nach erzieherisches Handeln unmöglich, weil sie jedes Verständnis für Erziehung unmöglich macht. (…)
Erziehen heißt, «eine Person in die Wirklichkeit einzuführen» (vgl. L.A. Jungmann, Christus als Mittelpunkt der religiösen Erziehung, Freiburg i.B. 1939, S. 20). Man führt eine Person nicht in die Wirklichkeit ein, wenn man sie nicht in die Bedeutung der Wirklichkeit einführt. Bedeutung meint hier die Antwort auf die beiden grundlegenden Fragen, die sich der Person stellen, wenn sie mit der Wirklichkeit in Berührung kommt (der heilige Thomas spricht von apprehensio entis): Was ist das, was ist? (die Frage nach der Wahrheit der Wirklichkeit). Und: Welchen Wert hat das, was ist? (Frage nach der Güte, dem Wert, der Wirklichkeit)? Eine Person wird in die Wirklichkeit eingeführt, wenn sie die Wahrheit und den Wert der Wirklichkeit selbst erkennt und infolgedessen die Wirklichkeit sinnvoll deuten kann. (…) Nur wenn der Mensch mit der Wirklichkeit in Beziehung treten kann, und zwar in eine Beziehung, die von unserer Erkenntniskraft und der vernunftbestimmten Sehnsucht hergestellt wird, welche die Person empfänglich machen für die Wirklichkeit, die sich ihrerseits der Erkenntniskraft und der Sehnsucht der Person als Gut darbietet, dann und nur dann ist erzieherisches Handeln denkbar und durchführbar, soll Erziehung «Einführung in die Wirklichkeit» bedeuten. Die gegenwärtige Kultur (die sogenannte Postmoderne) leugnet die Möglichkeit solch einer grundlegenden Beziehung: es gibt keine Wirklichkeit, die es zu deuten gilt. Es existieren nur Interpretationen der Wirklichkeit, über die man kein wahres Urteil treffen kann, da es ja nicht auf etwas Objektives bezogen sei. Wir seien gefangen im Dickicht unserer Deutungen der Wirklichkeit, ohne jeden Ausweg zur Wirklichkeit selbst.
Genau hier liegt die Herausforderung für den Erzieher. Erzieherische Arbeit ist heute nicht wirklich möglich, wenn sie nicht diese Herausforderung angeht und sich nicht als radikale und totale Alternative zur beschriebenen Leugnung einer ursprünglichen Beziehung der Person mit der Wirklichkeit versteht. (…)
Daraus folgt zum einen: Wenn «es keine Fakten gibt, sondern nur Interpretationen» (F. Nietzsche), wird es unmöglich, etwas Wahres über sie zu sagen. Jede Interpretation und ihr Gegenteil sind gleichermaßen gültig. Die Wirklichkeit ist einfach die Menge aller Interpretationen, das Spiel von Interpretationen. Das heißt: es ist sinnlos, sich die Frage nach der Wahrheit überhaupt zu stellen.
Daraus folgt aber zum andern auch: Freiheit verliert ihren Sinn. Man beraubt sich ihres dramatischen und grandiosen Gehaltes, weil man sie im Leben auf reine Willkür verkürzt (ich enthalte mich hier jeder ethischen Wertung). Willkür bedeutet: ein Verständnis von Freiheit, für das Freiheit nichts anderes ist, als die freie Wahl aus einer unbegrenzten Anzahl von Möglichkeiten, die alle gleichwertig sind, da man es mit nichts zu tun hat, das einen objektiven Sinn hat. (…) Diese Auflösung der Freiheit in pure Wahlmöglichkeit erzeugt bei den Kindern und Jugendlichen eine Art spiritueller ‘Müdigkeit’: Die Wüstenväter nennen dies die «Traurigkeit des Herzens». Sie spiegelt sich heute auf den Gesichtern vieler unserer Kinder und Jugendlichen wieder.
Schließlich folgt daraus auch: Der Sinn für die Bedeutung des eigenen Lebens, näherhin für die eigene Lebensgeschichte verflüchtigt sich: das Zeitgefühl geht verloren. Die vergehende Zeit wird nicht mehr als günstige Gelegenheit erfahren (das Neue Testament spricht vom kairós), dank der ein Mensch innerhalb der Zeit wachsen und reifen kann. (…)
Gianni Vattimo hat die neue Auffassung von Erziehung, die der eingangs erwähnten entgegensteht, so auf den Punkt gebracht: «Der Versuch, in einer Welt, in der Gott tot ist, ohne Neurosen zu leben.» (vgl.: Al di la del sogetto. Nietzsche, Heidegger e l’ermeneutica, Milano 1981, S. 18). (…).
Diese Art von Erziehung muss der Person einen Lebensstil nahebringen, der sich als Antwort auf zwei in der Tat unvereinbare Bedürfnisse versteht.
Einerseits will die ohne Verbindung zur Wirklichkeit lebende Person frei sein – im abstrakten Sinn des Wortes. Sie bevorzugt es deshalb, ernste Entscheidungen so weit wie möglich hinauszuschieben und macht jede Endgültigkeit einer Entscheidung lächerlich: Sie spricht der Existenz ihren Wirklichkeitsbezug ab und damit auch den Wirklichkeitscharakter der Freiheit. Frei zu sein bedeutet mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch, «ich habe gerade nichts zu tun» bzw. «ich habe gerade nichts vor». (…)
Auf der anderen Seite steht man, ist das Subjekt einmal derart auf sich selbst zurückgeworfen und spricht jedem aus der Wirklichkeit stammenden normativem Sinngehalt die Berechtigung ab, vor dem Problem, eine Verbindung zu den anderen herzustellen. Kann es gelingen, von diesem Freiheitsverständnis aus zu einer echten menschlichen Gemeinschaft zu erziehen? Bestenfalls wohl zu einer ‘schwachen’ Gemeinschaft, die keinen wirklichen Bestand hat.(…)
Die Existenz eines in der Wirklichkeit begründeten Wertekosmos kann man sich nicht mehr wirklich vorstellen, ebensowenig wie die endgültige Hingabe seiner selbst für andere. Was aber meint man dann, wenn man noch von Erziehung für das Leben in der Gesellschaft spricht? Man meint Erziehung zur Toleranz. Fragen wir uns, was dieses soziale Schlüsselwort eigentlich meint. Welche Art von Beziehung legt es nahe? Dass Andersartigkeit, dass Verschiedenheit etwas Neutrales ist: die Tatsache, dass die Anderen da sind, hat in und für sich gesehen keine Bedeutung. Der tragische Nihilismus hielt die Existenz des Anderen sogar für ein absolut negatives Faktum: «Die Hölle, das sind die anderen.» (Sartre). Die Heilige Schrift hält sie für ein eminent wichtiges Faktum, denn «es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.» Der fröhliche Nihilismus unserer Tage stuft sie einfach als bedeutungslos ein. (…)

2. Eine Antwort auf die Herausforderung
Wenn die Dinge so stehen, muss man sich als Erzieher fragen: ist es möglich zu erziehen, ohne in die Wirklichkeit einzuführen? Oder besser: ist es vernünftig zu erziehen, ohne in die Wirklichkeit einzuführen? Der einzige vernünftige erzieherische Vorschlag ist meiner Meinung nach jener, der in der Einführung der menschlichen Person in die Wirklichkeit besteht.
Bevor ich die Wahrheit dieser Behauptung darlege, muss ich klären, was ich mit ‘vernünftig’ meine. Ich meine damit ganz einfach eine Haltung, die die gesamte menschliche Erfahrung berücksichtigt und ihr gerecht wird, ohne etwas außen vor zu lassen. (…)
Schon Aristoteles bemerkte, dass das geistige Leben des Menschen mit dem Staunen beginnt. Und einer der großen Kirchenväter, Gregor von Nyssa, schreibt: «Vorstellungen bringen Idole hervor, nur das Staunen erkennt.» (Über das Leben des Mose, PG44, 377B). Staunen über was? Sich wundern über was? Über die Wirklichkeit: dass dort ‘etwas’ existiert und nicht nichts. Über die Tatsache, dass ich bin.
Warum erzeugen das erfahrbar Wirkliche und auch mein eigenes Sein Staunen und Verwunderung? Weil es keinen Grund in mir selbst dafür gibt, dass ich überhaupt existiere: Niemand ist notwendig. (…)
Ist es möglich, diese dem Herzen des Menschen innewohnende radikale Frage auszulöschen? Ist es richtig, sie zu entkräften und zu zensieren? Oder sollten wir sie nicht besser ernstnehmen und nach einer Antwort suchen? Diese Frage nährt das grundlegende Verlangen unseres Lebens, die Sehnsucht (wie Augustinus sagt: der Mensch ist Sehnsucht). Wir könnten es auch Verlangen nach Wirklichkeit, Sehnsucht nach dem Sein nennen. (…).
Warum aber nährt diese Frage den Wunsch nach dem Sein? Weil sie die Begrenztheit meines Daseins und zugleich die Unbegrenztheit des Seins belegt. Jeder von uns existiert als begrenztes Wesen in einer begrenzten Welt, aber sein Verstand ist geöffnet auf das Unendliche hin; auf das ganze Sein. Das beweist uns diese Unzufriedenheit, die wir ständig erfahren. Deswegen ist die ‘Lage’ der menschlichen Natur paradox: sie lebt, ontologisch gesehen, unter zerbrechlichen Bedingungen und kostet doch die Güte des Seins, eines Seins, das sie nicht besitzt. Daher ihr Wunsch nach Wirklichkeit, nach Glückseligkeit. Eine Person in die Wirklichkeit einzuführen (zu erziehen) heißt, sie der Glückseligkeit entgegenzuführen.
Der erzieherische Gegenvorschlag, von dem ich gesprochen habe, verurteilt genau diesen Wunsch nach Wirklichkeit als unsinnig und blockiert so die Suche nach einer Wirklichkeit, die diesem Wunsch entspricht. Er löscht jedes Verlangen nach dem Geheimnis aus, jede Suche, die der Sehnsucht nach Erfüllung entspringt. Worum es also bei der Frage der Erziehung geht, ist unsere Auffassung vom Menschen und der Grund, aus dem wir ihn für etwas Besonderes halten.