«Nicht weil wir uns am Ziel wähnen, machen wir Fortschritte, sondern weil wir uns beständig nach ihm ausrichten»
Weil wir uns nicht am Ziel wähnen... Ein Ziel, ein Ursprung, eine Gegenwart
Alberto Savorana
Notizen von einer Sitzung des Teams zur Vorbereitung des Meetings 2004.
Eine Anregung zur Auseinandersetzung mit dem diesjährigen Leitmotiv.
«Nicht weil wir uns am Ziel wähnen, machen wir Fortschritte, sondern
weil wir uns beständig nach ihm ausrichten.“ Mit dem
diesjährigen Leitmotiv befasste sich das Vorbereitungskomitee des Meetings
bei einem Treffen im Mai. Das Wort ‚Fortschritt’ stand dabei im
Mittelpunkt. Einige Anregungen zum besseren Verständnis und zur eigenen
Auseinandersetzung.
Ein Ziel
Offensichtlich kann man von Fortschritt nur
in Bezug auf ein Ziel sprechen, das es zu erreichen gilt.
Doch auf ein Ziel zugehen und dabei stets
das Bewusstsein aufrechterhalten, dass man noch nicht angekommen ist, kann man
nur, wenn der Weg auf irgendeine Weise das Ziel enthält, denn sonst
wäre das Leben eine endlose Frustration.
Aus diesem Grunde wurde in der
Ankündigung des Meetings (vgl. hierzu die Spuren-Ausgabe vom Januar 2004)
das Bild vom Menschen als Pilger, als viator, der auf dem richtigen Weg
unterwegs ist, gezeichnet.
Nun ist das Ziel, das sich Schritt für
Schritt zu verwirklichen beginnt, kein Werk des Menschen, woraus folgt, dass es
nicht in erster Linie darauf ankommt, besonders charakterfest oder reif zu
sein, um nach dem Ziel streben zu können.
Weil wir aber in der Gewissheit unterwegs
sind, mit der Wahrheit auf dem Weg zu sein, und diese Wahrheit uns richtet,
hören wir gerne allen zu und lernen von ihnen. Das ist es, worauf es
christlicher Kultur ankommt, die – wie der heilige Paulus sagt –
alles prüft und seinen Wert bewahrt.
Ein Anfang
Damit es möglich ist, zu einem Ziel
aufzubrechen, bedarf es eines Ausgangspunktes. Das Christentum verkündet,
wo dieser Anfang zu machen ist: es verkündet eine Tatsache, die der
Geschichte eine Richtung gibt, ja mit der die Geschichte ihren Anfang nahm, wie
Eliot in seinen Choruses of ‘The Rock’ schreibt.
Deshalb fordert das Christentum, das einen Anfang
und überhaupt Geschichte ermöglicht, den zeitgenössischen
Nihilismus heraus, der einen Anfang, einen Weg und ein Ziel als unmöglich
erachtet und den Lebensweg des Menschen als ein sinnloses Umherstreifen
betrachtet.
Geschichtsbewusstsein ist nicht etwas, das
sich mit der Aufklärung durchgesetzt hat. Es ist vielmehr die Folge eines
Ereignisses, das sich vernehmbar machte, und zum Beginn einer Entwicklung
wurde, die uns als ‚Tradition’ erreicht: als ob man voranschreite
und dabei immer von der Kraft der Erinnerung angetrieben würde.
Der Verdienst
In dem Buch Der religiöse Sinn
unterscheidet Don Giussani Fortschritt im Sinne von Zukunft und Erfolg vom
Fortschritt im Sinne von ‚Verdienst’: in diesem letzteren Sinn
meint Fortschritt die Entfaltung dessen, was bereits existiert.
Alle modernen Ideologien haben den Menschen
getäuscht, wenn sie ihm abverlangten, sich für einen zukünftigen
Fortschritt zu opfern, für die herrliche Zukunft, welche die nachfolgenden
Generationen erleben würden. Das Christentum hingegen macht keine solchen
Versprechungen; es spricht vielmehr vom Verdienst. Zwar wird auch hier
gefordert, das Leben für etwas Größeres einzusetzen, aber immer
damit das Leben hier und jetzt aufblühe. Woran erkennt man letztlich, dass
die Kirche glaubwürdig ist? An den Früchten erkennt man den Baum: Nur
in der christlichen Erfahrung erfährt der Mensch am eigenen Leibe
wofür er gemacht ist. Und die Geschichte dokumentiert, dass Christus in
dieser Welt gesiegt hat.
Fortschritt bedeutet die Entfaltung einer
Positivität, die Entfaltung von etwas, das gegeben ist und das gut ist.
Fortschritt meint also nicht die Füllung einer Leere: die ganze Moderne
hat auf die Behauptung gesetzt, dass der wissenschaftliche Fortschritt und die
Technik Unwissenheit, Ungerechtigkeit und Krankheit zum Verschwinden bringen würden und der Mensch dann
glücklich sein werde. Aber gerade die geschichtlichen Folgen dieser
Annahme diskreditieren diese Idee des Fortschritts. In der unmittelbaren
Nachkriegszeit meinte Churchill gegenüber Befürwortern einer
völligen (wissenschaftlichen) Beherrschung des Menschen: «Ich werde
mich glücklich schätzen, zu diesem Zeitpunkt bereits tot zu
sein.»
Die Hoffnung
Geschichte spielt sich in einem
gegenwärtigen Ereignis und nicht in einem utopischen Traum ab. Deshalb
stellt der Titel des Meetings besonders auf die christliche Tugend der Hoffnung
ab: sie ermöglicht es, in Freiheit allen zu begegnen, erlaubt eine
Offenheit, die den Wert jedweder Erfahrung zu schätzen weiß. Der
heilige Paulus stellt fest, dass er danach strebt, zu ergreifen wovon er
seinerseits ergriffen wurde: Fortschritt ergibt sich aus der Freude über
etwas, das uns bereits gegeben wurde.
Mit dem Bösen rechnen
Allein im Christentum lässt sich die
Erfahrung machen, dass von Fortschritt gesprochen wird, ohne das Böse
dabei aus dem Auge zu verlieren, während überall sonst
Fortschrittsideen das Böse stets zensieren oder leugnen, zumindest jedoch
nicht mit ihm rechnen. Ich, der ich des Bösen fähig bin, bin von
etwas Positivem ergriffen worden, das mich von Hoffnung zur Hoffnung schreiten
lässt, das mich ‘ausrichtet’.
Der Anfang vom Ende
In der christlichen Auffassung von
Fortschritt steht das Ziel am Anfang. Die Möglichkeit, auf das Ziel
zuzugehen, besteht, weil das Ziel sich schon am Anfang des Weges befindet.
Deshalb verlegen wir die Möglichkeit des Glücklichseins nicht in die
Zukunft.
Die aktuelle kulturelle, gesellschaftliche
und politische Situation zeugt ganz offensichtlich von einem gewaltigen
Rückschritt. Nur ein gegenwärtiges und lebendiges Ereignis, das das
Ziel beständig an den Anfang setzt, erlaubt, sich an die Arbeit zu machen,
ohne zu verzweifeln. Besonders in einer Zeit, in der die Ideologie des Fortschritts
den Westen, Europa und die Welt zum Einsturz zu bringen droht.
Infos zum Meeting
Das Meeting findet seit 1980 jedes Jahr
statt und ist mit bereits über 700.000 Teilnehmenden das größte
Kulturfestival der Welt. Von Anfang an hat es sich als internationale
Veranstaltung verstanden, auf der Zeugnisse und Erfahrungen verschiedensten
Ursprungs aufeinandertreffen. In zweieinhalb Jahrzehnten hat das Meeting im
freien und offenen Dialog mit Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und
Glauben drängende Fragen aufgegriffen und die Möglichkeit geboten,
bedeutenden Zeitzeugen zu begegnen.
Das Meeting bringt die Dankbarkeit für
die ungeschuldet zu Teil gewordene Begegnung mit Christus zum Ausdruck.
Tausende freiwillige Helferinnen und Helfer jeden Alters und Ursprungs stellen
gratis Zeit und Energie dafür zur Verfügung. Weil diese Personen
zugleich Mitwirkende und Zuschauer sind, entwickelt sich ein intensives
kulturelles Gespräch.
Das Meeting beginnt mit der Heiligen Messe
am Sonntagmorgen und endet mit der Abschlusskundgebung am Samstagnachmittag. Es
ist täglich von 11 bis 24 Uhr geöffnet; der Eintritt ist frei, mit
Ausnahme einiger Konzerte. Es finden Podiumsdiskussionen, Vorträge,
Theateraufführungen, Konzerte und Filmvorführungen statt.
Jeden Tag wird eine deutschsprachige
Führung durch eine der Ausstellungen angeboten oder eine Veranstaltung
gedolmetscht. Auch für weitere
Ausstellungen/Veranstaltungen können
jederzeit Übersetzer besorgt werden.
Auf dem Meeting werden ferner folgende Ausstellungen gezeigt:
An der Quelle der Energie. Vorräte der
Natur für den Weg des Menschen. Energie als faszinierendes Geschöpf
mit vielen Gesichtern.
Die Essenz der Geschichte. Manzonis
Verlobte neu gelesen. Die Sinn, der den Menschen aus seinem Elend erlösen
kann. Manzoni akzeptiert keine Antworten, die nicht aus dem Fleisch und Blut
der Erfahrung stammen, nicht einmal wenn sie der katholischen Lehre entstammen.
Der hl. Bernhard, renovator seculi. Die
Rolle des Heiligen in der Reform von Kirche und Gesellschaft: Erneuerung des
Mönchtums, Beziehung zu Päpsten, Ritterschaft, Judentum,
Kreuzzügen, Marienverehrung.
Cézanne. Der Ausdruck des Seienden
ist eine Aufgabe ohne Ende. Leben und Werk des Künstlers: ruhender
Bezugspunkt in Zeiten des Umbruchs.
Die Dolomiten. Spektakuläre
Wiedergeburt eines Archipels. Geologischer Hintergrund, Landschaft, Menschen.
Fotoausstellung.
Einstein 1905. Ein Genie bei der
Arbeit. Wie Mut und Freiheit
angesichts der Probleme zu einer Revolution führten. Wie oft in der
Wissenschaft: Die Ergebnisse gehen weit über die Ausgangshypothesen hinaus.
Die vergessene Schönheit. Reise durch
den Glanz der Liturgie. Entdeckung ihres tiefen Sinns. Der liturgische Raum ist
vor allem anderen ein Raum, wo jede Geste ein Zeugnis der Gastfreundschaft ist.
Good Rocking Tonight. 50 Jahre Geschichte des Rock.
Der High-Tech-Handwerker. Geschichten der Innovation.
Beyond Tragedy: Glaube und Apartheid in der
Geschichte der Afrikaner. Die Vision des deutsch-amerikanischen Theologen
Reinhold Niebuhr: Ideal der Gerechtigkeit und menschliche Grenzen.
Die Wiedergeburt der Favelas Brasiliens.
Ein Fall von weltweiter Bedeutung. Bilder und Zeugnisse der AVSI.
Wandern auf einem Mondstrahl. Der
Fortschrittsmythos und die Erwartung des Anderen bei Michail Bulgakov, einem
der größten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts, fälschlicherweise
als a-religiös angesehen.
Einer jeden Sache guter Richter ist die Zeit.
Die Auffassung von Geschichte im Altertum: zwischen Fortschritt und Fall.
Wozu dient die Mühe des Menschen? Antwortsuche in der
griechisch-römischen Welt.
Leben und dabei aufsteigen. Der Selige Alberto Marvelli.
Bewusstes Leben und Wirken als Laie, radikal und konkret in der Geschichte.
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