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Editorial
Maria, die erste Zeitgenossin Jesu
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Auf der Titelseite des Wirtschaftsmagazins The Economist war kürzlich die Gottesmutter Maria zu sehen – als Frau, die bei Juden, Christen und Muslimen Achtung genießt. Sean O’Malley, der neue Erzbischof von Boston, griff dies zu Beginn eines Vortrags in Minneapolis auf, in dem er Giussanis Buch Warum die Kirche? vorstellte. Der Medienrummel um Mel Gibsons Film Die Passion Christi reißt seit Wochen nicht ab. In Paris kamen Literaten aus aller Welt zusammen, um sich damit zu befassen, wie Dante in seinem Hymnus an die Jungfrau die Gottesmutter darstellt. Carlo Ossola, Mitglied des Collège de France, hielt dazu einen beachteten Vortrag. Auch in München beschäftigte man sich jüngst bei einer Lectura Dantis wieder mit der Gottesmutter.

Die Gestalt Christi wie die seiner Mutter Maria scheint zur Zeit wieder besondere Beachtung zu erfahren. Sicher, es ist nicht das erste Mal, dass sich Intellektuelle, die Medien oder das Kino mit ihnen auseinandersetzen. Doch wurde in letzter Zeit das Religiöse doch allzu sehr als Weltanschauungsfrage abgetan, als Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls verkauft. Auch gelebter christlicher Glaube erschien da bloß als Variante der New Age-Strömung, bestenfalls als eine Moralphilosophie, die uns in unserem Verhalten zu prägen beansprucht.

Doch Jesus und Maria verlieren nicht ihre Anziehungskraft. Irgendwie ahnt man wohl – und sei es noch so vage –, dass in Jesus und der Frau, die ihn in ihrem Schoß trug, die größte Revolution der Weltgeschichte ihren Ausgang nahm. Deshalb fehlt es nicht an Versuchen, sie sich zu vergegenwärtigen, sie unserer Zeit nahe zu bringen, sie in Beziehung zu setzen zu unserem persönlichen Glück oder Unglück: Irgendwie sehnt man sich nach Jesus und Maria, will sie bei sich haben im Alltag, will in unangenehmen Situationen auf sie vertrauen können, will ihre Gegenwart verspüren, die uns zu menschlicheren Menschen macht, die Kraft gibt zu Neuanfängen.

Zeitgenossen Christi zu sein ist jedoch das Privileg der Glaubenden: im Glauben erkennen wir Seine Gegenwart an. Wäre dem nicht so, dann handelte es sich beim Glauben um nicht mehr als eine fromme Autosuggestion. Kierkegaard sagt dies ganz deutlich, wenn er in seinem Tagebuch schreibt: «Eine ethische Beziehung zu etwas Großem (und daher auch zu Christus) setzt Gleichzeitigkeit voraus. Die Beziehung, in die wir uns zu einem Verstorbenen versetzen, ist rein ästhetischer Natur: sein Leben hat den Stachel verloren, richtet mein Leben nicht mehr, erlaubt Bewunderung ... überhaupt läßt sich damit ganz anders umgehen: ich werde nicht gezwungen, ein endgültiges Urteil zu treffen».

Imagination ermüdet, Freundschaft hingegen erbaut. Das sakramentale Leben der Kirche und die in ihr mögliche Freundschaft sind der Ort, an dem sich Christus zu unserem Zeitgenossen macht.

Den Sinn der Kirche erfasst man existentiell, wenn man auf eine bestimmte Art der Freundschaft stößt. Denn sie ist der Höhepunkt des Lebens der Kirche. Seit den Tagen, als die ersten Christen unter dem Tor Salomons in Jerusalem zusammenkamen, war es die Freundschaft unter ihnen, die für offene Geister Anlass zur Bekehrung war, für Übelgesonnene hingegen Grund zur Abkehr. Immer wieder sind es Freundschaften, die das Angesicht der Kirche in aller Welt erneuern.

Anders als jede andere Art von Freundschaft baut diese Freundschaft nicht auf einem spezifischen Nutzen oder der gegenseitigen Entsprechung Gleichgesinnter auf. Es ist eine Freundschaft, die das Böse in uns und um uns herum nicht zensiert, es sich nicht gegenseitig anrechnet. Vielmehr baut diese Freundschaft ganz darauf – so hat es Erzbischof O’Malley in Minneapolis formuliert –, dass es immer und überall (sei es im privaten Leben oder beim politischen, sozialen und kulturellen Engagement) leichter ist, «das eigene Ja zuzulassen», wenn Gott gegenwärtig ist.

Auch für Maria, die erste Zeitgenossin Jesu, war es so.