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Zeugnisse
Mein «Ja» zu Annas Geheimnis
Mario Dupuis

Die Anerkennung einer geheimnisvollen Gegenwart verändert den Alltag und führt zur Entdeckung des Sinns des Lebens. Dies führt zu einer Art von Begeisterung, die ein ganzes Volk hervorbringt, das christliche Volk. In ihm dokumentiert sich der Sieg des Lebens über die Bedrohung durch das Nichts. Das Zeugnis eines christlichen Vaters.

Lieber Don Giussani,
laß Dir für die vergangenen 34 Jahre der Begleitung in meinem Leben danken! Ich erinnere mich noch an Deinen Gesichtsausdruck, als ich Dich 1981 bat, anderen die Verantwortung für die Bewegung zu übertragen. Damals war meine Tochter Anna gerade geboren und die ersten Jahre mit ihr waren alles andere als leicht. Ich bin Dir unendlich dankbar, daß Du damals verstanden hast, daß ich mich nicht vor der Verantwortung drücken, sondern ganz dem unerwarteten Ereignis innerhalb meiner Familie widmen wollte. Denn auch dies hatte zutiefst mit dem Leben der Bewegung zu tun.
Seither wurde mir immer klarer, daß ‚die Bewegung’ nichts anderes ist als ein ‚Sichzubewegen auf Christus’ bzw. die Anerkennung, daß das Geheimnis gegenwärtig ist in unserem Leben, daß es in ganz unterschiedlichen und unerwarteten Momenten „anklopft“ und daher eine besondere Art von Freundschaft nötig macht: eine Freundschaft, die nicht auf unserem Willen beruht, gemeinsam etwas zu bewirken, sondern auf der Anerkennung, daß Er unter uns wirkt.
Mit der Zeit habe ich in mir immer stärker den Wunsch nach Leben verspürt. Nicht etwa weil ich Kraft brauchte, um im Namen Jesu bestimmte Dinge zu tun, sondern weil ich Jesus innerhalb der konkreten Umstände des Alltags erkannte. Insbesondere in den Umständen, die unsere Tochter Anna peinigten, und die mir schmerzhaft meine Grenzen vor Augen führten.
Als ich noch Verantwortlicher von Padua und der Region Veneto war und Dir oft dieses oder jenes Problem vortrug, sagtest Du mir einmal: „Blicke auf Deine Tochter Anna und treffe in diesem Augenblick deine Entscheidungen.“
Heute ahne ich, daß mir in Anna andere Kriterien an die Hand gegeben wurden als die Üblichen, weil Anna das Geheimnis als etwas Gegenwärtiges bejahte: sie legte kein Maß an, suchte nicht ihren Vorteil, sicherte sich kein ‚Zurück’. Denn was sie immerzu bejahte, war das göttliche Geheimnis; und sie bejahte es nicht irgendwie nebenbei, um damit etwas zu ‚bewirken’, nein: sie tat es mitten im Leben. Das zwang einen förmlich, es selbst – zumindest versuchsweise – auch so zu tun.
Noch klarer wurde mir dies, als Du uns sagtest, wir sollten uns nicht an der äußeren Erscheinung einer Person aufhalten, die uns möglicherweise nicht paßt, sondern durch sie hindurchschauen, bis wir verstehen, was sie wirklich ausmacht. Das, was uns nicht paßt, wird nicht verschwinden, doch es wird Zeichen für das geheimnisvoll Andere werden: Welche Liebe und Hingabe erwächst dann für diese Person! Eine Liebe und Hingabe, die unweigerlich unser Handeln beeinflussen wird. Ich glaube, dies ist die wirkliche Caritas, die Anerkennung des Geheimnisses in der Wirklichkeit.
Es ist der Tatsache zu verdanken, daß wir Dir auf dem langen Weg dieser Entdeckung gefolgt sind, daß das Werk ‚Cà Edimar’ (‚Haus Edimar’) hier in Padua entstehen konnte. Das ‚Haus Edimar’, das sind zwei Familien mit zusammen 13 Kindern, zu denen während des Tages 30 bis 40 weitere kommen. Sie stammen großteils aus Familien, die nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern. Wir nehmen sie völlig vorbehaltlos auf, ganz so wie sie sind; dabei vertrauen wir darauf, daß sie uns, wie unsere eigenen Kinder, aus einem ganz bestimmten Grund gegeben sind: damit wir die Erfahrung des SEINS machen können, das „darum bittet, anerkannt zu werden“ – und zwar innerhalb der alltäglichen Umstände. So hast Du es uns im vergangenen Jahr in Deinem ‚Brief an die Fraternität’ geschrieben. Ich sage immer, ‚Haus Edimar’ ist uns gleichsam gegeben, um dem Geheimnis Gesellschaft zu leisten, das von den Jugendlichen, die wir aufnehmen, noch nicht erkannt wird und um den Jugendlichen Gesellschaft zu leisten, die dieses Geheimnis noch nicht erkennen und anerkennen können.
Was ‘Haus Edimar’ so großartig macht, sind nicht die Zahlen oder Ergebnisse. Vielmehr zeigt sich für uns und auch für andere ständig neu, daß es möglich ist, das Geheimnis innerhalb der Wirklichkeit und der Umstände anzuerkennen. Dies erzeugt eine wirkliche Leidenschaft und Menschlichkeit für alle, insbesondere für diese Kinder, von denen keiner mehr wirklich etwas vom Leben erwartet.
Den Sozialdiensten würde es genügen, wenn wir tolle Projekte für sie aufziehen würden. Aber in diesen Kindern und Jugendlichen, die uns gegeben wurden, klopft das Geheimnis an unsere Tür und bittet: „Erkenne mich doch an!“. Und damit werden sie für immer zu einem Teil von dir. Und deswegen tun wir auch für sie, was immer möglich ist. Und das heißt, wie Du einmal gesagt hast, wirklich alles, was immer uns möglich ist.
Ich weiß nicht, wie lange das Werk ‚Haus Edimar’ Bestand haben wird und ob es noch größer werden wird. Das einzige, was mich interessiert, ist, daß in diesem Haus die Liebe Christi erfahrbar werde, und zwar indem wir einander die Andersheit verzeihen. Denn darin läßt Er sich von uns lieben, so wie wir in diesem Augenblick gerade sind. Das ist etwas, das wir von Dir gelernt haben: es ist das Ja, das Petrus zu Christus sprach, obwohl er sich für unwürdig hielt.
Die Jugendlichen, die wir aufnehmen, stellen uns die Andersheit, von der ich sprach, kontinuierlich vor Augen. Das hilft uns, auch keine Angst mehr davor zu haben, selbst in der Beziehung zu der eigenen Frau und den eigenen Kindern nicht mehr vor der Andersheit zu flüchten. Ich kann nur bestätigen, was du sagst: „Man kann sich nicht inniger umarmt fühlen als wenn man diese Art von Verzeihung erfährt.“
Angesichts der Großartigkeit all dieser Dinge und unserer eigenen Armseligkeit (wir sind nur Zwerge auf den Schultern eines Riesen, wie Du so oft gesagt hast), brauchen wir beständige Hilfe und Trost, um nicht wieder dem Anschein der Dinge zu verfallen. Genau das aber würde geschehen, wenn wir uns nur darauf beschränken würden, gute Taten zu vollbringen, etwa Leute von der Straße aufzulesen. Das ist zwar keineswegs gering zu achten... doch nicht in erster Linie dafür sind wir auf der Welt!

Dankbar grüßt,
Dein Mario

Padua, den 3. September 2004