Schönheit
Ein singendes Volk
Pippo Molino
Ob es sich nun um Volksliedgut, mittelalterliche Lauden oder polyphone
Gesänge handelt, um De Victoria oder Mozart: Der Gesang hat in der Bewegung
von Anfang an eine fundamentale Rolle gespielt, denn er erlaubt es, bestimmten
Wahrheiten des Menschseins auf besondere Weise Ausdruck zu verleihen.
Vor wenigen Wochen heirateten zwei Freunde von uns. Bei der Trauung konzelebrierte
Don Pigi Bernareggi, der als einer der ersten in die Mission nach Brasilien
gegangen und dann auch dort geblieben ist.
Nach der Kommunion sang der Chor (Mitglieder des Mailänder Chores von CL)
das Ave Maria von De Victoria. Zufällig fiel, nachdem der letzte Ton
verklungen war, mein Blick auf Bernareggi, und ich sah, daß er sehr froh
war. Das hat mich sehr berührt, denn – wie er mir später erzählte
- hatte er den Mailänder Chor aus diversen Gründen seit vielen Jahren
nicht mehr live singen hören und seinen Worten entnahm ich, daß er
offensichtlich keinen Unterschied zu dem Chor gesehen hatte, den er vor vielen
Jahren das letzte Mal gehört hatte, d.h. dann eigentlich auch zu dem aus
der Anfangszeit.
Mir scheint dies sehr aussagekräftig,
wenn ich heute, nach 50 Jahren seit Entstehung der Bewegung, einige
Überlegungen zum Gesang anstellen möchte, den Don Giussani immer als
grundlegend für die Erfahrung und als wesentliches Element für die
Erziehung der Person angesehen hat. Er selbst erzählte bei einem Treffen
mit einigen Leuten, die für die Lieder verantwortlich sind: “Als wir
das erste Mal gemeinsam die Messe feierten, war das auch die Geburtsstunde des
Gesangs in der Bewegung (…). Zehn Minuten vor Beginn der Messe begann
ich, den Schülern Vero amore è Gesu (Jesus ist wahre Liebe) und O
cor soave (Du süßes Herz) beizubringen. Ich unterstützte den
Gesang durch Bewegungen mit den Händen, wie es mein Lehrer im
Priesterseminar getan hatte (…), ich sang und sie folgten mir.“ So
begann der Gesang zu einem wichtigen Moment in unserer Erfahrung zu werden.
Worin besteht seine Eigenart, was zeigt sich in unserer Weise zu singen, auf
die Giussani so großen Wert legt?
Eine besondere Sensibilität
Die Begabungen, die die Einzelnen - seien
es nun die Solisten, der Dirigent, der Komponist oder der Gitarrist –
mitbringen, sind natürlich nicht völlig zu vernachlässigen, aber
sie sind nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist vielmehr eine ganz bestimmte
Sensibilität dafür, worauf der Gesang verweisen will, was Don
Giussani bei vielen Gelegenheiten immer wieder im Detail beschrieben und
erläutert hat, in bestimmten Musikstücken und Liedern wiederentdeckt
oder auch in der Ausführung korrigiert hat. Was auch mich persönlich
immer am meisten am Gesang in der Bewegung fasziniert hat, ist gerade,
daß er eine bestimmte Wahrheit des Menschseins zum Ausdruck bringen will.
Don Giussani hat diese Wahrheit natürlich in vielen Stücken der Musikgeschichte
entdeckt; dazu befähigt einen eine Sensibilität, die die Wahrheit der
Erfahrung, die man als Christ und als Mensch macht, in einem weckt. Schon immer
haben uns ganz bestimmte Aspekte beim Gesang besonders entsprochen, wie etwa
daß Lieder aus einem Volk heraus entstehen (z.B. die russischen Lieder),
aber dann auch die Form des Gesangs, die noch am besten eine Religiosität
wiederzugeben vermag, die von jedem leicht wahrgenommen werden kann und die
auch stark an ein Volk gebunden ist, aus dessen Erfahrung sie hervorgegangen
ist: ich meine die mittelalterlichen Lauden sowie die polyphonen Lauden aus der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts so wie auch alle großen Werke
der Musik jeder Epoche; die großen Werke der Musikgeschichte sind
für alle (wie De Victoria, Mozart, der gregorianische Gesang usw.).
Aufmerksamkeit für jedes Detail
Wenn unser Gesang eine bestimmte Wahrheit
des Menschseins ‚transportiert’ - was mir schon als
Vierzehnjährigem bewusst wurde, als ich den Chor der Schüler um Don
Giussani die ersten Male singen hörte, und auch heute immer noch geschieht
-, dann weil Don Giussani persönlich (und in letzter Zeit Don Pino) uns
darin geschult hat. Das, was er damals vor 50 Jahren zu den Liedern sagte, war
der Anfang; aber auch später war es immer wieder beeindruckend, sein
Urteil zur Auswahl der Lieder zu hören, wie klar seine Vorstellung davon
war, welcher Solist genau dieses oder jenes Lied vorsingen solle oder ob es
besser vom Chor gesungen würde, wann genau es während der Versammlung
oder ob es erst bei der Messe zu singen sei und auch wie das Lied gesungen
werden solle. Obwohl ich selber Musiker und Komponist bin, also selbst eine
gewisse Begabung und Berufserfahrung mitbringe, habe ich diese Hinweise nie als
demütigend empfunden, sondern – wie alles, was in der Bewegung
gesagt wird - als Ausdruck der Wahrheit einer christlichen oder auch
menschlichen Erfahrung. Dem anderen diese mitzuteilen ist übrigens nichts
anderes als Ausdruck einer als Urteil gelebten Freundschaft.
Im Mai 1987 sprach Don Giussani bei einer Chorprobe
folgenden Wunsch aus: „Das Privileg der Erfahrung, die ihr beim Singen
macht - vor allem was das Bewußtsein und die Liebe anbelangt, die
während des Singens in euch, in eurem Leben und eurer Beziehung zu Gott
sowie in der Liebe zur Gemeinschaft heranreifen -, trage dazu bei, daß
ihr an diesem Dienst immer größeren Geschmack finden
mögt.“ Bei allen Mühen und Problemen – die natürlich
damit verbunden sind - wächst dieser Geschmack tatsächlich jedes Mal,
wenn wir zusammen singen bzw. wenn sich der Chor trifft. Ebenso wächst
eine echte und tiefe Freundschaft unter uns als Weggefährten. Darüber
hinaus entsteht der Wunsch, an diesem Erbe – das zuweilen wie Worte oder
mehr noch als Worte Verweis auf etwas Größeres ist - alle Freunde
der Gemeinschaft auf der ganzen Welt teilhaben zu lassen.
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