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Erfahrung
„Nach seiner Ankunft war nichts mehr wie vorher“
Claudio Risé

Der bekannte Psychoanalytiker, Professor, Journalist und Schriftsteller Risé erzählt von Don Giussani vor 50 Jahren am staatlichen Berchet-Gymnasium, wie er in die Klasse hineinstürzte, unterrichtete, und bohrende Fragen stellte: «Das Christentum besteht einzig und allein aus einem Faktum, einer Begegnung. Derjenigen mit Christus. Was denkt ihr darüber? Habt ihr Ihn getroffen? Wollt ihr Ihm begegnen, ja oder nein? War er wirklich Gott? War er ein Betrüger, ein Verrückter? Euer ganzes Leben hängt von der Antwort ab, die ihr auf diese Fragen gebt»

Mit 16 wollte ich auf eine «öffentliche Schule». Ich wollte die Welt der Schüler und Lehrer sehen, die mir bisher verborgen geblieben war in den behütenden Schulen, die mich bis dahin aufgenommen hatten. Es mangelte mir nicht an Erfahrungen. Aber eine war wesentlich: Sie betraf das Sich-selbst-Verschenken und das Glück.
Ich erinnere mich, daß der Mann an seinem ersten Schultag bei uns mit schnellem Schritt eintrat, so als hätte er keine Minute zu verlieren. Ganz anders als die anderen Lehrer – selbst die guten! –, die erst in die Klasse kamen, nachdem sie, ins Gespräch miteinander vertieft, unendlich oft den Flur auf und abgegangen waren. Sie rissen sich nur mühsam los, so daß sie die Pause endlos verlängerten. Währenddessen mußten wir in der Klasse auf sie warten. Wir plauderten unsererseits, ohne aber Lärm zu machen, so daß für die Schulleitung alles ganz normal schien.
Der Mann in der Soutane war unser neuer Religionslehrer, soeben eingetroffen am Berchet-Gymnasium, der Hochburg des weltlichen Bürgertums. Er schaute uns lächelnd an, man verstand, daß er uns mochte. Er hatte keine Komplexe. Meine Mitschüler, Kinder aus der Schmiede der Mailänder Intelligenz, sahen ihn anfangs überheblich an. Denn es war klar, daß ihn die äußere Eleganz und die gekünstelte Art des gebildeten Bürgertums überhaupt nicht interessierten, daß er sie als eine Art Schutz vor etwas anderem, tiefergehendem, betrachtete.

Der Mann aus Desio
Für mich dagegen war es genau das, was mich bei der ersten Begegnung interessierte. Der Mann aus Desio, dessen Name Luigi Giussani war, hatte eine Art spontaner Wildheit, er war außergewöhnlich vital und archaisch (auch im körperlichen Kontakt, der voller Schulterklopfen, Handschlägen und Boxereien war). Und dies in einer Umgebung, in der die Zivilisationsneurosen schon in der Luft lagen und die Klassen, den Unterricht, die Pausen, die Freundschaften und die Liebesbeziehungen erfüllten. Ich erinnere mich an seine Ankunft als eine Art Wirbelsturm, nach dem in der Schule nichts mehr war wie vorher, weder für die anderen noch für mich. Er gab sich hin, ohne etwas zurückzuhalten, um unser Herz, das schon leichte Versteinerungsschichten aufwies, zum Schlagen zu bringen. Sein Interesse hatte nichts Mütterliches an sich, er war nicht darum besorgt, uns zu beruhigen, unsere Zustimmung zu erhalten. Er war eher ganz offenkundig ein junger, anspruchsvoller Vater, der uns fast bis zur Qual dazu aufforderte, alles aus uns rauszuholen, mutig zu sein, uns hinzugeben, so wie er es tat. Er verlangte von uns, nicht geizig zu sein, weil das zu einem Mangel an Gefühl und zu einer geistigen und intellektuellen Armut führte. «Holt das aus euch raus, was in euch steckt», donnerte er. Und drang noch weiter auf uns ein, indem er uns Abschnitte aus dem Evangelium ins Gedächtnis rief, die schon damals nicht populär waren: «Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat» (Mt 13,12; 25,29).

Vital und wild
Dieses Bestehen auf dem Reichtum, den es aus sich herauszuholen und hinzugeben galt, gefiel mir sehr, zusammen mit seiner Wildheit. Endlich ein Priester, der das Christentum als eine Religion des Reichtums und des Ausgebens vorstellte, während alle anderen es als eine Art von gigantischer tausendjähriger Caritas darstellten, besessen von der Armut und dominiert vom Gebot der Bedürfnisbefriedigung. Dieses offizielle Christentum (ganz anders als das von Giussani, der in der Tat bald darauf nach Amerika geschickt wurde) war Lichtjahre von der Leidenschaft derjenigen Sehnsucht entfernt, die für mich das Wichtige war (und mir schien, daß dies auch für Jesus der Punkt war: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein...»).
Dem Priester aus Desio hingegen ging es überhaupt nicht darum, daß wir uns mit grundsätzlichen moralischen Positionen exponierten. Das Christentum – darauf beharrte er –, ist weder Moral noch Diskurs, noch Philosophie oder ein Lehrgebäude. Ihn interessierte etwas viel Anspruchsvolleres, Persönlicheres, etwas, das viel aufregender war, jedenfalls für mich. Das Christentum, so drängte er, besteht einzig und allein aus einem Faktum, einer Begegnung. Derjenigen mit Jesus Christus. Einem Mensch, der von sich selbst sagte, daß er Gott ist. Und an diesem Punkt wurde er eindringlich. Er war nicht bereit, locker zu lassen: «Was denkt ihr darüber? Habt ihr Ihn getroffen? Wollt ihr ihm begegnen, ja oder nein? War er wirklich Gott? War er ein Betrüger, ein Verrückter? Euer ganzes Leben hängt von der Antwort ab, die ihr auf diese Fragen gebt. Schon deshalb, weil ihr Jesus jeden Tag begegnen könntet, wenn ihr es nur wollt.»
An diesen bohrenden Fragen des Priesters (so jedenfalls nahm ich sie wahr) spaltete sich die Schule. Viele, meist diejenigen, die eine gut-katholische Erziehung genossen hatten, hingen enthusiastisch dieser Verkündigung eines Gott-Menschen an, lebendig und fleischlich. Er gab ihnen die Möglichkeit, dadurch, daß sie ihn (wieder)verkündeten, aus jeder menschlichen Begegnung eine heilige Begegnung zu machen, erfüllt von derselben Energie und sinn-voll. Wer eine weltliche Erziehung genossen hatte, ließ sich manchmal davon berühren - und setzte auf das, was er vorgeschlagen bekam, um seine Wahrheit zu prüfen. Häufiger jedoch bediente man sich der Mittel, die man in solchen Fällen griffbereit hatte: Positivismus, Idealismus und Marxismus dienten dazu, die Frage als Märchen aus dem Weg zu räumen, oder das Ganze wurde als krankhafte Vision dargestellt, die die Kirche wiederholt, um sich selbst zu erhalten.
Was mich anging, spürte ich dunkel, daß die Frage des Religionslehrers, «des Gius» (wie ihn diejenigen nannten, die begonnen hatten, ihn zu lieben), mit dem Einsatz des empfangenen Lichts zu tun hatte. Es ging darum, endlich die Art und Weise zu finden, dieses Licht zu verwenden, es wieder in Umlauf zu bringen, diesmal für die anderen.

Eine eindringliche Frage
Ich hatte keine Zweifel in Bezug auf Jesus, dessen Fleisch und Blut ich suchte, seit ich es konnte, also seit der Ersten Kommunion. Diese eindringliche Frage jedoch: Was machst du aus dieser Begegnung, wie teilst du sie den anderen mit, wie stellst du sie in die Mitte deines Lebens, diese Frage also brachte mich in große Schwierigkeiten. Sie irritierte mich zugleich, sie war eine aufwühlende Gegenwart geworden, so wie ein Mädchen, in das du dich verliebt hast, mit dem du es aber nicht wagst, weiterzugehen, weil du spürst, daß es eine Geschichte für das Leben sein könnte.
Und so hältst du dich zurück. Schließlich brauchte ich nicht lange, um in dem Gewirr von Interessen und mit Widerwillen zu verstehen, daß ich schlicht und einfach diese Begegnung mit Jesus nicht verkündete. Sicher, ich war nicht schlecht, ich tat nicht bewußt etwas Böses, oder zumindest versuchte ich, es nicht zu tun. Ich liebte das Leben, die anderen Leute, oft war ich auch großzügig. Aber nicht in dieser Sache, in der Verkündigung meiner Begegnung mit dem Gott-Menschen. Die behielt ich für mich.
Ich hatte noch nicht aufgehört, meine Zurückhaltung, die ich noch gar nicht als solche erkannt hatte, zu pflegen. Es ging ja außerdem um meine persönlichen und auch egoistischen Freuden, auf die ich nicht verzichten wollte, selbst wenn ich zugleich auch nicht auf den Leib Jesu Christi verzichten wollte. Ich wollte mich selbst verschenken, und ich praktizierte das dort, wo es mir spontan gelang. Aber ich war nicht bereit, mich Personen und Umständen dann zu schenken, wenn es mir schwer gefallen wäre.
Das Licht war angekommen, aber ich war immer noch ein junger Mann aus großbürgerlichem Hause, der sich in erster Linie vergnügen wollte. Die bürgerlichen Konventionen waren ein Weg, den ich noch bis auf den Grund gehen mußte, auch wenn mir im Laufe der Zeit gerade die armselige, gekünstelte Art immer lästiger wurde und sie mich schließlich – endlich – entsetzte. Das führte dazu, daß ich meine ganze Arbeit, sowohl auf dem Gebiet der Psychologie als auch im Bereich der Sozialwissenschaften, der Enthüllung der Krankheitsbilder und der Zerstörungskraft bürgerlicher Konventionen widmete.
Und dennoch, sagt Carl Gustav Jung, kann niemand sein Glas abstellen, bevor er es nicht geleert hat. Ich bin dazu sicher nicht in der Lage gewesen. Es ist ein Problem, das Glas zu leeren und – wenn die Flüssigkeit eine gewisse Dosis Gift enthält – zu überleben.