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Ökumene - Interview mit Kardinal Angelo Scola
Einheit! Die Sache des Volkes
Roberto Fontolan

Ökumene, so der Patriarch von Venedig, ist eine innere Dimension des christlichen Glaubens. Deshalb ist der eigentlich Handelnde in der Ökumene auch das heilige Volk Gottes.

Was meint Ökumene, wenn nicht die Begegnung von Menschen? Abgesehen von diversen, durchaus nötigen Formfragen und oftmals abstrakten Prinzipien, kann der Dialog und die erreichbare prophetische Einheit der Religionen – welche auch zwischen Christen und Nicht-Christen möglich ist, weil sie in einem gemeinsamen religiösen Sinn wurzelt – nur in einer Erfahrung gründen, in einer Freundschaft und einer gemeinsamen Geschichte. In dieser Hinsicht ist Venedig sicherlich als eine der Städte zu betrachten, in denen die Ökumene am Greifbarsten wird: Seit einem Jahrtausend verbindet es Ost und West, Süd und Nord, ist eine Grenzstadt, die von vielen besucht wird und in der sich viele auch gern niederlassen. Spuren hat mit dem Patriarchen dieser Stadt über das Thema Ökumene gesprochen.

Was sollen wir heute unter dem Begriff „Ökumene” verstehen?
Der Begriff „Ökumene” bringt eine innere Dimension des christlichen Glaubens zum Ausdruck. Deshalb kann man sagen, daß man unter „Ökumene“ in gewisser Hinsicht sowohl den Dialog mit den Kirchen und christlichen Konfessionen als auch den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen versteht. Wenn es sich um eine Dimension handelt, dann heißt das zugleich, daß alles, was die Gläubigen tun, als „ökumenisch“ angesehen werden kann: die Begegnung mit Jesus Christus, der in seiner Person lebendige Wahrheit ist, bewirkt eine Öffnung der Vernunft und der Freiheit des Menschen; diese Begegnung befähigt die Vernunft und Freiheit des Menschen dazu, zu erkennen und zu beurteilen, wo sich die Wahrheit zeigt.

Dann ist also die Ökumene nicht etwas für Spezialisten?
Zurecht erinnerte der Papst, als er den Patriarchen Theoktist in Rom traf, an die eindrückliche Erfahrung von Bukarest, als das Volk begann „Einheit, Einheit! ...“ zu rufen. Diese Erfahrung hat verdeutlicht, daß der adäquateste Handlungsträger in Sachen Ökumene das heilige Volk Gottes ist.
Gespräche über die Glaubenslehre, gemeinsame Momente und der Austausch zwischen den christlichen Gemeinden haben genauso wie der gemeinsame Einsatz für die Gerechtigkeit, den Frieden und die ganze Schöpfung nur dann ihren Sinn, wenn letztendlich Gläubige aus dem Volk zu Handlungsträgern werden.

Und was bedeutet das für die Christen?
Was die Christen betrifft, so ist dies der einzige Weg, der der Pastoral - das heißt den normalen Umständen des Alltags, innerhalb derer Ökumene geschieht -, Rechnung trägt. Ökumenisch ist jede Handlung der christlichen Gemeinde - die Eucharistiefeier, die Katechese sowie karitative Dienste -, wenn sie das Ganze zum Ausdruck bringt.
So wird es einer richtig verstandenen Pastoral auch möglich sein, angemessene Zeiten und Momente für gemeinsame Aktivitäten der verschiedenen Kirchen und Konfessionen sowie der Familien zu finden, deren Mitglieder unterschiedliche religiöse Positionen haben.

Wie wirkt sich diese Dimension im Alltag des Patriarchen von Venedig aus?
Daß die Kirche in Venedig zur Ökumene berufen ist, ergibt sich ganz klar aus den vielen geschichtlichen Faktoren und den so gewachsenen Beziehungen. Jahrhunderte lang sind Christen verschiedener Kirchen und Konfessionen sowie Menschen anderer Religionen nach Venedig gekommen. Sie haben diese einzigartige Stadt ins Herz geschlossen und sich - angesprochen von der unternehmerischen Kreativität ihrer Bewohner, denen die Stadt ihre Jahrhunderte lange Machtposition verdankt - hier niedergelassen. Aber nicht nur die Geschichte, auch die Tatsache, daß viele christliche Schwestern und Brüder gegenwärtig hier leben, drängt die Kirche in Venedig zu bewußterer Ökumene.
Unsere Berufung zur Ökumene ist auch die Voraussetzung für den interreligiösen Dialog, zu dem uns die Geschichte und die Präsenz unserer älteren jüdischen Schwestern und Brüder, jene der muslimischen Einwohner sowie aller anderen religiösen Gruppierungen bewegen. Darüber hinaus haben wir im Venedig der säkularisierten Gesellschaft von heute auch all denen gegenüber einen Auftrag, die sich als atheistisch oder nicht-religiös bezeichnen bzw. sich so verhalten wollen. – auch das hat geschichtliche und aktuelle Gründe.
Um dieser Berufung nachkommen zu können, ist es Aufgabe des Patriarchen verstärkt darüber nachzudenken, wie diese ökumenische Dimension Vorschlag für den Alltag der Christen werden kann.