Erfahrung
Wahrhaft hilfreich für die Gemeinschaft der Menschen
Giorgio Vittadini
Das Christentum identifiziert sich mit einem Ereignis, das zur eigenen Erfahrung wird,
nicht mit einer Ideologie. Seit fünfzig Jahren bezeugt die Anhänger der
Bewegung, daß man sich für Christus nicht schämen braucht und sagen,
wer Christus ist. Aus diesem Grund ermöglichen sie überall Freundschaft und
geben Grund zur Hoffnung. Ihnen liegt am Herzen, all das, was an Wahrem, Schönem,
Gutem und Gerechtem, in einem jeden steckt, hochzuschätzen.
Wahrhaft hilfreich für die
Gemeinschaft der Menschen: vom ersten Tag ihrer famosen Geschichte suchte die
Christenheit eine andere, menschlichere Art und Weise, miteinander umzugehen.
Die ersten Diakone, zu denen der Hl. Stephan gehörte, kümmerten sich
um die Speisung der Witwen, der schwächsten Mitglieder der damaligen
Gesellschaft. Ebenso haben diejenigen, die dem durch die Bewegung vermittelten
Charisma begegnet sind, eine menschlichere Art und Weise gebracht, auf die
Probleme der Menschen einzugehen. GS (die Gruppe der Schüler um Don
Giussani, A.d.R.) behauptete sich rasch an den Schulen Mailands und fing sofort
damit an, sich für die Demokratie einzusetzen: nicht um ihrer selbst
willen, sondern für eben jene Minderheiten, die – wie es bei den
jüdischen Mitschülern der Fall war –, Gefahr liefen, von der
Schülervertretung ausgeschlossen zu werden. In den Jahren des Kalten
Krieges und der ideologischen Gegensätze schuf GS so in den Räumen
des Berchet-Gymnasiums ein neues Verständnis von Demokratie. Sie überwanden
die Logiken der politischen Lagerbildung, indem sie jeden dazu aufriefen, seine
ureigenen und entscheidenden Fragen ernsthaft ins Spiel zu werfen, um sie dann
mit den Fakten zu vergleichen. Dieser erste Einsatz für eine wahre
Freiheit der persönlichen Entfaltung und für die Demokratie wurden zu
einem Wegweiser für das Leben der Bewegung in diesen fünfzig Jahren:
drei Beispiele aus dieser Zeit sollen dies belegen.
Sehr viele Leute, darunter an aller erster
Stelle der ehemalige italienische Ministerpräsident Andreotti und Cossiga
(ital. Staatspräsident von 1985 bis 1992, A.d.R.) haben mehr als einmal
betont, daß die öffentliche Präsenz der Bewegung in den
Universitäten, ihre Versammlungen, die Beteiligung an den Universitätswahlen,
die „Antlantiden“ (Wandzeitungen) und ihre friedliche
Zurückhaltung von jeglicher Form körperlicher Gewalt,
Verwüstungen der Räume anderer Gruppen und vor Verleumdungen
über die Presse, von grundlegender Bedeutung für die Erneuerung der
Demokratie in unserem Land waren.
Gegen das Pharisäertum
Ebenso verhielt es sich in den
darauffolgenden Jahren in der Auseinandersetzung mit Vertretern neuer Formen
des Pharisäertums, welche wiederholt versuchten, die Gesellschaft in
Schuldige und Unschuldige einzuteilen (vom ‚Marsch der Ehrenhaften’
bis hin zur politischen Instrumentalisierung von Tangentopoli (des großen
ital. Korruptionsskandals, welcher zu einer Reihe von politischen
‚Säuberungaktionen’ und letztlich dem Ende der
christdemokratischen Partei in Italien führte, A.d.R.). Die Antwort der
Bewegung bestand in allererster Linie darin, in Versammlungen, Artikeln,
Büchern und Flugblättern daran zu erinnern, daß Gewalt dann
entsteht, wenn man die eigenen, persönlichen Fehler und die der
Gesellschaft zu verdrängen sucht, anstatt sie ehrlichen einzugestehen, und
stattdessen religiöse oder politische Ideologien konstruiert.
In gleicher Weise war die
Auseinandersetzung zugunsten von „Mehr Gesellschaft, weniger
Staat“, die später in den Einsatz für mehr Subsidiarität
mündete (was schließlich im Jahr 2001 zur Aufnahme des Prinzips der
Subsidiarität in die Verfassung führte), nichts anderes als die
Fortführung jener ersten „Kämpfe“ um die Freiheit auf
wirtschaftlicher und politischer Ebene. Beidesmal ging es darum, die soziale
Kreativität in unserer Gesellschaft zu stärken. Eben dafür
setzen sich auch die vielen Angehörige der Bewegung ein, die in die
Politik gingen, um sich für die öffentlichen Belange einzusetzen und
dort zum Teil einflussreiche Ämter bekleiden. Heute zeigt sich dieser
ununterbrochene Einsatz für Pluralismus und Demokratie in der Arbeit
zahlreicher Kulturzentren und der Organisation des Meetings für die
Freundschaft unter den Völkern in Rimini, das zu einem Ort des
internationalen Dialogs geworden ist und ein rühmenswertes Gegenmodell zur
fragwürdigen Diskussionskultur der Talkshows darstellt.
Mit Blick auf die ganze Welt
Diese Leidenschaft für die Freiheit
eines jeden einzelnen bildet auch die erste Konstante der Haltung und des
Blickwinkels der Bewegung auf die Welt. In den Jahren des Kalten Krieges gingen
hunderte von Personen in die Sowjetunion, um sich mit berühmten Dissidenten
und einfachen Leuten zu treffen. Auf dem Meeting selbst und zu
öffentlichen Tagungen wurden Andrej Tarkowskj (russischer Filmemacher und
Dichter, A.d.R.), Lech Walesa, russische Dissidenten und Freunde von Irina
Alberti (der Sekretärin Solschenizyns, A.d.R.) eingeladen. Verlage wie
Russia Cristiana, Cseo und Jaca Book gaben ihre Schriften heraus, darunter auch
das Buch des späteren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel Versuch
in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen. In besonders
kritischen Situationen des Ost-West-Konfliktes, von den Euromissiles bis zu
Solidarnosc, wurden öffentliche Veranstaltungen organisiert. Derselbe
Einsatz führte aktuell zu unserer Haltung des „Nein zum Krieg, ja zu
Amerika“ mit der wir eine Position einnahmen, die sich gegen die extremen
Ideologien wendet, welche von den Kriegsführenden auf der einen Seite und
den Pazifisten auf der anderen Seite vertreten werden, ein Pazifismus der
letztlich zur Relativierung der Menschenrechte eines Volkes führt.
Genau diese vom Glauben geförderte
Leidenschaft für die Freiheit kennzeichnete die Beziehung der Bewegung zur
ganzen Welt. „Die Dimensionen der Welt erfahren“ lautete der Titel
der ersten Versammlung von GS Mitte der 50er Jahre. Darin wurde der Gewissheit
Ausdruck verliehen, daß das Leben der christlichen Gemeinschaft eine
Neuheit für die Welt darstellt und es daher gilt, dieses überall zu
leben.
Aufbruch nach Brasilien, in die Mission
Anfang der 60er Jahre brachen die ersten
Missionare unter Pigi Bernareggi nach Brasilien auf. Wer dort blieb, auch nach
der Krise von 1968, brachte den Leuten nichts andere nahe, als die Gemeinschaft
von Christen, ihre Form des Zusammenlebens, ihre Kultur und die Fähigkeit
zur Nächstenliebe.
Und wiederum gibt diese so konkret gelebte
Nächstenliebe, die in den Favelas von Belo Horizonte, im Kongo oder auch
in den Slums von Uganda vorgelebt wird, wie von selbst den Blick frei, um die
Tragweite der von ihnen geleisteten Hilfe besser zu verstehen. Eine Hilfe als
greifbare Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen, die sich an der
eigenen Glaubenserfahrung orientiert: „Prüft jede Sache auf
genaueste und macht euch ihren Wert zu eigen!“ Die Früchte des
gemeinsamen christlichen Lebens werden auch in der Gründung von AVSI
sichtbar, ein von Menschen der Dritten Welt und Europäern gemeinsam
getragenes Entwicklungshilfeprojekt. In Kampala entstanden Hilfseinrichtungen
für Aidskranke, in Bukarest ein Kinderkrankenhaus und im Bildungssektor
finden sich in Santiago, Nairobi und Manaus Schulen kleineren und
größeren Ausmaßes. Fast überall auf der Welt konnten wir
kleinere Betriebe schaffen, von einer Schreinerei in Nairobi bis hin zu Team
Service, einer nach italienischem Vorbild in Chile aufgebauten
Putzdienstleistungsgesellschaft. Es sind kleine, aber doch bedeutsame Beispiele
einer Umsetzung des Aufrufs von Papst Paul VI., der sagte, daß „der
wahre Friede den Namen Entwicklung trägt“, sowie der von Johannes
Paul II. verkündeten ‚neuen Form des Zusammenlebens unter den
Völkern’. Hierfür stehen in allererster Reihe auch unsere
Freunde aus der Bewegung in Kasachstan, Brasilien und Nigeria mit ihrer
erfrischend neuen und fröhlichen Art.
In gleicher Weise vermitteln die
zahlreichen Einrichtungen in Italien die eben beschriebene Leidenschaft
für das Leben und den wahren menschlichen Fortschritt. Hilfswerke, wie
Solidarietà di Crosta, Banco Alimentare, Famiglie per
l’Accoglienza und CUSL, beweisen, daß eine an der konkreten Person
erwiesene Liebe bereits eine Antwort auf deren Bedürfnisse gibt, die
für die jeweilige Person sofort greifbar wird. Die über 300 Schulen
und die tausenden von Lehrern in allen Position sind dabei, in Anlehnung an das
Herz-Jesu-Gymnasium in Mailand, Erziehung und Unterricht in Italien mit einer
neuen Sichtweise anzugehen. Auch die über 30.000, der Compagnia delle
Opere (dt.: Gemeinschaft der Werke) angeschlossenen Wirtschaftsbetriebe stehen,
über der Tatsache hinaus, daß sie tausende von Arbeitsplätzen
schaffen, als Beispiel für eine neue Art, den Sinn eines Unternehmens zu
erfassen, um sich so, anlehnend an die Schaffenskraft des Menschen, seiner
Fähigkeit zur Erziehung und der Wertschätzung des menschlichen
Kapitals, offen für Veränderungen und Innovationen zu zeigen.
Es ist kein Zufall, daß das eben
beschriebene Engagement und ganz besonders jener notwendige Dialog über
das Leben, aus dem ‚Seminar der Gemeinschaft’ hervorgeht. Denn das
Seminar schafft eine neue Kultur, die sich als kritisches, alle Faktoren
miteinbeziehendes Bewußtsein einer im konkreten Handeln gewonnenen
Erfahrung erweist. Als einige wenige Beispiele seien die ersten
‚Überprüfungsbögen’ genannt (mit der die
Schullehrpläne kritisch hinterfragt wurden), die in der
Öffentlichkeit geführten Kulturdebatten (Galileo, die Auseinandersetzungen
in der Mailänder Katholischen Universität in den 70er Jahren oder um
die Zeitschrift Il sabato), die kulturelle Zusammenarbeit der Schulen, die
Verlage, die schon angesprochenen Kulturzentren, das Meeting von Rimini, das
Studienkolleg zur Ökumene, die Stiftung für Subsidiarität, sowie
die Einführungen in die Gesellschaftswissenschaften durch die Arbeit von
Euresis und Mensch und Medizin.
Es sind echte, das Leben aller tangierende
Beiträge, die aus der kontinuierlichen Suche nach der Wahrheit und der
Erfahrung eines Lebens als Christ entstanden sind. Es ist also kein Zufall,
daß sich diese Wahrheit der Natur aller Menschen erschließt. Man
sieht das vor allem in den USA, wo eine, gerade in der Bewegung anzutreffende
Offenheit für Neues, Wissenschaft und Technologie, verbunden mit einer Sehnsucht
nach Erkenntnis, uns dort Freunde gebracht hat, wo der Fortschritt dieser Welt
zu Hause ist, von Fermilab bis hin zur NASA in Bethesda, und man Christus
dorthin zurückbrachte, von wo er vertrieben worden war.
Die gemeinsame Liebe für jede Form der
Suche nach einer Wahrheit für den Menschen, ließ Treffen und
Begegnungen mit anderen Religionen entstehen. Durch die gemeinsame Besprechung
der Bücher Don Giussanis sind Freundschaften zu Protestanten entstanden,
wie etwa die mit Archie Spencer. Die brüderliche Verbundenheit mit Juden
und Orthodoxen wurde verstärkt und der Dialog mit Muslimen und Buddhisten
gefördert.
Diese Geschichte trägt zu einem
wirklich wahren Bild vom Menschen bei, das sich unmittelbar an dessen
religiösem Sinn orientiert.
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