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Große Interviews - Pupi Avati
Talent ist ein Geschenk, das jedem gegeben ist. Wir sind alle außergewöhnlich Leben bedeutet, den eigenen Namen zu suchen
Roberto Fontolan

Für den italienischen Regisseur Pupi Avati bedeutet Talent Berufung, Antwort auf einen Ruf. Jeder besitzt ein außergewöhnliches Talent. Man muss es aber entdecken. Es ist so als würde man sich selbst suchen, um zu sagen, wer man ist. Avati berichtet damit vom Kampf gegen den Strom, der für das "System" unbequem ist.

Pupi Avati macht niemals Urlaub. Er arbeitet immer. Derzeit erscheint gerade sein neuer Film. Gleichzeitig beginnen bereits die Dreharbeiten zu einer neuen Produktion. Doch davon später mehr. Regisseure erzählen im Allgemeinen von dem, was sie tun. Doch Pupi spricht lieber von seinen Entdeckungen über das Leben, die dann zum Film, zu seinem "Instrument" werden. "In meinem Labor verwende ich nur mich selbst für die Experimente", betont der schaffensfreudige und lebenshungrige Regisseur. Themen seines Schaffens sind die großen Momente der Geschichte aber auch die Intimität der Familie, die Psychologie und die Liebe zur Provinz um Bologna. Vielleicht genügt auch ihm nicht ein einziges Leben, wie Cioran es ausgedrückt hat. Und vielleicht ist das Kino seine Art, sich mehr vom Leben zusammenzu- holen, mehr davon zu erleben. Es ist gewiss hilfreich, das eigene Ich tiefer zu erkunden, keinen einzigen Widerschein und keine Färbung davon zu versäumen. So will er nun, im Alter von 66 Jahren, über die merkwürdige und eigenartige Dichotomie von Leidenschaft und Talent nachsinnen. Dabei wird sich zeigen, zu welchen Umwälzungen Avatis Nachforschungen führen. Natürlich bilden diese Einsichten auch das Herz seines jüngsten Films, Quando arrivano le ragazze mit Vittoria Puccini, Claudio Santamaria, Paolo Briguglia, und überraschenderweise Johnny Dorelli in den Hauptrollen. Die Handlung kreist um zwei Freunde, zwei Musiker, der eine ganz Leidenschaft, der andere ganz Talent. Also eigentlich zweimal Pupi Avati. "Hätte ich mit 18 mein heutiges Ich getroffen, hätte der junge Pupi Avati den erwachsenen Pupi Avati getroffen, und hätte letzterer dem ersteren sein Wissen über das Leben mitgeteilt, so hätte der junge sich 20 Jahre voll von Verführungen, Halluzinationen, Fälschungen und Missverständnissen erspart", meint er im Rückblick. "Sie haben ihn allesamt zu Zielen geführt, die nicht seine ureigenen waren, die mit seiner Identität, seiner Sensibilität, eigentlich nichts zu tun hatten. Mit einem Wort: mit meinem Talent. Der erwachsene hätte gesagt: "Beachte, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen Leidenschaft und Talent gibt! Beachte, dass die Leidenschaft nichts mit dem Talent zu tun hat! Dein sehnlichster Wunsch ist es, Jazzmusiker zu werden, du bist fasziniert von all den Biographien der Jazzmusiker, du bist ganz vernarrt in ihre Musik, spielst unbändig gerne die Klarinette: Aber glaube nicht, dass dein Einsatz, deine Energie, Entschiedenheit und dein Eigensinn für den Erfolgt ausreicht! Fehlt dir das Talent, dann werden alle Anstrengungen, alle Energie, die du darauf verwendest, zu keinem Ergebnis führen. Nach einer Weile wirst du dir dessen bewusst, nämlich spätestens dann, wenn du plötzlich jemanden vor dir hast, der wirklich dieses Talent besitzt. Unervermeidlich stellt sich der Vergleich ein, und du kannst ihn nicht verfälschen."

Ist diese Spaltung, diese Dialektik zwischen Leidenschaft und Talent nicht befremdlich: Entflammt denn nicht die Leidenschaft das Talent? Zuerst muss man natürlich wissen, was dieses Talent ist?
Das Talent ist die Berufung, ist die Antwort auf einen Ruf. Und es drückt sich in dem aus, was jemandem mit höchster Einfachheit zu tun gelingt. Es ist eine Tatsache, dass jeder, wirklich jeder Mensch ein Talent besitzt. Wir alle sind außergewöhnlich. Aber sind wir uns dessen nicht bewusst. Oder besser, wir machen es uns nicht bewusst. Und deshalb musste der junge Pupi Avati so dringend den erwachsenen Pupi Avati treffen: Er musste wissen, dass auch er von Gott für etwas auserwählt war, für etwas Bestimmtes. Und er hätte nicht all die Zeit verloren, einen so großen Teil seines Lebens.
Wir sind geliebt. Und die Gabe, die wir erhalten haben, ist Ausdruck dieser Liebe. Diese nicht zu benützen, ist die größte Sünde, die wir begehen können - weniger vor dem Göttlichen, als vor dem Menschlichen: Denn wir verschwenden das Wichtigste, was wir besitzen.

Können Sie diese Idee der Auserwähltheit erläutern?
Wir sind alle auserwählt. Wir besitzen alle Talent. Das ist eine Revolution, ein völliges Umstoßen der vorherrschenden Denkweise. Wenn ich auserwählt sage, stellen wir uns eine einzelne Person vor, ein auf bestimmte Art und Weise berührtes Sein. Wir können uns keine zwei Auserwählten vorstellen. Aber in Wirklichkeit stimmt das nicht. Jeder von uns stellt eine Ausnahme dar, jeder von uns hat den anderen etwas Außergewöhnliches mitzuteilen. Also sind wir alle eine Anomalie des Systems. Aber man macht uns glauben, dass Talent ein seltenes Glück darstellt, einen außergewöhnlichen Zug. Die Revolution besteht darin, dass das Außergewöhnliche die Gabe ist, die jedem Einzelnen zukommt. Sie prägt sich in der Arbeit aus, in den ganz normal gewählten Berufen. Sie ist keine Frage des künstlerischen Genies. Wir müssen Freude haben an dem, was wir tun. Außerdem müssen wir daran auch verdienen. Doch die erste Form von Verdienst muss durch unser Handeln selbst kommen. Das ist die erste Erkenntnis. Wenn das Instrument, dessen wir uns bedienen, mit unserem Talent zu tun hat, so teilen wir durch das, was wir tun, den anderen mit, wer wir sind.

Wenn aber das Talent mit der Berufung zu tun hat, mit dem, was uns freut, mit dem Glücklichsein, weshalb fällt es uns dann so schwer, dies zu erkennen?
Wer stellt sich heute schon diese Frage, wer ist heute schon auf der Suche nach dem eigenen Talent? In unserer Welt verwechselt man Leidenschaft oder Eigensinn mit Talent. Eine der schlimmsten Definitionen ist jene der Professionalität. Ich halte sie für beleidigend. Wenn mir jemand sagt: "Du bist sehr professionell", bin ich beleidigt. Denn professionell will ich am allerwenigsten sein. Es handelt sich dabei um eine Angleichung an einen Standard, bei dem alle anzukommen haben, und zwar gerade durch Leidenschaft und Eigensinn, aber nicht durch Talent. Das Talent geht über Professionalität weit hinaus. Es bedeutet auf völlig individuelle Weise zu interpretieren, einen völlig persönlichen Beitrag zu leisten. Dies heißt, den Kanon der Professionalität zu verlassen, der eine Standardisierung darstellt.

Kurz, man führt uns hinters Licht: Jeder von uns ist außergewöhnlich, aber man verlangt von uns Gleichschaltung, Anpassung, ?
Talent ist im System nicht vorgesehen. Es ist sogar ausgeschlossen. Es ist das Gefährlichste, was man in ein System einschleusen kann. Denn es repräsentiert das, was sich der Kontrolle entzieht, das radikal Andere im menschlichen Sein. Es ist verrückt, dass sich niemand dessen annimmt, auf keiner Stufe der Entwicklung und in keinem Moment der Erziehung und Bildung, weder durch die Familie, noch die Schule, die Kirche oder den Staat.

Bedeutet Talent nicht auch Regelüberschreitung?
Nein, das ist eine Verdrehung. Man versteht es so, weil man uns einredet, Talent als Rarität, als Außergewöhnlichkeit zu verstehen. Wenn wir stattdessen dazu erzogen werden, anzuerkennen, dass jeder das Recht hat, sich durch das mitzuteilen, was er tut, wäre dies auch ein sozialer Erfolg. Es würde Früchte tragen. Stellt man das Talent des Einzelnen heraus, dann lässt das zudem die Idee des Anderen aufleben, des Nächsten als Subjekt. Das menschliche Sein entwickelt sich stärker zur Persönlichkeit.

Und was geschieht in der Arbeit?
Normalerweise verbringen die Leute 35 Jahre mit einer Arbeit, an die sie nicht glauben. Sie beschließen das werktätige Leben ohne jedes Bedauern, und meinen, man müsse sie entschädigen. In einem bestimmten Sinne glaube ich, dass es sogar noch besser ist, die falsche Frau zu erwischen, als den falschen Beruf. Wenn man aber sagen kann, wer man ist, und zwar durch ein Instrument, das dem eigenen Sein entspricht, ist man auch nützlich und eine Bereicherung für die anderen. Man darf nicht aufhören, sich zu suchen, zu sagen, wer man ist. Der Heilige Anselm nennt es: Den eigenen Namen suchen. Auf all dies bin ich allein gekommen. Ich habe unheimlich intensiv nach dem Geheimnis des Talentes geforscht. Beispielsweise habe ich lernbegierig unzählige Biographien gelesen, auf der Suche nach jener Seite, die mir das quid erklären würde. Man müsste stärker an der persönlichen Orientierung arbeiten... vielleicht in der Schule? Die Familie kümmert sich jedenfalls nicht darum. Wir kommen aus einer Erziehung in der der Beruf wie eine Strafe gelebt wird, wie eine Bedingung, zu der man verdammt ist: Arbeite unter Schmerzen und Kummer.

Wenn wir unser Talent suchen, werden wir ermutigt, der Leidenschaft zu folgen. Hat die Leidenschaft nichts mit dem Talent zu tun? Und wie erkennen wir einen falschen Weg?
Es ist wie bei der Liebe, wenn die Liebe nicht entgegnet wird. In meiner Beziehung zur Musik, bin ich ständig auf Hindernisse gestoßen. Sie gehört zu den größten nicht vorhandenen Talenten bei mir. Die Musik hat mich mit aller Kraft zurückgestoßen. Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen und festgestellt, dass das neue Instrument, das Kino, mir Antwort gab. Ich merkte:In Wirklichkeit lernst du, was du schon weißt. Man erkennt sich in dem wieder, was man tut, weil man es schon kennt. Ein Teil von dir ist vorherbestimmt. Die meisten machen den Fehler, sich selbst nicht zu suchen, sich nicht in Frage zu stellen, auch dann, wenn man schon einen bestimmten Punkt des Weges erreicht hat. Denn es ist keine Frage des Alters, sondern des Mutes: zu fragen, überall zu suchen, sich auf den Weg zu machen.

Aber ist es nicht merkwürdig, dass gerade unsere Zeit, die so sehr auf Selbstverwirklichung und Subjektivität setzt, dem Talent so wenig Aufmerksamkeit schenkt?
Wann immer ich davon spreche, entflammt dieses Thema das Interesse der Zuhörer und nicht nur bei jungen Leuten. Alle wissen tief in sich, dass sie ein Talent besitzen. Es ist jedoch zumeist abgetötet. Negative Erfahrungen führen dazu, dass wir es mit anderem identifizieren: Wir alle haben dieses Problem. Vielleicht hat man versucht, es mit der Freundin oder mit Geld zum Schweigen zu bringen. Aber inmitten des größten Vertuschens, der allgegenwärtigen Gleichmacherei, erweckt diese Fragestellung ein ungeheures Interesse. Für einen Moment denkt man an sich selbst?

Das Talent vergeudet, die Zeit verloren. Ist die Zerstörung unheilbar?
Ich will nicht überheblich sein, aber ich glaube, ich hatte Glück. Ich habe trotz anfänglicher Fehlschläge nicht aufgegeben. Ich habe nicht dem Traum entsagt, der in uns allen steckt. Jeder Mensch trägt eine Idee von Unsterblichkeit in sich. Er ist davon überzeugt, er hat einen Moment in der Überzeugung der Unsterblichkeit verlebt. Diese Spur gilt es zu erkennen. Von dort muss man ausgehen. Ich bediene mich häufig der Metapher der Bergersteigung, sie stammt aus der ländlichen Kultur. Das Leben ist wie ein großer Hügel, den man vor sich hat: Zunächst steigt man hinauf, ohne zu wissen, was es auf der anderen Seite gibt. Ehe man oben ankommt, stellt man sich die wunderbarsten Dinge vor, ohne irgendwelche Skrupel. Dann erreicht man den Gipfel. Und das hängt nun nicht vom Alter ab. Doch von diesem Moment an, beginnt man in Erinnerungen zu versinken, das Leben aus der Erinnerung zu konstruieren und sich dieser zu freuen, statt sich die Zukunft vorzustellen und zu erträumen. Ich will hinzufügen, dass wir ab diesem Moment die Wendung "für immer" nicht mehr verwenden, während wir sie zuvor ohne jede Scham auf die unterschiedlichsten Dinge bezogen haben. Sobald man den Gipfel erreicht hat, bezieht sich "für immer" nur mehr auf den Tod. Das Schiffchen beginnt seine Heimkehr zum väterlichen Haus, es beginnen die Abschiedszeremonien.

Aber ist diese Zerstreuung nicht in gewissem Sinne notwendig? Muss man denn nicht diese Träume des 20-Jährigen verlieren?
Ich weiß es nicht. Ich frage mich, weshalb niemand über diese Fragen spricht. Ich habe mein ganzes Leben lang ganz normale Erfahrungen gemacht. Gewiss, ich bin Regisseur. Aber ich sehe meine Arbeit als etwas völlig Normales an, weitab von Glanz und Glitter. Zu mir kommen viele junge Menschen. Aber sie bitten mich vor allem um ein Alibi. Sie erwarten von mir, dass ich bestätige, was die Welt bereits abgesegnet hat: Es geht nicht anders, man kommt nur mit Winkelzügen und Empfehlungen weiter. Sie erwarten von mir die Bestätigung, dass die Welt feindlich ist, dass alles schrecklich ist, dass es ganz und gar unmöglich ist. Ich aber möchte sie aufrütteln und in ihnen die Idee des jedem innewohnenden außergewöhnlichen Talentes entflammen. Das versetzt ein ganzes Leben in Bewegung. Es bringt alles ins Spiel.

Und so haben Sie als Regisseur viele Talente entdeckt?
Nun, ich mache keine Vorstellungsgespräche, sondern begegne Menschen. Wir sprechen vom Leben, nicht vom Film, mich interessiert der Mensch viel mehr als sein Curriculum.

Und jetzt, wo führt Ihre Suche hin? Welches Experiment läuft gerade im Labor des eigenen Ich?
Im Februar werde ich die Dreharbeiten zu einer Geschichte über etwas völlig anderes beginnen: eine Geschichte über besondere Güte. Ich habe eine Figur entworfen, die durch und durch, ohne jede Hemmung gut ist. Auch die Güte kann enorm sein, nicht nur die Boshaftigkeit. Stellen Sie sich außergewöhnliche Güte vor! Gut, und jetzt gehen Sie noch darüber hinaus.