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Südostasien
Die Flutkatastrophe, der Mensch und die Notwendigkeit Gottes
Giancarlo Cesana

Leserbrief im Corriere della Sera, 7. Januar 2005

Sehr geehrter Herr Chefredakteur,

ich empfand es als Provokation, wie Sie in der Ausgabe vom 3. Januar neben den Kommentar von Emanuele Severino zur unbeschreiblichen Flutkatastrophe in Südostasien die Feststellung des Papstes: "Gott verlässt uns nie!" gestellt haben (die zugleich aber auch Anrufung war!). Erlauben Sie mir, hierauf kurz einzugehen.

Katastrophen, die blind über den Menschen hereinbrechen, als wären diese Ameisen, stellen uns auf extreme Weise vor eine Frage, die sich uns eigentlich täglich stellt: Die Frage nach unserer Bestimmung. Derzeit sterben auf der Welt jedes Jahr 56 Millionen Menschen, das heißt mehr als 150.000 jeden Tag. Nur wenige können auf ein langes Leben zurückblicken oder von sich behaupten, ihnen hätten während der Krankheit liebe Menschen zur Seite gestanden. Doch selbst wenn dies der Normalfall wäre, könnten diese Umstände nicht die Trennung des Todes aufheben. Ja, wir können den Tod gleichsam als persönliche Tsunami bezeichnen.
Don Giussani berichtete einmal von einem atheistischen Philosophielehrer am Mailänder Berchet-Gymnasium. Dessen Griechischkollege war während des Unterrichts verstorben. Nach der Beerdigung sagte er: "Gewiss, der Tod ist der Beginn aller Philosophie." Giussani bekräftigte, dass diese Frage der Anfang jedes wahren Denkens sei. Es gebe keine Menschlichkeit, wenn sie nicht von dieser dramatischen Wunde gezeichnet sei, so Giussani. Selbst jene, die scheinbar gleichgültig inmitten der Toten Urlaub machen, verlangen Klarheit über die Bedeutung der Seebeben, die über unser Leben hereinbrechen. Der erste Schritt zur Klarheit besteht aber nicht darin, alles erschöpfend zu begreifen. Zunächst gilt es, Jemanden anzuerkennen, der darauf zu antworten weiß. Ein Kind hat nicht deshalb Vertrauen in das Leben, weil es dieses verstanden hat. Vielmehr weiß es, dass Vater und Mutter ihm darin Halt geben und allmählich dessen Sinn vermitteln. Angesichts des unergründlichen Geheimnisses, das wir in unserem Leben erfahren, bleiben wir alle ewig Kinder. Das heißt wir brauchen jemanden, der uns an die Hand nimmt. Wir haben weder die Dinge geschaffen noch uns selbst. Und der Sinn der Dinge kann sich nicht in einer kühlen, logischen Verkettung von Phänomenen erweisen, die wir vorher nicht geahnt haben. Stattdessen zeigt er sich in der Wärme einer Beziehung, die uns stützt, während sie sich zugleich allmählich enthüllt. Wobei sich das Geheimnis zumindest in diesem Leben nie vollkommen enthüllen wird.
Eine Bestimmung, die nur blindes Schicksal wäre, löst die Tragik nicht auf. Im Gegenteil, sie verschärft sie nur noch. Denn sie macht den Schmerz nicht nur zu etwas Notwendigem, sondern auch zu etwas Unheilbarem. Darauf beziehen sich auch die Worte des Evangeliums: "Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr auf dieselbe Art und Weise umkommen" (Lk 13,3). Das heißt euer Tod wird keinen Sinn haben. Die Frage nach dem Sinn des Todes ist genau dieselbe, vor die uns die Geburt und das ganze Leben stellen. Es ist die Frage danach, ob es ein Du gibt, an das wir uns halten können. Ein Du, das uns retten kann angesichts der Katastrophen, die über uns hereinbrechen oder die wir selber hervorrufen - was nicht minder verheerend ist. Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen den Naturgewalten und der Bosheit des Menschen, der meint, alles aus sich selbst heraus schaffen zu können. Christus schlägt sich uns als ein Du vor, an das sich der Mensch klammern kann. Er ist die Antwort eines Gottes, der sich nicht darauf beschränkt, Philosoph zu sein. Er beschränkt sich nicht darauf, das Menschsein in seiner Widersprüchlichkeit und seinem Leid zu definieren. Statt- dessen erbarmt er sich des Lebens und teilt es mit uns. Christus besiegt den Tod durch einen Akt der Liebe, der unvergleichlich größer ist als der Tod. Auf diesen Akt der Liebe zielen alle Initiativen der Solidarität und Hingabe ab. Gerade bei einer Tragödie, die scheinbar alles überflutet, entstehen sie durch einen Überlebensdrang, der zu einer unbezähmbaren Hoffnung werden möchte.
Zumindest eines kann man angesichts der Naturkatastrophe, die uns getroffen hat, sagen: Natur und Mensch - gleich ob Einzelne oder ganze Völker - genügen sich nicht selbst. Es bedarf vielmehr eines Gottes, der uns nie verlässt. Es bedarf einer starken liebende Gegenwart, die uns wohl gesonnenen ist und uns im Leben beisteht, auch wenn es scheinbar zerstört wird. Das ist für mich die Erfahrung des Glaubens. Sie hebt das Leid nicht auf. Aber sie besiegt alles, was zur Verzweiflung führen könnte.