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Kultur-Elliot
«Hat die Menschheit die Kirche verlassen oder die Kirche die Menschheit»


Diese dramatische Frage stellt T.S. Eliot in Chöre aus «The Rock». Don Giussani kommentierte sie in einem Fernsehbeitrag zum 50jährigen Bestehen von Comunione e Liberazione mit folgenden Worten.

«Im Übrigen hat sich bereits Eliot mit einer gewissen Selbstsicherheit die Frage gestellt:
"Hat die Menschheit die Kirche verlassen oder die Kirche die Menschheit?" Wie ist es einem Menschen meiner, unserer Zeit möglich, sich dieser Frage nicht bewusst zu sein, wenn er von Kultur spricht. Er vergisst vier Fünftel der Welt».
Frage: Ist dies eine Kritik an der Kirche oder an der Menschheit?
«Beides. Beides, denn vor allem haben die Menschen die Kirche verlassen. Denn wenn ich eine Sache brauche, dann laufe ich ihr hinterher, wenn sie fortgeht. Hier lief aber niemand hinterher».
Frage: Und wann hat die Kirche die Menschheit verlassen?
«Die Kirche begann meiner, unserer Meinung nach die Menschheit zu verlassen, weil sie vergaß, wer Christus ist, sie setzte nicht mehr auf ihn... ja sie schämte sich Seiner, sie schämte sich zu sagen, wer Christus ist.»

Spuren hat Eliots dramatische Frage einigen Persönlichkeiten gestellt und sie gebeten, darauf im Lichte der Stellungnahme Don Giussanis zu antworten. Wir geben die Antworten im Folgenden wieder, zusammen mit einem Beitrag von Giancarlo Cesana zum Thema Laientum und Laizismus. Er erschien in der italienischen Tageszeitung la Repubblica.

Die Welt braucht Christus
Peter Erdö, Kardinal-Primas von Ungarn

Kirche und Welt scheinen sich so weit voneinander entfernt zu haben, dass man von "Verlassen" sprechen kann. Mit "Welt" scheint hier die gesellschaftliche und kulturelle Umwelt des Westens gemeint, in der die Kirche Christi, heute muss man sagen die christlichen Kirchen und Gemeinschaften, leben und geschichtlich verwurzelt sind.
Die Kirche, der andere grundlegende Begriff der Aussage, ist nicht nur eine "sichtbare" Gesellschaft, und ebensowenig allein ein kulturelles Phänomen, sondern das Volk Gottes. Sie ist eine Gemeinde, die die Gemeinschaft mit Christus und der Heiligen Dreifaltigkeit einschließt und vermittelt. Der Evangelist Johannes schreibt: «Unsere Gemeinschaft ist die Gemeinschaft mit dem Vater und mit dem Sohn Jesus Christus». Deshalb spricht das Zweite Vatikanische Konzil von der Kirche als Sakrament des Heils, des Heils der Welt: Lumen Gentium, Licht der Völker. Und deshalb ist die Kirche ihrer Natur nach, durch den Auftrag Christi auf die Welt ausgerichtet. In ihm liegt ihre eigentliche Daseinsberechtigung. Wenn wir also von der Gegenwart der Kirche in der Welt sprechen, können wir das nicht tun, ohne zugleich von der Gegenwart Christi in ihr zu sprechen.
Die Welt braucht Christus. Hätte sie ihn nicht gebraucht, hätte der Vater ihn nicht als Retter und Erlöser in die Welt gesandt. Die oben gestellte Frage lädt uns also zu einer Gewissenserforschung ein: Leben wir Christen wirklich in lebendiger, tiefer und tief verwurzelter Gemeinschaft mit Christus?
Andererseits ist diese Wahrheit ein Trost für uns. Denn Christus kann gar nicht anders, als in der Kirche gegenwärtig sein. Er hat sie gegründet und wird sie nicht untergehen lassen. Sie kann ihrer Sendung bis zum Ende der Welt nicht völlig untreu werden. Und genau deshalb hat Er der Kirche die Gabe des Ausharrens im Glauben geschenkt.
Und doch beunruhigt uns stets jenes Schweigen, jene von Jesus offen gelassene Frage: «Wird der Menschensohn, wenn er wiederkommt, noch Glauben finden auf Erden?» Das Kennzeichen der Kirche ist also keine bequeme Garantie, sondern die Verpflichtung, sich einzusetzen, zu wirken und zu leiden, um im Glauben an Christus auszuharren und seinen Auftrag zu erfüllen. Diese wesentliche Tatsache lässt uns die typische Spannung der Seinsweise der Kirche in der Welt wahrnehmen. Christus hat sie in die Worte gefasst: Wir leben in dieser Welt aber wir sind nicht von dieser Welt. Unser Dasein muss also immer zur Welt hin offen sein, weil wir dieser Welt - gleich ob sie gut oder böse, freundlich oder feindlich ist - eine große Botschaft zu vermitteln haben. Deswegen müssen wir uns immer auf dem Laufenden halten. Wir können uns nicht mit der mechanischen Wiederholung bestimmter Ausdrucksformen und Verhaltensweisen zufrieden geben. Bei unseren Überlegungen müssen wir die so genannte "Substanz" der christlichen Botschaft von so genannten "akzidentellen" Formen unterscheiden. Hätten wir doch nur die begriffliche Klarheit und Sicherheit der großen Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie waren noch sicher, stets die substantia vom accidens unterscheiden zu können. Wir leben also im Kraftfeld der ständigen Verpflichtung zur Aktualisierung. Das sollten wir nie vergessen!
Gleichzeitig sind wir verpflichtet, die Gegenwart Gottes in der Welt zu bezeugen. Und die göttliche Gegenwart, ihre Herrlichkeit und ihr Glanz führen immer zu einem furchterregenden Vergleich: wie bei Moses, der sich in Gottes Gegenwart das Gesicht bedecken oder vor dem brennenden Dornbusch die Sandalen ausziehen musste. Deshalb dürfen wir uns nicht dem Strom der Welt oder der Umgebung überlassen, auch wenn wir Methoden der heutigen Welt anwenden. Stattdessen müssen wir alle Einflüsse mit einer gesunden kritischen Einstellung aufnehmen.
Wir haben eine Reihe von Normen, Bräuchen und Ideen der jüdischen Welt übernommen. Wir haben den Kern und die Botschaft vieler heidnischer Symbole und Feste verändert. Wir haben viele Elemente der Kultur germanischer Völker und anderer, die nach Europa kamen oder in entfernteren Teilen der Welt leben, genutzt. Aber das Christentum hat die Kultur der Völker verändert. Von keinem hat es die Identität ausgelöscht. Vielmehr hat es eine reiche Vielfalt von Kulturen geschaffen, die vom Christentum selbst beeinflusst sind.
Dasselbe gilt heute für uns: Wir leben in der elektronischen, der audiovisuellen und globalen Gesellschaft. Aber wir überlassen uns nicht sorglos, fast automatisch den immer neuen Tendenzen unserer Welt. Wir kaufen also so, als hätten wir kein Eigentum, und wir brauchen die modernsten Hilfsmittel so, als stünden wir mit bloßen Händen da. Wir machen Programme und organisieren Veranstaltungen, aber nicht, um Erfolg als effiziente Manager zu haben... ,denn «die Gestalt dieser Welt vergeht».
Diese typisch christliche Sicht der Dinge erscheint unserer Zeit seltsam und schwer verständlich. Aber sie ist anziehend und bringt einer Hoffnung hervor, die uns auch in den kommenden Jahrhunderten fähig machen kann, nie den Mut zu verlieren und trotz aller Niederlagen immer neu zu beginnen. Unser Leben ist nämlich Teil der Geschichte, die einen Sinn hat und im Rahmen des göttlichen Heilsplans verläuft. Die Christen sind kein vaterloses Geschlecht: Wir haben einen Vater, der allmächtig und barmherzig ist.

Nicht das Evangelium der Welt, sondern die Welt dem Evangelium angleichen
Stanley Hauerwas, protestantischer Theologe aus den Vereinigten Staaten

Don Giussani hat sicher Recht, wenn er sagt, die Kirche habe die Menschheit ebenso verlassen wie die Menschheit die Kirche. John Howard Yoder bemerkte einmal, die Frohe Botschaft sei nicht froh, solange sie nicht angenommen wird. Zu oft haben wir Christen Christus verkörpert und dabei die Freude vergessen, die das Herz des Evangeliums ist. Damit haben wir aber gezeigt, dass wir Christus nicht persönlich aufgenommen haben. Und weil wir Christus nicht freudig aufgenommen haben, haben wir der Menschheit das Zeugnis vorenthalten, das sie braucht, um Gott aufnehmen zu können: Jenen Gott, den wir in diesen Tagen wieder einmal in der Krippe finden.
Früher sagte man, es sei Aufgabe der Kirche, das Evangelium der Welt anzupassen. Mit dieser unglücklichen Problemstellung ist genau das verloren gegangen, was das Evangelium der Welt zu geben hat. Unsere Aufgabe ist eben nicht, das Evangelium der Welt anzupassen, sondern die Welt dem Evangelium. Wie sonst könnte die Welt erfahren, was sie vom Leben spendenden Wirken des Geistes in der Kirche braucht? So hat Don Giussani abermals Recht, wenn er sagt, die Welt sei in dem Maße des Evangeliums beraubt worden, in dem wir es versäumt haben, die Schönheit darzustellen, mit der Gott die Kirche durch den Geist ausgestattet hat.
Lernen wir also, großartige Sänger des Evangeliums zu sein.

Beitrag für la Repubblica
Giancarlo Cesana
Sehr geehrter Herr Chefredakteur, der von ihnen veröffentlichte Briefwechsel zwischen Professor Pera, dem Präsidenten des italienischen Senats, und Kardinal Ratzinger, dem Präfekten der Glaubenskongregation, ist ausgesprochen interessant. Die angesprochenen Themen sind zentral für die Entwicklung eines "europäischen Zusammenlebens". Überraschend ist dabei besonders, dass gerade ein "Laie", ein Vertreter des Empirismus und Professor für Wissenschaftsphilosophie, verlangt, eine relativistische Auffassung vom Leben zu bekämpfen und die christlichen Wurzeln als den entscheidenden Bezug für eine gemeinsame bürgerliche Kultur wiederzuentdecken. Es versteht sich von selbst, dass Ratzinger eine solche Hypothese unterstützt. Man könnte auch sagen, es gehört zu seinem Beruf. Durchaus neu ist aber die Tatsache, dass dies nun auch Pera und andere "fromme Atheisten", wie sich etwa der Publizist Guiliano Ferrara nennt, fordern. Denn sie sind eben "Laien" und ausdrücklich Nichtgläubige.
Da ich als Gläubiger auch Laie bin, also kein Priester oder Kleriker, und auch kein Intellektueller, der autorisiert wäre, über religiöse Dinge zu sprechen, möchte ich zum besseren Verständnis der anderen zunächst versuchen, mich selbst zu verstehen und zu erklären. Laie kommt, wie ich gelernt habe, vom griechischen Wort laos, was soviel wie "Volk" bedeutet. Und es bezeichnet einen Mann oder eine Frau (um politisch korrekt zu sein) aus dem Volk. Laie ist also jemand, der zunächst nicht als studierter Fachmann spricht, sondern aus seiner eigenen Erfahrung heraus und der des Volkes, dem er angehört. Wir gehören alle zu etwas oder besser zu einem Volk. Denn wir haben uns nicht geschaffen, noch bringen wir uns aus eigener Kraft hervor. Wer hingegen meint, nur sich selbst, seinen eigenen Ideen anzugehören, befindet sich in einer äußerst bedauernswerten Lage. Denn er gehört dem, dem seine Ideen gehören: also dem Fernsehen, der Zeitung, die er am Morgen liest, seinem Chef, kurz den Machthabern. So gibt es Priester, die wie "Laien" Zeugnis geben von ihrer Beziehung zu Gott. Und es gibt Laien, die sich als "Priester" aufführen und uns großmütig erklären, wer Gott ist, oder wie die Dinge zu sein haben. Schließlich gibt es auch Menschen, wie Präsident Pera, die aus ganz weltlichen Gründen einen kulturellen Hinweis auf das Christentum für unvermeidlich halten. Damit erkennen sie aber zugleich an, dass sie einem menschlichen und geschichtlichen Ereignis angehören, das ihre Vernunft zwingt, die Positivität der chrislichen Erfahrung als evident anzuerkennen. Worauf beruht diese Evidenz? Kurz gefasst glaube ich sagen zu können, dass sie auf dem absoluten Wert der Person beruht, die immer bejaht werden muss. Das gilt auch auf der Stufe des Embryo. Denn die Person ist Beziehung zum GEHEIMNIS, das sie erschafft.
Es ist kein Zufall, dass sich diese Front der Laien ausgerechnet angesichts des islamischen Fundamentalismus und des geplanten Referendums über das Gesetz zur künstlichen Befruchtung gebildet hat. Denn beide Phänomene stellen die Person als absoluten Wert in Frage. Das erste, weil der Islamismus die Person unter Berufung auf Gottes Willen (nach der Interpretation islamischer "Priester") zerstört; das zweite, weil es die Person unter Berufung auf den Willen des Menschen (nach der Interpretation der "Priester" der Wissenschaft) zerstört. Demgegenüber muss man die Person in ihrer Einmaligkeit und Freiheit verteidigen - auch gegen den Anspruch des Staates.
Don Giussani hat jüngst in einem Interview mit dem Corriere della Sera gesagt, dass «für Gott das eigene Handeln mit dem Menschen nur als eine "großmütige Herausforderung" seiner Freiheit vorstellbar ist». Gott will also, dass der Mensch - sein Geschöpf, das "Nichts" - ihn liebt beziehungsweise fast wie er selbst wird. Welche Auffassung vom Menschen, seiner Freiheit und Größe kommt der eines Laien näher als diese?
Es lohnt sich anzumerken, dass diese Betonung des absoluten Wertes der menschlichen Person ein wesentliches Element zu einer angemessenen Vorstellung von Demokratie beisteuert. Wenn es stimmt, dass man den Wert der Demokratie an der Annahme des Anderen erkennt, dann ist es ebenso wahr, dass ich den Anderen nicht annehmen kann, ohne mich selbst ganz anzunehmen mit allem, was meine Identität ausmacht. Annahme beruht auf Gegenseitigkeit. Wobei der Wert des Anderen und mein eigener gemeinsam zur Geltung kommen können und müssen («Liebe deinen Nächsten wie dich selbst») beziehungsweise eine Wahrheit, die sich ebenso entschlossen anbietet, wie sie geduldig und nachsichtig ist. Das hat trotz allem auch die christliche Geschichte des Abendlandes gezeigt. Damit will ich sagen, dass es kein Zufall ist, wenn die Demokratie, wie wir sie heute kennen, ein Phänomen ist, das im christlichen Abendland entstand. Mit Don Giussani will auch ich sagen, «dass man umso ökumenischer - also pluralistischer - ist, je mehr man sich selbst, der eigenen Identität auf den Grund geht». In der Tat stellt man auch als Laie die Fähigkeit, den Anderen anzunehmen, mit der eigenen Identität auf die Probe - nicht indem man sie aufgibt. Ein Ich ist dann offen, wenn es stark ist und es nicht nötig hat, sich selbst oder andere auszuschließen, um sich zu behaupten. Schließlich erlaube ich mir noch eine letzte Bemerkung zum Glauben: Er wird gewöhnlich als Gegensatz zur Vernunft des Laien angesehen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Denn der christliche Glaube ist das, was die Vernunft entdeckt, wenn sie anerkennt, dass die christliche Tradition nicht nur ein Almosen der Vergangenheit ist, sondern eine Kultur und eine Gesellschaft sui generis (wie Paul VI. von der Kirche sagte), in der Christus tatsächlich noch heute seine Gegenwart schenkt als Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Diese Erkenntnis ist dann Gegenstand der Auseinandersetzung - unter Laien.