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Moskau: Neue Horizonte
Das Botkin-Haus. Ein Neuanfang im Schatten des Kremlins
Von Giovanna Parravicini

Am 19. November öffnete die "Bibliothek des Geistes" ihren neuen Sitz in Moskau. Das Kulturzentrum ist ein Ort der Begegnung, der Freundschaft und des Dialogs unter Katholiken und Orthodoxen. Gemeinsam bezeugen sie, dass Christus "alles in allen" ist. Patriarch Alexij II. und Papst Johannes Paul II. sandten zur Einweihung Glückwunschbotschaften.

Man käme sich vor wie auf dem Meeting in Rimini kurz vor der Eröffnung, fiele nicht vor den Fenstern dichter Schnee. Es ist der erste in diesem Winter und er hält den Verkehr auf und macht alles noch chaotischer. In den Räumen des "Botkin-Hauses" versucht ein Heer von Freunden noch das Unmögliche möglich zu machen: die von Putz übersäten Böden auf Hochglanz zu bringen, Regale und Stühle vom Staub der Maurer zu reinigen und Lampen und Vorhänge aufzuhängen. Schon am nächsten Morgen, den 19. November, werden die Gäste zur offiziellen Einweihung erwartet.
Der historische Bau steht in einer zentralen Straße Moskaus und bietet mit 400 Quadratmetern viel Raum. Wir konnten ihn vor eineinhalb Jahren günstig erwerben und dort die Ausstellungs- und Tagungsräume des Kulturzentrums "Bibliothek des Geistes" sowie eine Buchhandlung und eine kleine Cafeteria unterbringen.
Es ist bereits klar, dass die Eingangstür nicht fertig sein wird. Aber wir hoffen weiterhin, dass Maurer zumindest noch über Nacht die Toiletten fertig stellen, die im Moment nur schwarze Löcher sind. Dafür gibt es an den Decken Stuckarbeiten aus dem 19. Jahrhundert, die Elena und Alessandra, zwei Freundinnen aus Rom, gemeinsam mit Arbeitern vor Ort restauriert haben. Die Decken versetzen den Betrachter zurück in die Geschichte dieses Hauses, dieser Räume, in denen berühmte Kulturschaffende ein - und ausgingen, darunter der russische Dichter Leo Tolstoj.

Die Idee von Don Giussani
Die Idee der "Bibliothek des Geistes" kam Don Giussani vor vielen Jahren während eines Mittagessens in Gudo. Er schlug Pater Scalfi vor, im neuen Klima der Freiheit, das in Russland Einzug hielt, einen Ort der freien Begegnung und Diskussion zu schaffen, "wie seinerzeit die Buchhandlungen des Feltrinelli-Verlags". Wie durch ein Wunder kamen Freunde hinzu: Jean-François, Viktor, Flo, Tanja und viele andere. Mit ihnen ließ sich das Vorhaben Schritt für Schritt umsetzen. Man musste bei Null anfangen. Selten war man sich wirklich der Tragweite dessen bewusst, was da gerade geschah. Doch wenn man sich ihrer bewusst wurde, erfüllte einen jedes Mal Dankbarkeit: Wir sind gemeinsam zu einer Freundschaft berufen, die die ganze Welt umfasst. Mehr als einmal hat uns Viktor in seiner Umsicht daran erinnert, etwa wenn die Hektik der zu erledigenden Dinge oder die anstehende Verantwortung uns zu spalten drohten. "Was nützt das ganze Werk, wenn wir unsere Freundschaft verlieren?", mahnte er.
Schon bei den ersten Schritten dieses Werks haben uns Don Giussani und Pater Scalfi stets auf einen entscheidenden Punkt hingewiesen: Jedem, dem wir begegnen, und ebenso dem Leben der Kirche eine Wertschätzung entgegenzubringen. Denn das ist das Antlitz des Anderen, des Geheimnisses. Auf diese Weise lernten wir - ohne Theologen zu sein - die Ökumene zu leben, wie ich es ganz allgemein nennen würde. Unter diesem Vorzeichen entstand 1993 auch die "Bibliothek des Geistes", nämlich aus einem Zusammenwirken von Menschen, die einander helfen wollen zu bezeugen, dass "Christus alles in allen" ist. Es sind Katholiken wie Orthodoxe, die sich als Teil einer größeren Einheit begreifen.

Der Schritt in die Öffentlichkeit
Die kulturelle Aktivität, die Verlagstätigkeit, die Verbreitung christlicher Texte in Russland und in den Ländern der Ex-Sowjetunion sind Gesten und Initiativen, die nach und nach ins Leben gerufen wurden. Sie entstammen diesem Geist und versetzen uns selbst als erste in Staunen. Denn wie groß ist der Abstand zwischen dem, was mit unseren Kräften möglich scheint, und dem, was tatsächlich geschieht! 2003 feierten wir in Rom bei einer Begegnung mit dem Papst das millionste Buchexemplar, das wir verteilt haben.
Vor zwei Jahren sagten wir uns, dass wir den Schritt in die Öffentlichkeit wagen müssten. Das bedeutete, die vor Büchern berstende Kleinwohnung in einem Moskauer Vorort zu verlassen und unsere Aktivitäten öffentlich sichtbar zu machen; wir brauchten Schaufenster an der Straße, damit die Leute unserem Vorschlag leichter begegnen konnten. So begann das Abenteuer der Suche nach einem neuen Standort. Es war wie eine Wette mit der Vorsehung. Und es ist sicher kein Zufall, dass wir diesen Ort in einer Millionenstadt wie Moskau ausgerechnet in einer Straße fanden, die erst kurz zuvor ihren alten Namen zurückerhalten hatte: Pokrovka, "Schutz der Gottesmutter".
Auch das Einweihungsdatum ging auf eine Wette zurück, nämlich auf das Angebot von Kurienkardinal Paul Poupard. Er hatte uns angeboten, das Eröffnungsband persönlich zu durchschneiden, "wenn ihr um den 20. November herum eröffnet". Denn dann werde er in Moskau sein. In den folgenden Monaten führten wir dann einen verzweifelten Kampf gegen die Zeit, gegen unzählige Probleme und fehlende Mittel. Gerade hier aber war das Wunder Seiner Gegenwart für uns mehrmals mit Händen zu greifen. Das versetzte uns in Staunen. Sie war spürbar und gab uns Freude am Weitermachen. Nur ein Beispiel: Wenige Tage vor der Eröffnung waren wir mit unseren Kräften ziemlich am Ende, nervös und fast deprimiert, zumal einige "hochrangige Gäste" abgesagt hatten. Da flatterte völlig unerwartet per Fax ein herzlicher Brief des orthodoxen Patriarchen von Moskau, Alexij II. herein. Darin segnete er unsere Initiative und erneuerte seinen Wunsch einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Moskauer Patriarchat. Dieses völlig ungeschuldete Geschenk beflügelte uns. Es ließ uns mit Händen greifen, dass wir dem Werk eines Anderen dienten.

Am Tag der Einweihung
Am Morgen des lang erwarteten Tages waren die Räume der Bibliothek dicht gefüllt mit Gästen. Alte und neue Freunde waren gekommen: Leute, die wir vor 20 Jahren zur Zeit der Dissidenten kennen gelernt hatten, oder solche, denen wir erst in jüngster Zeit begegnet waren; Vertreter ziviler wie religiöser Einrichtungen, Diplomaten, orthodoxe wie katholische Prälaten, Wissenschaftler und Vertreter der akademischen Welt, Familien und Freunde der Bewegung. Ganz abgesehen von einer Gruppe von fünfzig Freunden, die unter Leitung von Don Pino und Fulvia aus Italien angereiste waren, um mit uns zu feiern und uns der Zuneigung von Don Giussani und Pater Scalfi zu versichern. Viktor Bondarenko, ein namhafter Ikonensammler, hatte uns zu diesem Anlass vier prachtvolle Werke des 15. Jahrhunderts zur Ausstellung "geliehen". Seine Sammlung ist auch im Kalender von Russia Cristiana für das Jahr 2005 zu bewundern. Das Meeting in Rimini steuerte die Fotoausstellung "Auf die Plätze, fertig, Leben" bei, die sich mit der Entstehung des Lebens im Universum beschäftigt.
Höhepunkt der offiziellen Begrüßung war die Verlesung einer Grußbotschaft von Patriarch Alexij II. und eines Telegramms von Papst Johannes Paul II., das Kardinal Poupard mitgebracht hatte. Nach Poupards Worten ist das Kulturzentrum von Natur aus berufen, ein Akt des Glaubens und damit des Vertrauens in die Fruchtbarkeit des Glaubens zu sein. Es sei ferner ein Akt der Hoffnung, um die Wirklichkeit auf ihre volle Verklärung hin zu befruchten und zu begleiten. Und schließlich sei es ein Akt der Liebe. Denn durch sie verwirklichten sich die Verheißungen Gottes in der Geschichte.

Die christlichen Wurzeln wiederentdecken
Am Nachmittag befasste sich eine Tagung unter dem Thema "Ost und West, Austausch von Gaben" mit den Leitlinien der künftigen Arbeit des Zentrums. Kardinal Poupard hob die Bedeutung der Kultur hervor und die Notwendigkeit, die christlichen Wurzeln Europas wiederzuentdecken. Die anderen Redner beleuchteten einzelne Aspekte dieser Wiederentdeckung. Vladimir Legojda, Direktor einer lesenswerten orthodoxen Jugendzeitschrift, sprach von den neuen Herausforderungen des Säkularismus an die Gesellschaft. Die Historikerin Olga Vasileva ging auf die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils ein und Adriano dell'Asta von der Katholischen Universität Mailand stellte den Beitrag der religiösen russischen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Eine Byzantinologin der Staatlichen Universität Moskau, Olga Popova, hob schließlich die künstlerische Einheit der christlichen Welt des ersten Jahrtausends hervor, indem sie eine ideelle Linie von Ravenna nach Konstantinopel und Kiev aufzeigte.

Die unbekümmerte Selbstsicherheit der Freunde
Am Abend darauf gab es ein großes Fest. Claudio Chieffo bot ein glanzvolles Konzert. Die offenkundige Schönheit und Wahrheit, die von seinem Zeugnis ausging, begeisterte und bewegte Russen wie Italiener. Ihn singen zu hören und mit ihm zu singen, bedeutete erneut, die Erfahrung des Volkes zu erleben. Und alle erkannten sich ganz unmittelbar ihm zugehörig, selbst Bekannte und Studenten, die zum ersten Mal eingeladen waren. Es war ein Volk, das seine ersten Schritte in der Kraft jener "unbekümmerten Selbstsicherheit" einer Freundschaft tat, die es leitet.