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Don Giussani
Das abhängige Ich
Luigi Giussani

L. Giussani, Der religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 121-128

Wenn ich aufmerksam, das heißt reif bin, dann kann ich nicht bestreiten, dass die stärkste und tiefste Einsicht für mich darin besteht, dass ich mich nicht aus mir schaffe, mich jetzt nicht selber mache. Ich gebe mir das Sein nicht, auch die Wirklichkeit nicht, die ich bin; ich bin mir „gegeben“. Dies ist der Augenblick der Reife, in dem ich mich selbst als von etwas anderem abhängig entdecke.
Wenn ich in mich hinabblicke, bis auf den Grund, woher entspringe ich? Nicht aus mir selbst, aus anderem. Ich erfahre mich als Strahl, der einem Springquell entspringt. Es gibt da etwas Anderes, das mehr ist als ich und von dem ich hervorgebracht werde. Wenn das aus einer Quelle fließende Wasser denken könnte, es würde auf dem Grund seines immer frischen Hervorsprudelns einen Ursprung wahrnehmen, den es nicht kennt; etwas von ihm Verschiedenes.
Es handelt sich hier um eine Einsicht, die der menschliche Geist in seinen scharfsinnigsten Ausprägungen im Laufe der Geschichte immer wieder gemacht hat, nämlich die Intuition jener geheimnisvollen Wirklichkeit, die den Bestand seines flüchtigen Daseins, seines Ichs überhaupt ermöglicht. Ich bin „der-Du-mich-machst“. Nur ist dieses „Du“ noch gänzlich ohne Antlitz, und doch verwende ich dieses Wort „Du“, weil es in meiner menschlichen Erfahrung das am wenigsten unangemessene ist, um jene unbekannte Gegenwart zu bezeichnen, die unvergleichlich über meine menschliche Erfahrung hinausreicht. Was für ein anderes Wort sollte ich sonst verwenden?
Wenn ich auf mich selbst schaue und erkenne, dass ich mich jetzt, in diesem Augenblick nicht selbst schaffe, dann kann ich - ich mit aller Bewusstheit und Zuneigung, die in diesem Wort mitschwingt - mich jenem Ding, das mich schafft, jener Quelle, aus der ich in jedem Augenblick hervorkomme, nicht anders zuwenden als mit dem Wort „Du“. „Du, der-du-mich-schaffst“ ist das, was die religiöse Überlieferung Gott nennt; das, was mehr ist als ich, was mehr Ich ist als ich selbst; das auf Grund dessen ich bin.
Darum steht in der Bibel, Gott sei „tarn pater nemo“(Vgl. Dt 32, 16; Jes 63, 16; 64, 7; Mt 6, 9; l Kor 8, 6; 2 Kor 6, 18): so Vater wie keiner. Denn der Vater, den wir aus Erfahrung kennen, ist der, der den Anstoß, den Beginn zu einem Leben gibt, das sich vom allerersten Augenblick an, da es ins Sein tritt, ablöst und eigene Wege geht.
Als ich noch ein ganz junger Priester war, kam regelmäßig eine Frau zu mir zum Beichten. Dann sah ich sie eine Zeit lang nicht mehr. Als sie wiederkam, sagte sie mir: „Ich habe ein zweites Töchterchen bekommen“. Und ohne dass ich ihr etwas erwidert hätte, fügte sie hinzu: „Wenn Sie wüssten, was mich zutiefst beeindruckt hat! Kaum war ich mir bewusst, dass ich entbunden hatte, dachte ich nicht etwa daran, ob es ein Junge sei oder ein Mädchen, ob es gesund sei oder nicht, sondern mein erster Gedanke war: , Schau da, es beginnt schon, sich davonzumachen!“'.
Gott aber ist Vater in jedem Augenblick, er bringt mich jetzt hervor. Kein Mensch ist Vater, Erzeuger in diesem Sinne.
Das Selbstbewusstsein nimmt am Grund seiner selbst einen Anderen wahr. Darin besteht das Gebet: das tiefste Bewusstsein seiner selbst, das an einen Anderen stößt. So ist das Gebet die einzige menschliche Gebärde, in der die Größe des Menschen ganz verwirklicht ist.
Das Ich, der Mensch, ist die Stufe der Natur, wo diese sich bewusst wird, dass sie sich nicht selbst schafft, so dass der gesamte Kosmos gleichsam die weite Peripherie meines Leibes bildet, in bruchloser Kontinuität. Man kann auch sagen: Der Mensch ist jene Stufe der Natur, wo diese die Erfahrung der eigenen Kontingenz macht. Der Mensch erfährt sich als kontingent: Er hat Bestand durch etwas anderes, denn er schafft sich nicht selbst. Ich stehe aufrecht, weil ich mich auf einen anderen stütze. Ich bin, weil ich gemacht bin. So wie meine Stimme: Sie ist der Widerhall einer von mir hervorgerufenen Schwingung, unterbreche ich diese Schwingung, so gibt es auch die Stimme nicht mehr. Oder wie Quellwasser, das ganz dem Quell entstammt. Oder wie eine Blume, die in allem von der Triebkraft der Wurzel abhängt.
Also sage ich nur dann bewusst und meinem menschlichen Wesen voll entsprechend „ich bin“, wenn ich damit meine: „Ich bin geschaffen“. Von dem eben Gesagten hängt das letzte Gleichgewicht des Lebens ab. Da die natürliche Wahrheit des Menschen, wie wir gesehen haben, in seiner Geschöpflichkeit besteht, ist der Mensch ein Wesen, ein Wesen, das da ist, weil es immer schon in Besitz genommen ist. Und nur wenn er anerkennt, dass er in Besitz genommen ist, atmet er ganz durch, fühlt sich wohl und glücklich.
Das wahre Selbstbewusstsein wird treffend dargestellt durch das Kind in den Armen seines Vaters und seiner Mutter, denn so kann es jeder Situation des Daseins in tiefer Ruhe und mit Aussicht auf Freude begegnen. Kein Heilverfahren kann derartiges für sich in Anspruch nehmen, ohne dabei den Menschen zu verstümmeln. Denn um sich vom Makel bestimmter Verwundungen zu befreien, unterdrückt der Mensch oft sein eigenes Menschsein.
Deshalb dienen alle Regungen der Menschen, sofern sie nach Frieden und Freude streben, der Suche nach Gott, nach Dem, der vollkommener Bestand ihres Lebens ist.