Don Giussani
Christus anerkennen
Luigi Giussani
L.Giussani, Die Zeit und der Tempel, Edition Nuovo Mondo, Milano 1996, S. 33-39
Die Meditation von heute
Vormittag endete mit der lebenswahren Aussage von Kafka: „Es
gibt ein Ziel, aber keinen Weg.“ (Franz Kafka,
Aphorismen-Zettelkonvolut Nr. 26, in: Nachgelassene Schriften und
Fragmente H, Fischer 1992, S. 118). Man kann es nicht leugnen: Es
gibt etwas Unbekanntes (die alten Kartographen zeichneten
gewissermaßen als Analogie dieses Unbekannten die berühmte
„Terra incognita“ auf, mit der ihre Landkarten aufhörten;
an den Rand ihrer Landkarten schrieben sie: „unbekanntes
Land“). Am Rand der Wirklichkeit, die das Auge umfasst, die das
Herz verspürt, die der Geist sich vorstellt, gibt es etwas
Unbekanntes. Jeder spürt es. Alle haben es stets verspürt.
Zu allen Zeiten haben die Menschen dies so tief verspürt, dass
sie es sich auch irgendwie vorgestellt haben. Zu allen Zeiten haben
die Menschen versucht, sich durch tiefgründige Arbeit oder
durch Phantasie das Antlitz dieses Unbekannten vorzustellen, es
auszumachen. (...)
Geschichtlich gesehen ist das,
was Kafka sagte („...es gibt keinen Weg“), nicht wahr.
Man könnte paradoxerweise sagen, dass es theoretisch wahr,
geschichtlich jedoch nicht wahr ist. „Das Geheimnis kann
man nicht kennen!“ Das ist theoretisch wahr. Aber wenn das
Geheimnis an deine Tür klopft... „Wer mir die Tür
öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl
halten“ (Offb 3, 20): Das sind Worte der Heiligen Schrift,
Worte Gottes in der Heiligen Schrift. Und es hat sich tatsächlich
ereignet.
Das erste Kapitel des
Johannesevangeliums - es ist die erste Seite der Literatur, die davon
spricht - enthält außer der Verkündigung: „Das
Wort ist Fleisch geworden“ — das, woraus alles besteht,
ist Mensch geworden - die Erinnerung jener, die ihm sofort folgten,
die dem Drängen der Ingenieure und der Architekten
widerstanden. Auf einem Blatt hat einer von ihnen die ersten
Eindrücke festgehalten, die Züge des ersten
Augenblicks, in dem sich dieses Faktum ereignete. Das erste Kapitel
des Johannesevangeliums enthält in der Tat eine Reihe von
Notizen, die regelrechte Gedächtnisstützen sind. Einer der
beiden - schon alt geworden - liest in seinem Gedächtnis die
Notizen, die er aufbewahrt hat. Denn das Gedächtnis hat ein
eigenes Gesetz. Das Gedächtnis kennt als Gesetz keine
Kontinuität ohne Unterbrechungen, wie es beispielsweise für
eine Schöpfung der Phantasie gilt; das Gedächtnis
macht sich buchstäblich Notizen, wie wir es jetzt machen: ein
Wort, eine Zeile, ein Punkt. Und dieser Punkt meint so viele Dinge,
dass der zweite Satz dort ansetzt, wo das endet, was der Punkt
meinte. Die Dinge sind eher angedeutet als gesagt, nur einige werden
als Bezugspunkt genannt. Und so lese ich mit meinen siebzig Jahren
diese Dinge zum tausendsten Mal - und ohne eine Spur von Müdigkeit.
Stellt euch etwas vor - wenn ihr könnt -, das in sich
schwerwiegender, gewichtiger, bedeutender ist, was das Dasein des
Menschen in seiner scheinbaren Zerbrechlichkeit mehr herausfordert,
etwas, das für die Geschichte folgenschwerer ist als das, als
dieses Faktum.
„Am Tag darauf stand
Johannes wieder dort, und zwei seiner Jünger standen bei ihm.
Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn
und sagte: „Siehe, das Lamm Gottes.“ Stellt euch also
diese Szene vor. Nach hundertfünfzig Jahren des Wartens hatte
das jüdische Volk, das seine ganze Geschichte lang, zweitausend
Jahre lang, immer einen Propheten hatte - jemanden, der von allen als
Prophet anerkannt war -, nach hundertfünfzig Jahren also
hatte das jüdische Volk endlich wieder einen Propheten. Er hieß
Johannes der Täufer. Auch andere Schriften des Altertums
sprechen von ihm - es ist also geschichtlich belegt. Alle Leute -
reich und arm, Zöllner und Pharisäer, Freunde und Gegner —
kamen, um ihn zu hören und um zu sehen, wie er lebte, jenseits
des Jordan, in einer wüsten Gegend, wo er sich von Heuschrecken
und wilden Kräutern ernährte. Er hatte stets eine Schar von
Menschen um sich. Unter diesen Personen standen an jenem Tag zwei,
die zum ersten Mal da waren und die sozusagen vom Land kamen -
eigentlich kamen sie vom See, der ziemlich weit weg und abseits der
entwickelten Städte lag. Sie standen dort wie zwei Menschen vom
Land, die zum ersten Mal in die Stadt kommen und etwas verloren sind.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie alles, was geschah, und
vor allem ihn. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen
verfolgten sie jede seiner Bewegungen. Gespannt hörten sie, was
er sagte. Auf einmal tritt ein junger Mann aus der Schar und entfernt
sich auf dem Weg, der am Fluss entlang nach Norden führt.
Sofort richtet Johannes der Täufer seinen Blick auf Ihn und
ruft: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt
hinwegnimmt!“ Aber die Leute rührten sich nicht. Sie
waren schon an diese Ausbrüche des Propheten gewöhnt, der
sich ab und zu in seltsamen, unverständlichen Sätzen
ausdrückte, die eigentlich keinen Zusammenhang hatten.
Deshalb nahm die Mehrzahl der Anwesenden überhaupt keine
Notiz davon. Die beiden, die zum ersten Mal gekommen waren und
an den Lippen des Propheten hingen, die auf seine Augen schauten, die
seinen Blicken folgten, wohin er auch schaute, bemerkten, dass er
jenen Mann ins Auge fasste, der sich entfernte, und hefteten sich an
dessen Fersen. Sie folgten ihm in einigem Abstand, ängstlich und
verschämt, zugleich aber auf seltsame, tiefe, nicht
greifbare, suggestive Weise neugierig. „Die beiden Jünger
hörten, was er sagte, und folgten Jesus. Jesus aber wandte sich
um, und als er sah, dass sie ihm folgten, fragte er sie: „Was
wollt ihr?“ Sie sagten zu ihm: „Rabbi, wo wohnst du?“
Er antwortete: „Kommt und seht!“„ Das ist die
Formel, die christliche Formel! Die Methode des Christentums
besteht darin: „Kommt und seht!“ „Da gingen
sie mit ihm und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei
ihm; es war um die zehnte Stunde.“ Es wird nicht gesagt, wann
sie losgingen, wann sie ihm folgten. Der ganze Text, auch der darauf
folgende, besteht aus Notizen, wie ich vorhin sagte: Die Sätze
enden mit einem Punkt, der davon ausgeht, dass man vieles weiß.
Beispielsweise: „Es war um die zehnte Stunde“, also um 16
Uhr. Als sie weggingen, als sie hingingen, wer weiß?
Jedenfalls war es gegen 16 Uhr. „Andreas, der Bruder des Simon
Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört
hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder
Simon...“ Andreas traf als ersten seinen Bruder Simon, der
gerade vom Fischen oder Trocknen der Netze vom Strand zurückkam.
„Er sagte ihm: „Wir haben den Messias gefunden.“ Es
wird nichts weiter erzählt, nichts berichtet, alles ist
schon bekannt, es ist klar, es sind Notizen von etwas, das alle schon
wissen! Es gibt wenige Seiten, die so realistisch, so einfach hin
wahr sind, wo der einfachen Erinnerung kein Wort hinzugefügt
ist.
Wie kam Andreas dazu zu sagen:
„Wir haben den Messias gefunden.“? Jesus hat im
Gespräch mit ihnen wohl selbst diesen Begriff verwendet,
den sie schon kannten; denn sonst wäre es nicht möglich
gewesen, dass Andreas einfach erklärte, „das ist der
Messias“, so wie man sagt, dass „zwei und zwei vier
ist“. Aber während sie stundenlang mit diesem Mann
sprachen, ihm beim Reden zusahen, ihn anschauten - Wer sprach
sonst so? Wer hatte je so gesprochen? Wer hatte jemals solche Dinge
gesagt? Nie hatte man so etwas gehört oder so jemanden gesehen!
- während sie also mit ihm zusammen waren, festigte sich langsam
in ihnen die Überzeugung: „Wenn ich diesem Mann nicht
glaube, kann ich niemandem mehr glauben, nicht einmal den
eigenen Augen.“ Sie dachten oder sagten das zwar nicht, aber
sie spürten es: Sie haben es gespürt, nicht gedacht.
Jener Mann wird wohl unter anderem gesagt haben, dass er es sei, der
da kommen sollte, der Messias, der kommen sollte. Aber das war
etwas so Selbstverständliches gerade aufgrund der
Außerordentlichkeit dieser Aussage, dass sie es aufnahmen
wie etwas ganz Einfaches - und es war etwas Einfaches! - wie etwas
leicht Verständliches.
„Andreas führte ihn
zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des
Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels.“
Die Juden pflegten Namen zu ändern, um den Charakter einer
Person zu bezeichnen oder wegen eines bedeutenden Ereignisses im
Leben eines Menschen. Stellt euch also Simon vor, der ganz neugierig
und etwas verschüchtert mit seinem Bruder daherkam und den
Mann anschaute, zu dem ihn sein Bruder führte. Jener schaute ihn
schon von weitem an. Stellt euch vor, wie Er ihn ansah, so dass Er
sein Wesen bis ins Tiefste erfasste: „Du sollst Fels heißen.“
Stellt euch vor, was es heißt, von einem vollkommen Fremden,
Unbekannten so angeschaut zu werden, dass er sich bis auf den Grund
seiner Seele erkannt wusste. „Am Tag darauf wollte Jesus nach
Galiläa aufbrechen...“ Es ist eine halbe Seite, die
so abgefasst ist: kurze Notizen, ein paar Punkte, die alles als
bekannt voraussetzen, was geschehen ist, so als ob es allen bekannt
wäre, als ob es für alle offensichtlich wäre.
„Es gibt ein Ziel, aber
keinen Weg.“ Nein! Ein Mann, der gesagt hat: „Ich bin der
Weg“, ist eine geschichtliche Tatsache, die sich ereignet
hat, deren erste Beschreibung auf dieser halben Seite
zusammengefasst ist, die ich gerade angefangen habe, zu lesen.
Und jeder von uns weiß, dass es geschehen ist. Nichts ist auf
der Welt geschehen, was so unerdenklich und außergewöhnlich
ist, wie dieser Mann, von dem wir sprechen: Jesus von Nazareth.
Aber wie konnten diese zwei, die
ersten beiden, Johannes und Andreas - Andreas war sehr wahrscheinlich
verheiratet und hatte Kinder - so schnell von Ihm ergriffen werden.
Ihn so schnell anerkennen (es gibt kein anderes Wort, das hier
passt: ihn anerkennen)? Und ich meine, wenn sich diese
Tatsache ereignet hat, musste es einfach sein, jenen Mann zu
erkennen, d. h. zu erkennen, wer jener Mann war, nicht wer er bis ins
Letzte und ganz genau war, aber anzuerkennen, dass jener Mann
etwas Außergewöhnliches war, etwas Ungewöhnliches -
er war überhaupt nicht gewöhnlich - keiner Analyse
unterziehbar: All das anzuerkennen, musste einfach sein.
Wenn Gott Mensch würde, zu
uns käme, wenn er jetzt käme, wenn er sich in unsere Schar
eingeschlichen hätte, wenn Er hier unter uns wäre, müsste
es einfach sein, Ihn zu erkennen, - a priori meine ich
- einfach. Ihn in seinem göttlichen Wert zu erkennen. Warum ist
es einfach, Ihn zu erkennen? Wegen einer Außergewöhnlichkeit,
wegen einer unvergleichlichen Außergewöhnlichkeit. Ich
habe etwas Außergewöhnliches vor mir, einen
außergewöhnlichen Menschen, mit nichts vergleichbar.
Was heißt außergewöhnlich? Was bedeutet das?
Warum trifft dich das Außergewöhnliche? Warum empfindest
du etwas Außergewöhnliches als außergewöhnlich?
Weil es den Erwartungen deines Herzens entspricht, so
konfus und unklar sie auch sein mögen. Es entspricht
unversehens — unversehens! — den Bedürfnissen deines
Gemüts, deines Herzens, den unwiderstehlichen, unleugbaren
Bedürfnissen deines Herzens, wie du es dir nie hättest
vorstellen oder ausdenken können, denn es gibt niemanden
wie diesen Mann. Das Außergewöhnliche ist also
paradoxerweise das Erscheinen dessen, was für uns das
Natürlichste ist. Was ist natürlich für mich?. Dass
das, was ich ersehne, geschieht. Nichts ist natürlicher als das!
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