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Don Giussani
Assago 1987. Religiöser Sinn, Werke, Politik
Luigi Giussani

Vortrag von Don L. Giussani, 6. Februar 1987 in Assago / Italien auf Einladung der damals noch bestehenden Democrazia Cristiana, in: Litterae 1/1994 pro manuscripto)

Als umfassendste Form von Kultur kann die Politik nicht anders, als sich in erster Linie um den Menschen zu kümmern. In seiner Rede vor der UNESCO sagte Papst Johannes Paul II.: „Die Kultur steht immer in wesentlicher und notwendiger Beziehung zu dem, was der Mensch ist.“ (Johannes Paul II. Ansprache vor der UNESCO am 2. Juni 1980).

1. Es ist nun äußerst interessant, zu beobachten, dass es im Menschen einen Punkt gibt, in dem er wirklich eins ist: sein Ich. In der genannten Rede betont der Papst die Notwendigkeit, „in der Kultur immer den ganzen Menschen, den Menschen in der ganzen Wirklichkeit seiner geistigen und körperlichen Subjektivität zu betrachten“ und „der Kultur - diesem echt menschlichen System, dieser glänzenden Synthese von Geist und Körper - nicht länger die auf Vorurteilen beruhenden Spaltungen und Gegensätze vorzuziehen.“
Was aber bestimmt diese Einheit des Menschen, was verleiht ihr ihre Form? Es ist jenes dynamische Moment im Menschen, das durch die Fragen und grundlegenden Bedürfnisse, in denen es sich zum Ausdruck bringt, die persönlichen und sozialen Äußerungen der Menschen lenkt und leitet. Dieses dynamische Moment, diesen grundlegenden Faktor, der sich in Fragen, Forderungen und Ansprüchen mit persönlicher und sozialer Dimension bemerkbar macht, nenne ich kurz ‘religiösen Sinn’.
Der religiöse Sinn verleiht dem Menschen Einheit. Ich erinnere daran, dass der heilige Paulus im 17. Kapitel der Apostelgeschichte (vgl. Apg 17, 26-28) die große und unaufhaltsame Unrast der Völker als Suche nach Gott beschreibt.
Der religiöse Sinn scheint mir, so gesehen, der Quell zu sein, aus dem die Werte entspringen. Letztlich ist nämlich etwas ein Wert, wenn es zwischen etwas Kontigentem und der Totalität, dem Absoluten eine Beziehung herstellt. Und die Verantwortung des Menschen spielt sich darin ab, auf die Fragen eine Antwort zu finden, die sich der religiöse Sinn oder - biblisch gesprochen - ‘das Herz’ stellt, wenn es auf die Wirklichkeit trifft, die diese Fragen auf allerlei Art anregt.

2. Bei der Ausübung dieser Verantwortung gegenüber den Werten hat es der Mensch mit der Macht zu tun. Unter „Macht“ verstehe ich, was Romano Guardini in seinem gleichnamigen Buch definiert als Entwurf eines gemeinsamen Zieles und die Organisation der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen (vgl. Romano Guardini: Die Macht. Versuch einer Wegweisung, 1951).
Nun ist die Macht entweder von dem Willen dazu bestimmt, der Schöpfung Gottes bei ihrer dynamischen Entfaltung zu dienen (das heißt dem Menschen, der Kultur und dem sich daraus ergebenden Handeln), oder aber die Macht neigt dazu, die menschliche Wirklichkeit auf das zu reduzieren, was sie schon im Voraus als eigenes Bild von der Entfaltung des Wirklichen, das heißt der Geschichte festgelegt hat.
Auf diese Weise entsteht ein Staat, der sich als Quelle aller Rechte darstellt und damit den Menschen auf einen „Teil der Natur oder als anonymes Element in der menschlichen Gesellschaft“ (Gaudium et Spes 14,2) reduziert, wie es die Konzilskonstitution Gaudium et spes sagt.

3. Ich möchte auf die eben angedeutete unheilvolle Möglichkeit näher eingehen. Wenn die Macht allein auf das Erreichen ihres eigenen Plans ausgerichtet ist, dann muss sie versuchen, die Sehnsüchte des Menschen zu beherrschen. Die Sehnsucht ist in der Tat das Emblem der Freiheit, denn sie öffnet den Horizont der Kategorie der Möglichkeit. Das Problem der Macht - in dem hier gebrauchten Sinne - besteht indessen darin, sich den größtmöglichen Konsens einer Masse zu sichern, deren Bedürfnisse schon immer mehr festgelegt sind. So erfahren die Sehnsüchte des Menschen und folglich die Werte eine wesentliche und systematische Verkürzung.
Die Massenmedien und die Schulen übernehmen dabei die Aufgabe, bestimmte Sehnsüchte auf verbissene Weise einzutrichtern und andere zu übergehen oder auszulöschen. In seiner Enzyklika Dives in Misericordia stellt der Papst fest, dass die Tragödie unserer Zeit im Verlust der Gewissensfreiheit bei ganzen Völkern bestehe, die das Ergebnis eines zynischen Gebrauchs der Kommunikationsmittel durch jene ist, die über die Macht verfügen.“ (vgl. Dives in Misericordia, 11).

4. Was folgt aus all dem? Das Panorama des gesellschaftlichen Lebens wird immer uniformer und trister: Es herrscht die große „Homologisierung“ [Gleichmacherei, A.d.R.] von der Pasolini sprach (Vgl. P.P. Pasolini: Scritti corsari. S. 23, 41, 45ff., 50 u. 54).Eine Situation, die man mit folgender Formel beschreiben könnte: M [= die Macht] läuft Gefahr, direkt proportional zu O [= zur Ohnmacht] zu werden. Wer die Macht hat, hätte dann regelrecht die Vorherrschaft angesichts der allgemeinen Ohnmacht, die man vermittels der systematischen Reduktion der Sehnsüchte, der Bedürfnisse und Werte anstrebt. (...)
In der Verflachung der Sehnsucht haben die Verwirrung der Jugendlichen und der Zynismus der Erwachsenen ihre Ursache. Welche Alternative bietet sich angesichts der allgemeinen Asthenie [Kraftlosigkeit, A.d.R.] als Ausweg? Ein rastloser Voluntarismus ohne Perspektive, ohne Genialität und Flexibilität einerseits; ein Moralismus andererseits, der im Staat den letzten Halt innerhalb der menschlichen Unbeständigkeit erblickt und ihn daher stützt.

5. Will man eine Kultur der Verantwortlichkeit pflegen, muss man im Menschen jene Ursehnsucht wachhalten, aus der alle Sehnsüchte und Werte entspringen: die Beziehung zum Unendlichen, die die Person zu einem handelnden Subjekt in der Geschichte macht. Man muss vom religiösen Sinn ausgehen.
Dieser Ausgangspunkt führt die Menschen dazu, sich zusammenzuschließen. Und dies nicht nur provisorisch aufgrund eigennütziger Berechnungen, sondern substanziell, das heißt zu einem Zusammenschluss von überraschender Vollständigkeit und Freiheitlichkeit: Die Kirche ist hierfür exemplarisch. Das Entstehen von Bewegungen ist Zeichen solcher Lebendigkeit, Verantwortlichkeit und Kultur, die das gesamte Gemeinwesen dynamisieren.
Es gilt zu beachten, dass die Bewegungen unfähig sind, im Abstrakten zu verbleiben. Trotz der Trägheit oder des Mangels an Intelligenz bei denen, die sie vertreten oder die an ihrem Leben teilnehmen, erweisen die Bewegungen tendenziell ihre Authentizität dadurch, dass sie auf die Bedürfnisse eingehen, in denen sich die Sehnsüchte inkarnieren. Sie tun dies, indem sie wirksame Strukturen erfinden und schaffen, die vernetzt sind und zum rechten Zeitpunkt kommen: Wir nennen dies ‘Werke’, (Formen neuen Lebens für den Menschen) wie es Johannes Paul II. beim Meeting in Rimini 1982 sagte: Die Werke tragen effektiv zur Neugestaltung der sozialen Verhältnisse bei, sie erneuern die sozialen Bindekräfte. (...)
Die Politik muss sich deshalb entscheiden, ob sie eine Gesellschaft vorzieht, die ausschließlich ein manipulierbares Instrument des Staates ist, ein Objekt seiner Macht also, oder ob sie einen Staat vorzieht, der wirklich laikal