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Don Giussani
Ansprache von Julián Carrón
Julián Carrón

Ansprache von Julián Carrón während des Requiems von Don Luigi Giussani am 24. Februar 2005 im Mailänder Dom

Am 30. Mai 1998 sagte Don Giussani auf dem Petersplatz vor Johannes Paul II.: „Für mich ist die Gnade Jesu … zur Erfahrung eines Glaubens geworden, aus dem sich – wie ich beobachten konnte – ein Volk im Namen Christi bildete“. Heute sehen wir hier das Volk, das auf Grund eben dieser Erfahrung des Glaubens von Don Giussani entstanden ist. Dieses Faktum, dieses Volk, bringt besser als alle Worte zum Ausdruck, was Gott durch ihn gewirkt hat.
Deswegen sind wir alle heute hier, um unseren Schmerz darüber auszudrücken, dass er nicht mehr unter uns ist, und um allen von unserer Dankbarkeit für sein Leben zu künden. Die Bedeutung, die seine Person für jeden von uns hat, ist so groß wie der Schmerz, den wir heute erfahren. Lieber Don Giussani, du bist mit uns, unser ganzes Leben hindurch wirst du uns präsent sein. Die Leidenschaft für das Leben, die wir auf dem gemeinsamen Weg mit dir in uns wahrgenommen haben, werden wir nie vergessen können. Dein Blick auf uns wird uns immer lebendig vor Augen stehen. Jener Blick, durch den wir uns von Jesus selbst angeschaut fühlten. Ja, denn Er ist es, Jesus, der dem Blick, mit dem du uns angeschaut hast, Gestalt verliehen hat.
Dadurch, dass wir mit seiner Erfahrung des Glaubens in Berührung gekommen sind, haben wir voller Staunen beobachten können, wie sich in uns etwas Unvorstellbares, zugleich aber auch insgeheim Ersehntes ereignete. Dieselbe menschliche Ergriffenheit, die das ganze Evangelium durchzieht, haben wir überrascht auch in uns wahrgenommen. Wir waren gezwungen, uns einer Neuheit zu ergeben, die sich niemand von uns vorher hätte vorstellen können. Und wie die Jünger haben auch wir uns öfter bei der Aussage ertappt: „So etwas haben wir noch nie gesehen.“ (Mk 2, 12). So haben wir durch die Erfahrung gelernt, was das Christentum ist: ein Ereignis. Das Ereignis einer Begegnung, die dem Menschen eine Fülle, der Zeit eine Dichte verleiht, sowie eine Intensität in den Beziehungen ermöglicht; eine Fähigkeit, Initiative zu ergreifen und etwas aufzubauen, auf die man anderswo so nicht stößt. Ja, es ist wahr: Wir sind Jesus begegnet und haben die Erfahrung des Hundertfachen auf Erden gemacht und machen sie weiterhin. Deswegen hat Don Giussani immer alles auf unsere Freiheit setzen wollen.
So haben wir durch ihn Jesus kennen und lieben gelernt. Nicht einfach durch Worte, sondern indem er uns Jesus durch seine Erfahrung mitgeteilt und dazu eingeladen hat, diese Erfahrung zu teilen, damit wir ihren Anspruch verifizieren konnten. Christus ist für uns immer faszinierender geworden, die alles entscheidende Gegenwart. Und immer wieder mussten wir sagen: „Auch wenn ich jetzt noch im Fleisch lebe, so lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2, 20). So hat er uns in Christus neu hervorgebracht.
Man kann hier wirklich von einer „Zeugung“ sprechen, von einer Vaterschaft! Deswegen werden wir die Beziehung zu Jesus, das Gedächtnis Jesu, der der Bestand allen Seins ist, nicht mehr leben können, ohne dabei an Don Giussani zu denken. Jetzt mehr denn je. Wir werden ihn immer neben ihm, Jesus, vor Augen haben, wenn wir morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, den Sonnenuntergang betrachten oder mit unserer Frau, unserem Mann oder Freunden zusammen sind. Unser Glaube an Jesus hat Gestalt gewonnen und nimmt weiterhin Gestalt an durch die Präsenz Don Giussanis, durch seinen Blick, seinen Geschmack am Leben.
Diesen Glauben kennzeichnet eine unermessliche Wertschätzung der Vernunft des Menschen: Der Glaube sieht sich als die Vollendung der Vernunft, ungeschuldet blüht er dort auf, wo die Vernunft ihren Gipfel erlangt hat. Aus dem Glauben erwächst im Gehorsam gegenüber der Kirche ein neuer Blick auf die Welt sowie ein neues Urteil über die Welt. Der Glaube bewirkt eine aufrichtigere Zuneigung zur Bestimmung des Menschen, gleich ob er uns nun nahe steht oder ein Fremder ist. Zugleich schließt der Glaube eine Offenheit für jeden Funken Wahrheit ein und einen Drang zur Mitteilung, der dem Verlangen entspringt, dass alle Christus kennen lernen mögen.
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Ps 8). Dass ein so zerbrechliches Geschöpf wie ein Mensch durch sein „Ja“ zu Christus für viele Tausende von Menschen weltweit so bedeutend wird, kann nicht anders als überraschen! Vielen mag diese Methode befremdlich erscheinen. Dass der Sinn des Lebens, der Sinn der wichtigsten Beziehungen, der Sinn von Zeit und Raum, von schöpferischem Tun und Erholung, durch das Fleisch also durch etwas Sterbliches hindurch sich mitteilt, ist in den Augen der Weisen dieser Welt sicherlich skandalös.
Es zeugt von der unendlichen Barmherzigkeit des Vaters, dass er durch die Leben spendende Kraft des Geistes eine Vorliebe erweckt, um sich dem Menschen zu erkennen zu geben, ihn zur Anerkennung herauszufordern und so zu retten; dass er also ein Charisma hervorbringt, das so ungemein faszinierend ist, dass es Personen in die Nachfolge Christi ruft. So verwirklicht sich die Methode der Inkarnation auf intensive Art und Weise. Nur das zur Gegenwart gewordene Geheimnis, das den Menschen affektiv anzuziehen vermag, kann dem Menschen die Klarheit und die angemessene affektive Energie verleihen, das Geheimnis in sich Wohnung nehmen zu lassen.
Diese Methode führt dazu, dass sich das Staunen angesichts der Initiative eines Anderen immer wieder neu ereignet. Deswegen kennzeichnet es unsere Weggemeinschaft, wie Don Giussani immer wieder betont hat, dass sie uns im Schoß der Weltkirche zu unserer Bestimmung hin begleitet. Die Einheit unter uns ist die kostbarste Gabe, die aus dem „Ja“ zu dieser Initiative hervorgeht. Im Hinblick auf die Verantwortung, die Don Giussani mir übertragen hat, bitte ich um die Gnade, dieser Gabe der Einheit dienen zu können. Ich bin mir sicher, dass wir - wenn wir in Einfachheit nachfolgen - Don Giussani mehr denn je als Vater erfahren werden.
Vertrauen wir unsere Geschichte der Gottesmutter an, der „Gewissheit unserer Hoffnung“.

„Veni, Sancte Spiritus, veni per Mariam“.