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Don Giussani
Fluchtpunkt
Luigi Giussani

Luigi Giussani bei einer Begegnung mit Schülern von CL in Rimini am 13. September 1992, in: Litterae 4/1992, pro manuscripto

Das also war in jenem unbewussten Schauder, den ich erlebt hatte, kaum merklich angeklungen und enthalten. Als aber dann im folgenden Schuljahr mein ausgezeichneter Philosophielehrer mit uns Leopardi las, erfuhr ich unerwarteterweise eine Bestätigung, ja darüber hinaus eine Ausweitung jenes Eindrucks, den ich während des Gesangs der La Favorita von Donizetti gewonnen hatte. Ich erinnere mich noch heute an die Lektüre des Gedichts Ad Aspasia, in dem der Dichter sich an eine der vielen Frauen wendet, in die er sich verliebt hat und sagt (ich zitiere frei): „Nicht dein Gesicht ist es, wonach mich verlangt, sondern etwas, das in ihm liegt. Nicht dein Körper ist es, wonach ich mich sehne, sondern etwas, wofür dein Körper Zeichen ist, etwas, das hinter dir steht. Und ich weiß nicht, wie ich es erreichen soll.“ Es ist - und dieser Gedanke war mir völlig klar - als ob wir das, was wir mit gieriger Hand ergreifen, nicht festhalten könnten, weil uns die Grenzen dessen, was wir ergreifen, entgleiten. Es gibt - so würde ich heute sagen - eine Art Fluchtpunkt, etwas, das den Gegenstand, den wir ergreifen, bei weitem übersteigt, so dass wir ihn nie genügend festhalten können. Deswegen bleibt immer eine unerträgliche Ungerechtigkeit, die wir vor uns selbst zu verstecken suchen, indem wir uns zerstreuen. Sich den eigenen Instinkten hingeben, ist die tückischste Art, sich dieser Öffnung zu verschließen, die alles von uns verlangt, zu der alles uns drängt.