Don Giussani
Frau, weine nicht!
Luigi Giussani
Bewegt von einem tiefen Mitleid für alle Leiden der
Menschenbrüder.
Mitschrift des Schlussworts von Luigi Giussani bei den Exerzitien
der Fraternität von Comunione e Liberazione.)
An jenem Abend wurde Jesus
aufgehalten auf dem Weg zum Dorf, in das er gehen wollte. Unterwegs
wurde er angehalten. Er hörte das laute Weinen einer Frau. Ihr
Schmerzensschrei durchdrang die Herzen aller, die da waren. Aber er
bewegte vor allem das Herz Christi. „Frau, weine nicht!“
Er hatte sie vorher nie gesehen, nie gekannt. „Frau, weine
nicht!“ Welche Hilfe konnte jene Frau erfahren, die die Worte
hörte, die Jesus an sie richtete? „Frau, weine nicht!“:
Dieses Wort gilt, wenn man nach Hause zurückkehrt, mit der
Straßenbahn fährt, wenn man in den Zug einsteigt,
wenn man die Autoschlangen sieht, wenn man an all die verworrenen
Dinge denkt, die das Leben von Abermillionen Menschen beschäftigen.
Wie entscheidend ist der Blick, den ein Kind oder ein Erwachsener auf
diesen Mann gerichtet hätten, der der Gruppe von Freunden
vorausging, diese Frau aber niemals gesehen hatte. Aber er hielt
inne, als der Klang, der Widerhall des Weinens bis zu ihm drang!
„Frau, weine nicht!“. Es war, als habe sie niemand
je tiefer, umfassender und endgültiger gekannte oder wieder
erkannt! „Frau, weine nicht!“ Wie ich bereits gesagt
habe, wenn wir auf das gesamte Treiben der Welt blicken, in dessen
Strom und in dessen Verästelungen die Menschen dem Leben gewahr
werden und sich das Leben vergegenwärtigen, dann ist die
eigentliche Frage keine andere, als jene, wie es möglich war, zu
dieser Neuheit zu kommen. Diese Neuheit, die darin besteht, dass man
einen Menschen trifft, jemanden, den man zuvor nie gesehen hat, und
der angesichts des Schmerzes jener Frau, die er zum ersten Mal sieht,
ausruft „Frau, weine nicht!“ - „Frau, weine
nicht!“ - „Frau, weine nicht!“: Dies zeichnet
das Herz aus, mit dem wir auf die Dinge schauen und vor der
Traurigkeit stehen, vor dem Schmerz aller Leute, mit denen wir in
Beziehung treten, auf der Straße oder unterwegs, auf all
unseren Reisen. „Frau, weine nicht!“ Wie unvorstellbar
ist es, dass Gott - „Gott“, der, der in diesem Augenblick
die ganze Welt schafft - während er den Menschen hört und
anblickt, sagen kann: „Mensch, weine nicht!“ - „Du,
weine nicht!“, weine nicht, denn ich habe dich nicht für
den Tod, sondern für das Leben geschaffen! Ich habe dich in die
Welt gesetzt und ich habe dich in eine großartige Gemeinschaft
von Menschen gestellt!“ Frau, Mann, Mädchen, Junge, du,
ihr alle weint nicht! Weint nicht! Es gibt einen Blick, ein Herz, das
euch bis ins Mark durchdringt und bis in eure Bestimmung hinein
liebt. Es ist ein Blick und ein Herz, das niemand ablenken kann.
Niemand kann verhindern, dass es das sagt, was es denkt, und das
sagt, was es fühlt. Niemand kann ihm diese Macht nehmen.
„Gloria Dei vivens homo“, die Herrlichkeit Gottes, die
Größe dessen, der die Sterne am Himmel und jeden Tropfen
des Meeres schafft und es in Blau hüllt, ist der lebendige
Mensch. Nichts kann diese unmittelbare Kraft der Liebe aufheben,
diese Kraft der Anhänglichkeit, der Wertschätzung und der
Hoffnung. Denn er ist für jeden, der ihn gesehen hat und der ihn
sagen hörte „Frau, weine nicht!“, zur Hoffnung
geworden; für jeden, der Jesus auf diese Weise sagen hörte
„Frau, weine nicht!“. Nichts kann die Gewissheit einer
geheimnisvollen und gütigen Bestimmung aufheben! Wir sind
zusammen, um uns gegenseitig zu sagen: „Du, ich habe dich zwar
noch nie gesehen und weiß nicht, wer du bist, doch weine
nicht!“ Denn das Weinen ist deine Bestimmung, es scheint deine
unausweichliche Bestimmung zu sein. „Gloria Dei vivens
homo“: die Herrlichkeit Gottes, die der Welt, ja dem Universum
Bestand gibt, ist der lebendige Mensch, jeder Mensch, der lebt,
die Frau, die weint, die Frau, die lächelt, das Kind, die Frau,
die als Mutter stirbt. „Gloria Dei vivens homo“: Wir
wollen nichts anderes als dies: dass die Herrlichkeit Gottes der
ganzen Welt offenbar wird und alle Bereiche der Erde berührt,
von den Blättern der Blumen bis zu den Herzen der Menschen. Wir
haben uns nie gesehen. Aber dies ist es, was wir unter uns sehen und
unter uns wahrnehmen. Ciao!
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