Don Giussani
Das größte Opfer ist die Hingabe des eigenen Lebens für das Werk eines Anderen
Luigi Giussani
Beitrag bei einer Versammlung der Verantwortlichen von CL, Februar
1992, in: Litterae 2/1992 - pro manuscripto
1. Sein Leben für das
Werk eines Anderen hingeben: Dieses „andere“ ist
geschichtlich, als Phänomen, als Gestalt eine bestimmte
Person. Was zum Beispiel die Bewegung betrifft, bin ich es. Aber
noch während ich das sage, verschwindet mein ganzes Ich
(weil der „Andere“ Christus in Seiner Kirche ist). Was
bleibt, ist ein geschichtlicher Bezugspunkt, ein Strom von
Worten und ein Meer von Werken, das aus dem ersten Augenblick am
Gymnasium Berchet hervorgegangen ist. Wer dies aus den Augen
verliert, verliert das zeitliche Fundament der Eintracht, der
Nützlichkeit unseres Tuns. Es ist, als ob einer Risse
ins Fundament ziehen würde.
2. Kaum ausgesprochen löst
sich das Wort „Ich“ schon wieder auf, verliert sich
in der Ferne. Denn der geschichtlich-beschreibbare,
photographierbare, genau mit Vor- und Nachnamen angebbare Faktor ist
dazu bestimmt, von der Bühne zu verschwinden, auf der eine
Geschichte beginnt. Jeder hat die Verantwortung des Charismas; jeder
ist Ursache für ein Verfallen oder für ein Wachstum des
Charismas in seiner Wirksamkeit. Jeder ist entweder ein Erdreich, auf
dem das Charisma verschwendet wird, oder ein Erdreich, auf dem es
Frucht bringt.
Daher ist dies ein Augenblick,
in dem das Bewusstwerden der eigenen Verantwortung eine Frage
von größtem Gewicht ist, als Dringlichkeit, als
Aufrichtigkeit und als Treue. Es ist die Zeit der Verantwortung
für das Charisma, die jeder zu übernehmen hat.
Wer diese Bemerkungen verdunkelt
oder abschwächt, verdunkelt und schwächt einen tiefen
Einfluss, den die Geschichte unseres Charismas auf die Kirche Gottes
und die Gesellschaft ausübt. Dieser Einfluss ist sehr groß
und ist dazu bestimmt, noch größer zu werden.
Das Wesen unseres Charismas
lässt sich an zwei Dingen festmachen:
- Vor allem die Verkündigung,
dass Gott Mensch geworden ist (das heißt das Staunen und die
Begeisterung darüber).
- Dass dieser Mensch gegenwärtig
ist in einem „Zeichen“ der Eintracht, der Communio, der
Einheit einer Weggemeinschaft, in der Einheit eines Volkes.
Wir könnten noch einen dritten grundlegenden Faktor hinzufügen,
um unser Charisma endgültig zu beschreiben: Nur im Mensch
gewordenen Gott, also nur in Seiner Gegenwart und folglich nur
- in gewisser Weise - durch die Gestalt, die Seine Gegenwart annimmt,
kann der Mensch Mensch sein und die Menschheit menschlich;
daher: Moralität und Mission.
3. Jeder von euch versetzt sich
auf seine ganz persönliche Art in das Charisma, für jeden
von euch gibt es eine persönliche Version des Charismas, zu
dem er berufen ist und dem er angehört. Je mehr jemand
Verantwortung für das Charisma übernimmt, um so mehr
bedient es sich unausweichlich seines Temperaments, durch jene
absolut einzigartige Berufung, die seine Person ist. Die Person
eines jeden besitzt ihre Konkretheit, die Konkretheit ihrer
Mentalität, ihres Temperaments, der Umstände, in denen sie
lebt und insbesondere ihrer Freiheit, von der sie sich bewegen lässt.
Deswegen kann jeder von euch mit
dem Charisma und seiner Geschichte letztlich machen, was er will: Er
kann es reduzieren, er kann es eines Teiles berauben, er kann gewisse
Aspekte zu Ungunsten anderer besonders betonen (und sie damit
monströs werden lassen), er kann es dem eigenen Vergnügen
oder dem eigenen Vorteil unterordnen, es aus Nachlässigkeit,
Eigensinn oder Oberflächlichkeit aufgeben, er kann es
preisgeben um eines einzelnen Aspektes willen, bei dem er sich
wohler fühlt und weniger Mühe hat. Da das Charisma sich mit
der Verantwortung eines jeden identifiziert, nimmt es eine
verschiedenartige und mehr oder wenige getreue Ausprägung
an, im Maße der Großherzigkeit eines jeden. Die Nähe
bemisst sich nach der Großherzigkeit, in der die Fähigkeiten,
das Temperament, die Neigungen etc. gründen. Das Charisma
wird entsprechend der Großherzigkeit eines jeden geformt.
Und dies ist das Gesetz der Großherzigkeit: Dass einer sein
ganzes Leben für das Werk eines Anderen hingibt.
Mit diesem dritten Punkt drängt
sich die entscheidende Frage auf: Jeder muss sich in jeder seiner
Handlung, an jedem seiner Tage, in jeder seiner Vorstellungen,
in jeder seiner Absichten, in all seinem Tun darum sorgen, die
Kriterien seines Handelns mit dem Bild des Charismas zu vergleichen,
wie es sich zu Beginn der gemeinsamen Geschichte gezeigt hat. Der
Vergleich mit dem Charisma, so wie es uns gegeben wurde, wird
dazu führen, die Besonderheiten der einzelnen Versionen und
der Arten der Weitergabe zu korrigieren. Der Vergleich ist eine
beständige Korrektur und eine beständige Ermutigung.
Der Vergleich mit dem Charisma
ist deswegen die größte Sorge, die jeden methodologisch,
praktisch, moralisch und pädagogisch bewegen muss. Sonst wird
das Charisma Vorwand und Ausgangspunkt für jede Beliebigkeit
und dient dazu, das zu verdecken, was unser eigenes Wollen ist. Aber
so werden wir zu Betrügern, denn wir sagen zwar, dass wir
Comunione e Liberazione leben, aber in Wirklichkeit machen wir aus
Comunione e Liberazione das, was wir wollen. Im Sprachgebrauch des
heiligen Johannes ist Lüge ein Synonym für Sünde, sie
ist also Verrat.
Um diese Versuchung, die jeden
von uns betrifft, einzudämmen, muss der Vergleich mit dem
Charisma als Korrektur und als ständig neues Aufbrechen des
Ideals zu einem normalen Verhalten werden. Dieser Vergleich muss zur
Gewohnheit werden, zum Habitus, zur Tugend. Dies ist unsere Tugend:
der Vergleich mit dem Charisma in seiner Ursprünglichkeit.
4. An dieser Stelle kehrt das
Vergängliche wieder, denn Gott bedient sich des Vergänglichen.
Hier kommt die Wichtigkeit des Vergänglichen wieder zum
Vorschein: bis jetzt der Vergleich mit der bestimmten Person, mit der
alles begonnen hat. Ich kann mich auflösen, aber die
hinterlassenen Texte und die - so Gott will - ununterbrochene Folge
von Personen, die als Bezugspunkt bestimmt sind, als wahre
Interpretation dessen, was in mir geschehen ist, werden zum
Instrument für die Korrektur und die immer neue Erweckung, sie
werden zum Instrument dieser Moral. Die Linie der benannten
Bezugspunkte ist das Lebendigste der Gegenwart, denn auch ein
Bezugspunkt kann interpretiert werden. Es ist schwer, ihn schlecht zu
interpretieren, aber er kann interpretiert werden.
Das eigene Leben für das Werk eines Anderen hingeben, bedeutet
immer einen Zusammenhang zwischen dem Wort „Anderen“ und
etwas Geschichtlichem, Konkretem, Greifbarem, Sinnenhaftem,
Beschreibbarem, Photographierbarem, mit einem Vor- und einem
Nachnamen. Ohne dies setzt sich unser Stolz durch, der nun wirklich
vergänglich ist, aber vergänglich im schlimmsten Sinne des
Wortes. Wer vom Charisma ohne Geschichtlichkeit spricht, spricht
nicht von einem katholischen Charisma.
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