Don Giussani
Eine Hypothese, die nicht mehr bloß Hypothese ist
Luigi Giussani
L. Giussani, Am Ursprung des
christlichen Anspruchs, Bonifatius, Paderborn 2004, S. 38-40
Wir haben gesehen, dass eine
solche Hypothese möglich ist und dass sie, falls sie wahr wäre,
die religiöse Methode grundlegend verändern würde; nun
müssen wir anerkennen, dass sie in der Menschheitsgeschichte für
wahr gehalten wurde und für wahr gehalten wird. Die christliche
Verkündigung erklärt: „Ja, dies hat sich ereignet.“
Stellen wir uns die Welt als
eine unermesslich weite Ebene vor, auf der sich unzählige
Menschengruppen unter der Leitung ihrer Ingenieure und Architekten
bemühen, nach den verschiedenartigsten Plänen Brücken
zu bauen, die mit Tausenden von Bogen eine Verbindung zwischen Himmel
und Erde herstellen sollen, um den Ort der vergänglichen
Wohnsitze des Menschen mit dem „Stern“ der Bestimmung zu
verbinden. Die Ebene ist übersät von unzähligen
Baustellen, auf denen eine fieberhafte Tätigkeit entfaltet
wird. Da kommt auf einmal ein Mensch daher, wirft einen Blick auf
diese angestrengte Bautätigkeit und ruft laut: „Haltet
ein!“ Die am nächsten Stehenden und nach und nach auch
alle anderen legen ihre Arbeit nieder und schauen ihn an. Er erklärt
ihnen: „Ihr seid groß und voller Edelmut, ihr habt euch
auf hervorragende, doch beklagenswerte Weise bemüht, denn es
wird euch niemals gelingen, diese Brücke zu bauen, die eure Erde
mit dem „Stern des letzten Geheimnisses“
verbindet. Lasst ab von euren Plänen, legt eure Werkzeuge
nieder! Die Bestimmung hat sich eurer erbarmt, folgt mir:
Ich werde die Brücke
bauen, ich nämlich bin die Bestimmung.“ Versuchen
wir uns die Reaktion der Leute auf diese Behauptung vorzustellen.
Alle, zuerst die Architekten, dann die Bauleiter und die
Vorarbeiter würden bestimmt ihren Leuten zurufen: „Nein,
die Arbeit wird nicht eingestellt! Auf, machen wir uns wieder an die
Arbeit! Merkt ihr denn nicht, dass dieser Mensch verrückt ist?“
Und die Menge würde ihnen beipflichten: „Natürlich
ist er verrückt, man sieht doch, dass er verrückt ist!“
Und dann würden sie den Anordnungen ihrer Chefs folgen und ihre
Arbeit wieder aufnehmen. Nur einige wenige wären von diesem
Menschen zutiefst beeindruckt und würden ihren Blick nicht mehr
von ihm abwenden. Sie würden nicht wie die große Masse
ihren Vorgesetzten gehorchen, sondern ihm folgen. Diese
gleichnishafte Erzählung beschreibt das, was sich in der
Geschichte ereignet hat und was sich weiterhin in ihr ereignet.
Wir stehen nun nicht mehr vor
einem Problem theoretischer (philosophischer oder moralischer)
Art, sondern vor einem geschichtlichen Problem. Die erste Frage, mit
der wir uns auseinander zu setzen haben, lautet nicht: Ist das, was
die christliche Verkündigung sagt, vernünftig und richtig?,
sondern:
Stimmt es oder stimmt es nicht,
dass sich dies ereignet hat? Ist es wahr, dass Gott in die Geschichte
eingegriffen hat?
Ich möchte noch einmal
ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Methode, die bei
der Auseinandersetzung mit der „neuen“ Frage erforderlich
ist, sich grundlegend von der bisherigen unterscheidet. Während
der Mensch die Existenz eines geheimnisvollen quid- Gottes -
durch die Analyse seiner Erfahrung der Wirklichkeit entdecken
kann und muss (wir haben gesehen, mit welcher Fülle von
Dokumenten die Geschichte belegt, dass dies immer wieder geschieht),
kann das sich uns jetzt stellende Problem - da es sich um ein
geschichtliches Faktum handelt - nicht durch eine analytische
Reflexion über die Struktur der menschlichen Beziehung zur
Wirklichkeit verifiziert werden, es geht darum, ob sich ein Faktum in
der Geschichte ereignet hat oder nicht. Entweder gibt es dieses
Faktum oder es gibt es nicht, entweder ist es geschehen oder
nicht. Entweder ist es tatsächlich ein Ereignis, das im Leben
des Menschen sichtbar geworden ist und daher danach verlangt, als
Faktum anerkannt zu werden, oder es bleibt eine bloße
Idee. Die Methode kann also hier nur darin bestehen festzustellen, ob
es ein objektives historisches Faktum ist.
Wer die Frage beantworten will,
ob Gott tatsächlich in die Geschichte eingegriffen hat, muss
sich also in erster Linie mit diesem ungeheuren Anspruch
auseinandersetzen, den die christliche Botschaft stellt; er muss sich
mit der Frage beschäftigen: Wer ist Jesus Christus? Aus der
Antwort auf diese Frage entsteht das Christentum.
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