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Don Giussani
Der Kernpunkt des Problems Kirche
Luigi Giussani

L. Giussani, Warum die Kirche? pro manuscripto, S. 6

Wie kann nun derjenige, der auf Jesus Christus stößt - sei es einen Tag nach dessen Entschwinden aus dem irdischen Horizont, sei es einen Monat später oder hundert, tausend, zweitausend Jahre später - in die Lage versetzt werden, festzustellen, ob Er der Wahrheit, die Er zu sein beansprucht, entspricht? Das heißt: Wie kann einer verstehen, ob Jesus von Nazareth wirklich das jene Hypothese der Offenbarung im strengen Wortsinn verkörpernde Ereignis ist oder nicht?
Dieses Problem ist der Kernpunkt dessen, was geschichtlich „Kirche“ heißt.
Das Wort „Kirche“ meint ein geschichtliches Phänomen, dessen einziger Sinn darin besteht, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, die Gewissheit über Christus zu erlangen; dessen einziger Sinn also darin besteht, die Antwort auf diese Frage zu sein: „Wie kann ich, der ich am Tag nach Jesu Fortgang komme, wissen, ob es sich wirklich um etwas handelt, das mich in höchstem Masse angeht, und wie kann ich es mit begründeter Gewissheit wissen?“. Wir haben bereits angemerkt, dass man sich kein für den Menschen schwerwiegenderes Problem vorstellen kann als dieses, welche Antwort man auch immer auf diese Frage gibt. Für jedweden Menschen, der mit der christlichen Botschaft in Berührung kommt, ist es ein Pflichtgebot zu versuchen, über ein für das eigene Leben und das Leben der Welt so entscheidendes Problem Gewissheit zu erlangen. Natürlich kann man das Problem verdrängen, doch in Anbetracht des Wesens der Frage kommt dies einer negativen Antwort gleich.
Es ist daher wichtig, dass derjenige, der heute nach dem Ereignis Jesu von Nazareth geboren wird – und zwar um einiges danach – sich Zugang zu diesem verschaffen kann, um darüber zu einer vernünftigen und sicheren, der Bedeutsamkeit des Problems angemessenen Beurteilung zu gelangen. Die Kirche versteht sich als Antwort auf dieses Verlangen nach sicherer Beurteilung. Dies ist das Thema, mit dem wir uns nun auseinandersetzen. Eine solche Auseinandersetzung setzt den Ernst der Frage „Wer ist Christus wirklich?“ voraus, das heißt eine moralische Ernsthaftigkeit beim Gebrauch des Bewusstseins angesichts der geschichtlichen Tatsache der christlichen Verkündigung. So wie diese schließlich den moralischen Ernst im Leben des religiösen Sinnes als solchen voraussetzt.
Wenn man sich dagegen auf den religiösen Sinn - diesen unausweichlichen und allgegenwärtigen Aspekt menschlicher Existenz - nicht einlässt und meint, man könne zum geschichtlichen Faktum Christi auch gar nicht persönlich Stellung nehmen, dann kann die Kirche nur noch in eingeschränktem Maße interessieren, nämlich bloß als soziologisches, politisches oder gruppendynamisches Phänomen, wobei es dann in Verbindung mit diesen Aspekten entweder bekämpft oder verteidigt wird.
Doch wie sehr wird die Vernunft geschmälert, wenn sie gerade aufgrund jenes Faktors für untauglich erklärt wird, der ihre Fähigkeit, Zusammenhänge wahrzunehmen, menschlicher und vollkommener werden lässt - nämlich der authentische und lebendige religiöse Sinn!
Andererseits ist die Geschichte - ob wir wollen oder nicht, zu unserem Ärger oder zu unserem Trost - de facto von der Verkündigung des Mensch gewordenen Gottes durchzogen.