Don Giussani
Lebendige Quelle
Luigi Giussani
„Jungfrau und Mutter; Tochter deines Sohnes,
Vor allen Wesen groß und voll von Demut...“
Was ich Euch sagen möchte, stellt eine Art Revanche dar für die
scheinbare Nutzlosigkeit des Lebens, für das scheinbare
Scheitern unserer Pläne, eine Art Revanche, wie man sie sich
nicht klarer und tiefer vorzustellen vermag. Wer diese Revanche nicht
erlebt hat, wer nicht erfahren hat, wie sie ist, weil sie ihm nie
gegeben wurde, gibt im Leben ständig Anlass für wirklich
hässliche Dinge. Das schönste Gedicht auf Erden ist Dantes
Hymne auf die Jungfrau im Paradies, das jahrhundertelang
niemanden interessiert hat, außer vielleicht den ein oder
anderen Verehrer des Dichters:
„Jungfrau und Mutter, Tochter deines Sohnes,
Vor allen Wesen groß und voll von Demut,
Du vorbestimmtes Ziel im ewigen Rate“,
unumgänglicher Hinweis auf Den, der alle Dinge entworfen hat,
den Kosmos als Ausdruck Seiner selbst. Ja,
„durch dich allein ist die Natur der Menschen
So sehr geadelt, dass ihr Schöpfer selber
Es nicht verschmäht hat, ihr Geschöpf zu werden
in deinem Leib“...
bei diesem Vers hier haben wir es mit dem faszinierendsten Aspekt der
Dantschen Dichtung zu tun:
„In deinem Leib entbrannte jene Liebe
Durch deren Glut in diesem ewigen Frieden
Uns diese Blume hier erblühen konnte.“
Durch deren Glut in diesem ewigen Frieden, d.h. ohne allen Kleinmut, ohne
die Scham der Lüge, ohne jede Falschheit. Das Wort „Glut“
bezeichnet dabei jene innige, unaussprechliche Faszination für
das Leben des Kosmos, welches der Geist des Ewigen hat beginnen
lassen. Und Dante fährt fort:
„Hier bist Du uns die mittägliche Leuchte
der Nächstenliebe“
, Du bist der sichere Hort der Liebe,
„drunten bei den Menschen
Bist Du der Hoffnung stets lebendige Quelle.“
Ich wollte euch allen diese Verse vorlesen, weil ich euch genau das
wünsche, was dieser Vers sagt:
„Hier bist Du uns die mittägliche Leuchte
der Nächstenliebe. Drunten bei den Menschen
Bist Du der Hoffnung stets lebendige Quelle.“
Unter allen Nationen des Universums bist Du der Hoffnung stets lebendige
Quelle, unerschöpfliche Quelle der Hoffnung; stets von neuem
bietest Du die Hoffnung an als Bedeutung aller Dinge, als Licht des
Lichtes, als Farbe der Farben, als das Andere des Anderen.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle: Die Hoffnung ist der
einzige Bahnhof, an dem der große Zug des Ewigen für einen
kurzen Augenblick anhält.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Ohne Hoffnung kann es kein
Leben geben. Das Leben des Menschen besteht in der Hoffnung, daher
lade ich euch ein, eure Augen auf die Hoffnung zu richten! Eure Augen
wurden in diesen Tagen des Meetings dank zahlreicher Vorträge
darauf ausgerichtet.
Unter den Sterblichen bist Du der Hoffnung stets lebendige Quelle.
Die Gestalt der Gottesmutter ist wirklich die Gestalt der Hoffnung, der
Gewissheit, dass Du - wie sich das Mittelalter ausdrücken würde
- unter dem Himmelszelt bei Tag und Nacht die Quelle strömenden
Wassers bist. Möge diese stets lebendige Quelle der Hoffnung
unmittelbar jeden Morgen der Sinn unseres Lebens sein, jeden Morgen
so energisch und beharrlich, wie nur möglich. Aus diesem Grunde
sind wir Freunde. Bleiben wir also Freunde! Doch wie? Allein
deswegen! Auch in meinem gebrechlichen Alter wollte ich euch zurufen:
Es gibt eine Hoffnung, nur eine Hoffnung gibt es! Sie besteht
objektiv gesehen in dem, was die Gottesmutter der Welt auferlegt“:
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Möge diese Quelle
Tag für Tag, jeden Morgen lebendig sein! Seit einigen Jahren
habe ich den Gedanken lieb gewonnen, dass man spontan von Freude
überfallen wird, die auch nur einen Augenblick lang dauern mag,
aber in der die Wahrheit des ganzen Lebens zum Vorschein kommt.
Du bist der Hoffnung stets lebendige Quelle. Ich wünsche euch
allen, dass wir Weggefährten werden und wir uns innig als
Freunde verbunden wissen, auch wenn wir uns nicht direkt kennen. Wir
kennen uns indirekt, doch mehr, als wenn es direkt wäre. Stets
lebendige Quelle, Jungfrau und Mutter, Du vorbestimmtes Ziel im
ewigen Rate. Wahnsinn! Von diesen Dingen nach siebzig Jahren zu
sprechen, ist einfach beeindruckend. Es ist völlig klar, dass
nichts auf der Welt gewiss ist, wenn nicht all dies. Ciao und
verzeiht die Störung!
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