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Don Giussani
Die Sittlichkeit im Erkennen
Luigi Giussani

L.Giussani, Der Religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 41-42

Besteht die Sittlichkeit darin, eine rechte Haltung einzunehmen, dann wird auch sie vom jeweiligen Gegenstand her bestimmt. Wenn einer unterrichten soll, ein anderer am Postschalter steht, so hat der Erste bei seinem Unterricht sittlich zu sein, Letzterer beim Einkassieren des Geldes und bei der Überweisung der Zahlungen auf das Girokonto: Es handelt sich um zwei unterschiedliche dynamische Aktionen. Auch die Sittlichkeit folgt einer differenzierten Dynamik. Um welche praktische Sittlichkeit geht es hier? Um eine angemessene und rechte Haltung in der Dynamik der Erkenntnis eines Gegenstands. Wir wollen nun zeigen, worin die Sittlichkeit in Bezug auf die Dynamik des Erkennens besteht.
Wenn mich ein bestimmter Gegenstand nicht interessiert, lasse ich ihn links liegen und gebe mich höchstens mit einem gewissen Eindruck zufrieden, den mir das Auge nach einem flüchtigen Seitenblick übermittelt. Um aber so auf einen Gegenstand aufmerksam zu sein, dass ich darüber urteilen kann, muss ich ihn betrachten. Um ihn aber zu betrachten, muss ich - und ich sage das mit Nachdruck - ein Interesse für ihn aufbringen. Was heißt Interesse haben für einen Gegenstand? Ein Verlangen zu erkennen, was der Gegenstand wirklich ist.
Das scheint banal, ist aber nicht so ohne weiteres auszuführen, da wir allzu leicht dazu neigen, Meinungen, die wir bereits über die Gegenstände — besonders über bestimmte Gegenstände — haben, zu bewahren und fest zu zementieren. Genauer: Wir neigen dazu, an den Meinungen, die wir bereits über Sinn und Bedeutung der Dinge haben, zu hängen und unsere Anhänglichkeit an sie zu rechtfertigen.
Wenn ein Junge in ein Mädchen verliebt ist und seine Mutter versucht, ihn objektiv und aufrichtig auf irgendetwas Nachteiliges hinzuweisen, so neigt der Junge dazu, dies nicht in Betracht zu ziehen und seiner Mutter dies und jenes entgegenzuhalten, was ihn in seiner eigenen Meinung über das Mädchen noch bestärkt.
Auf den Bereich der Erkenntnis angewendet heißt die ethische Regel: Die Liebe zur Wahrheit eines Gegenstands muss stärker sein als die Anhänglichkeit an die Meinungen, die wir uns darüber schon gemacht haben. Kurz und bündig könnte man sagen: Man muss „die Wahrheit mehr lieben als sich selbst“.
Ein eklatantes Beispiel: Versuchen wir uns einmal vorzustellen, wie es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer von der Macht und ihrem stärksten Instrument, der herrschenden Kultur, geprägten Mentalität um die Dinge im Hinblick auf Gott, auf Religiosität und Christentum bestellt ist. Uns allen wurden bestimmte Meinungen zu diesem Thema eingetrichtert, die uns vom geistigen Umfeld auf osmotische oder offensichtlich gewaltsamere Weise aufgedrängt wurden: Es erfordert eine große Anstrengung der Freiheit, sich von der Anhänglichkeit an bereits vorhandene Eindrücke loszureißen und zutreffende Urteile zu diesen Fragen zu fällen!
Es ist ein sittliches Problem. Je lebenswichtiger ein Wert ist, je mehr er von seinem Wesen her ein existenzielles Angebot darstellt, umso mehr geht es um ein Problem der Sittlichkeit und nicht der Intelligenz: die Wahrheit mehr zu lieben als sich selbst. Konkret heißt dies, aufrichtig danach zu verlangen, den in Frage stehenden Gegenstand auf wahrere Weise zu erkennen, anstatt auf vorgefassten oder eingetrichterten Meinungen zu beharren, in die wir verwurzelt sind.