Don Giussani
Das Staunen vor der Gegenwart
Luigi Giussani
L. Giussani, Der religiöse Sinn, Bonifatius, Paderborn 2003, S. 121-128
Stellen wir uns vor, in unserem gegenwärtigen Alter, also mit unserem
derzeitigen Entwicklungs- und Bewusstseinsstand, geboren zu werden,
aus dem Schoß unserer Mutter hervorzutreten. Was wäre die erste,
die allererste Empfindung, das heißt der erste Faktor der Reaktion
angesichts des Wirklichen? Wenn ich in diesem Augenblick, nach dem
Hervortreten aus dem Schoß meiner Mutter zum ersten Mal die
Augen aufschlüge, wäre ich ergriffen von Staunen und
Verwunderung über die Dinge angesichts einer „Gegenwart“.
Ich wäre über eine Gegenwart erstaunt und vom Abglanz
dieser Gegenwart überwältigt, die man im üblichen
Sprachgebrauch als „Ding“ bezeichnet. Die Dinge! Es
ist dies nichts anderes als die konkrete, und wenn man so will,
banale Version des Wortes „Sein“. Das Sein: nicht
als abstrakte Größe, sondern als Gegenwart, und zwar
als eine Gegenwart, die ich nicht hervorbringe, sondern vorfinde, die
sich mir also aufdrängt. Wer nicht an Gott glaubt, ist
unentschuldbar, sagt Paulus im Römerbrief, denn er muss
jenes ursprüngliche Phänomen, jene ursprüngliche
Erfahrung des „Anderen“ verleugnen (vgl. Rom l,
19-21). Das Kind lebt diese Erfahrung, ohne sich ihrer bewusst zu
werden, da es noch nicht im Vollbesitz des Bewusstseins ist.
Aber der Erwachsene, der sie nicht erlebt oder als bewusster Mensch
nicht wahrnimmt, ist geringer als ein Kind, denn er ist gleichsam
verkümmert.
Das Staunen über diese
Gegenwart, die mich ergreift, die Verwunderung über diese
Wirklichkeit, die auf mich eindringt, steht am Ursprung des Erwachens
des menschlichen Bewusstseins.
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