Don Giussani
Utopie und Präsenz
Luigi Giussani
Mitschrift eines Gesprächs von Luigi Giussani mit Studenten.
Riccione, Oktober 1976 - Spuren, Dezember 2002
Eine Präsenz ist in
dem Maße ursprünglich, wie sie ihren Bestand in dem
Bewusstsein der eigenen Identität hat und aus der Zuneigung zu
ihr hervorgeht.
II. Identität ist das Wissen darum, wer wir sind und warum wir
existieren. Sie ist eine Würde, die uns das Recht gibt, von
unserer Präsenz etwas „Besseres“ für unser
Leben und das Leben der Welt zu erhoffen.
Wer aber sind wir, dass uns das Recht auf diese Hoffnung zukommt?
Ohne diese Hoffnung würde unser Leben entweder einer tiefen
Bürgerlichkeit anheimfallen, deren höchstes Kriterium
die Absicherung gegenüber jeglichem Risiko ist, oder unser
Leben wäre fad vor lauter Unbefriedigtsein, das rasch in
Wehklagen oder in die Anklage anderer umschlägt.
„Ihr seid alle durch den
Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr
auf Christus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt. Es gibt
nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann
und Frau; denn ihr alle seid ‘einer’ in Christus Jesus“
(Gal 3, 26-28). Keine andere Stelle habe ich so oft zitiert wie diese
(außer „Wer mir nachfolgt wird das Hundertfache empfangen
und ewiges Leben erben“, Mt 19,29).
Ihr, die ihr von Christus ergriffen wurdet, habt euch in Ihn
hineinversetzt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich
habe euch erwählt“ (Joh 15, 16). Dies ist eine objektive Wahl,
die dich nicht mehr loslässt und dein Sein durchdringt, die nicht
von dir abhängt und der du keinen Widerstand entgegensetzen kannst.
Ihr, die ihr getauft seid, habt euch auf Christus eingelassen, und deshalb
gibt es keinen Unterschied mehr zwischen euch: „...nicht mehr Juden
und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“. Dies
ist die Identität: „Ihr alle seid einer in Christus“.
Im Brief an die Epheser heißt es wörtlich: „...wir
sind als Glieder miteinander verbunden“ (Eph 4, 25).
Keine andere Formel birgt eine ähnliche kulturelle Sprengkraft in
sich wie diese Auffassung der Person, derzufolge ihre Bedeutung und ihr
Bestand in der Einheit mit Christus, mit einem Anderen besteht. Durch die
Einheit mit Christus steht der Mensch in einer Einheit mit all jenen
Menschen, die Er ergreift, mit all jenen, die der Vater ihm anvertraut.
Unsere Identität beruht darin, dass wir von Christus ergriffen wurden.
Diese Dimension konstituiert meine Person: Christus prägt meine
Persönlichkeit und deshalb tretet auch ihr, die ihr von Ihm geschaffen
wurdet, notwendigerweise in die Dimension meiner Persönlichkeit ein.
Dies ist die „neue Kreatur“, wie sie am Ende des
wunderbaren Briefes an die Galater (vgl. Gal 6, 15) beschrieben wird,
es ist der Anfang einer neuen Schöpfung, von der Jakobus in
seinem Briefe spricht (vgl. Jak 1, 18).
„Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube“
(l Joh 5, 4), sagt Johannes in seinem ersten Brief: Der Glaube besiegt die
Welt, d.h. er zeigt seine Wahrheit, die alle Ideologien und Vorstellungen
von dem, was das Menschsein ist, übertrifft; denn der Glaube ist die
strukturelle Wahrheit, auf die hin die Welt erschaffen wurde und die
sich am Ende offenbaren und aufrichten wird. Zugleich ist die
Wahrheit der Faktor, der die Geschichte bewegt und das Gute in der
Welt hervorruft, indem sie die Welt menschlicher werden lässt.
Ob ich nun allein studiere oder
gemeinsam mit anderen, ob wir zu viert in der Universität sind
oder mit zwanzig anderen gemeinsam in die Mensa gehen - unsere
Identität ist stets dieselbe: dass wir von Christus ergriffen
sind. Infolgedessen kommt es entscheidend auf das Selbstbewusstsein
an, auf die Frage nach dem, was das Bewusstsein meiner selbst
ausmacht: „Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondern Du lebst
in mir“ (vgl. Gal 2, 20). Dies ist der neue Mensch in der Welt,
den Che Guevara erträumt hat und den Kulturrevolutionen fingiert
haben, um das Volk zu beherrschen und es gemäß der eigenen
Ideologie unterdrücken zu können - dieser neue Mensch
wächst und reift in dieser Welt nicht aufgrund seiner Kohärenz,
sondern in erster Linie aufgrund eines neuen Selbstbewusstseins.
Unsere Identität offenbart sich folglich in einer neuen
Erfahrung der eigenen Person und der Einheit unter uns.
III. Es ist die neuartige
Erfahrung der Zuneigung zu Christus und zum Geheimnis der Kirche, die
in unserer Einheit anschaulich und konkret wird. Die Identität
ist folglich eine lebendige Erfahrung innerhalb einer Wirklichkeit,
die unser Eigen ist und zugleich außerhalb von uns ist: die
Zuneigung zu Christus und zu unserer Einheit.
Zuneigung ist die umfassendste
und zugleich verständlichste Bezeichnung für unsere
Ausdruckskraft. Sie ist alles andere als eine sentimentale und
vorübergehende Gemütsregung, die wie der Wind wechselt.
Vielmehr ist die Zuneigung eine kraftvolle Bejahung, die aus einem
Werturteil und aus der Anerkennung von dem hervorgeht, das in uns und
unter uns ist. Und mit dem Alter wächst dieses Anhängen und
wird stärker, kräftiger und empfänglicher in der Treue
zum Urteil, d.h. in der Treue zum Glauben: „Doch was mir damals
als Vorteil galt, das habe ich um Christi willen für Unwert
erachtet. Ja, ich erachte wirklich alles für Unwert angesichts
der alles übertreffenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.
Seinetwegen gab ich alles auf und halte es für Unrat, um
Christus zu gewinnen und in Ihm mich zu finden. Nicht meine eigene
Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene,
die aus dem Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott
aufgrund des Glaubens schenkt.“ (vgl. Phil 3, 7-9)
Diese lebendige Erfahrung von
Christus und unserer Einheit ist der Ort der Hoffnung, sie ist
Ursprung eines neuen Geschmacks am Leben und lässt eine Freude
aufkommen, die nichts zu vergessen oder zensieren braucht, um sich
erhalten zu können. Hier kann jenes Verlangen nach Veränderung
im eigenen Lebens stets wiedergewonnen und wiederaufgenommen werden:
die Sehnsucht, dass das eigene Leben wieder einen Zusammenhang
gewinne, dass es sich ändere und der geheimnisvollen
Wirklichkeit, die es birgt, würdiger werde
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