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Don Giussani
Die Vernachlässigung des Ichs
Luigi Giussani

L.Giussani, Er drängt sich nicht auf, sondern entspricht, in: 30 Tage, Jul.-Aug.1995, S. 44-45

Das größte Hindernis für unseren menschlichen Weg ist die „Vernachlässigung“ des Ichs. Der erste Schritt eines wirklich menschlichen Weges besteht also im Interesse für das eigene Ich, das heißt im Gegensatz zu dieser „Vernachlässigung“.
Eigentlich erscheint ein solches Interesse selbstverständlich, doch das ist keineswegs der Fall: Es genügt zu sehen, welche großen Abgründe der Leere sich täglich in unserem Bewusstsein auftun, welcher Mangel an Gedächtnis. In der Tat lassen sich die konstitutiven Faktoren des menschlichen „Subjektes“ nicht abstrakt erfassen, sie sind nicht „vorgefasst“, sondern erweisen sich als evident im Ich, das handelt, dann, wenn sich das Subjekt auf die Wirklichkeit einlässt.
Um das Wort „Ich“ gibt es heute eine große Verwirrung. Dennoch liegt das erste Interesse im Verständnis dessen, was mein Subjekt ist. In der Tat steht mein Subjekt im Zentrum, an der Wurzel jeder meiner Handlungen (und auch das Denken ist eine Handlung). Die Handlung ist die Dynamik, mit der ich in Beziehung zu jedweder Person und jedwedem Ding trete. Vernachlässigt man das eigene Ich, dann ist es unmöglich, dass die Beziehungen zum Leben wirklich meine Beziehungen sind, dass das Leben selbst (der Himmel, die Frau, der Freund, die Musik) wirklich mein sind.
Um ernsthaft mein sagen zu können, muss man den Bestand des eigenen Ichs klar erfassen. Nichts ist so faszinierend wie die Entdeckung der wirklichen Dimensionen des eigenen „Ichs“. Nichts ist so reich an Überraschungen wie die Entdeckung des eigenen menschlichen Antlitzes.
Und nichts ist so bewegend wie die Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist, um die endgültige Hilfe zu bringen, um diskret, behutsam und dennoch kräftig den mühevollen Weg eines jeden auf der Suche nach seinem eigenen menschlichen Antlitz zu begleiten. Gott zeigt seine Vaterschaft nicht nur in der Erschaffung eines jeden Dinges und in der Herrschaft über das Schicksal und die Lebensumstände, sondern auch und insbesondere in dieser Zuwendung: als unvorhergesehener und unvorhersehbarer Weggefährte auf dem Weg, auf dem jeder in der Gestalt der eigenen Bestimmung wächst.
Jede ernsthafte Untersuchung über den Bestand des eigenen Subjektes beginnt als Erstes mit der Feststellung, dass die Verwirrung, die heute hinter der zerbrechlichen Maske (fast ein flatus vocis) unseres Ichs herrscht, jedenfalls zum Teil von einem Einfluss außerhalb unserer Person herrührt. Man muss sich also sehr genau den entscheidenden Einfluss dessen vergegenwärtigen, was das Evangelium „die Welt“ nennt, und das sich als Feind einer dauerhaften, würdigen und beständigen Bildung einer menschlichen Person zeigt. Die Welt, die uns umgibt (durch die Massenmedien oder auch durch die Schule, die Politik), übt einen äußerst starken Druck aus, der jeden Versuch einer Bewusstwerdung des eigenen Ichs beeinflusst und schließlich - wie ein Vorurteil - verhindert. Paradoxerweise reagieren wir sofort ungehalten oder zornig, wenn man uns in der Straßenbahn oder in der Schule auf den Fuß tritt. Kommt es aber vor - und dies ist tatsächlich der Fall -, dass unsere Persönlichkeit, unser Ich, erdrückt, im wörtlichen Sinne unterdrückt und so eingeschüchtert wird, dass es wie benommen bleibt, dann ertragen wir das täglich in aller Ruhe.
Das Ergebnis einer solchen Unterdrückung oder Einschüchterung ist offensichtlich: Das Wort „Ich“ ruft inzwischen bei den allermeisten Menschen nur noch eine konfuse, verschwommene Vorstellung hervor. Es ist ein Begriff, den man aus Bequemlichkeit benutzt und der bloß als Bezeichnung dient (wie „Flasche“ oder „Glas“). Aber hinter dem kurzen Wort schwingt nichts mehr, was kraftvoll und klar darauf hinweisen würde, welche Art von Verständnis und Gefühl ein Mensch vom Wert des eigenen Ichs besitzt.
Deshalb kann man sagen, dass wir in Zeiten leben, in der eine Zivilisation zu Ende zu gehen scheint: In der Tat entwickelt sich eine Zivilisation in dem Maße, in dem das Hervortreten und Klären des Wertes des einzelnen Ichs gefördert wird.
Wir leben aber in einem Zeitalter, in dem eine große Verwirrung im Hinblick auf den Inhalt des Wortes „Ich“ begünstigt wird.
Die unausweichliche und im wörtlichen Sinne tragische Konsequenz dieser Verwirrung, in der sich die Wirklichkeit des Ichs „auflöst“, ist die „Auflösung“ des Begriffes „Du“.
Der Mensch von heute kann zu niemandem bewusst „Du“ sagen. Darin liegt die letzte und offenkundig verborgene Wurzel der Gewalt und des Strebens nach Macht, die heute weithin die üblichen Beziehungen unter den Personen bestimmen: Sie gründen in ihrer Mehrzahl auf der systematischen Verkürzung des anderen, auf ein Bild von Nutzen und Besitz, wobei alles Staunen und jede Rührung über die Existenz des anderen völlig abhanden gekommen ist.