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Kirche - Von Balthasar
Glaubhaft ist nur Liebe
Die Wahrheit ist ein Geschehen

David L. Schindler

Über den großen Schweizer Theologen und seine Lesart der westlichen Kultur, die davon ausgeht, dass jedes Geschöpf eine Gabe Gottes ist. Es ist das Geschenk eines Gottes, dem gegenüber der Mensch dankbar sein muss. Ein Beitrag von David L. Schindler zum 100. Geburtstag von Hans Urs von Balthasar

Glaubhaft ist nur Liebe: Diese Worte sind der Titel eines der Bücher von Hans Urs von Balthasar. Sie sind eine Art Zusammenfassung des Werkes des Schweizer Theologen, dessen hundertster Geburtstag in diesem Jahr begangen wird. Diese Worte könnten einigen womöglich zu einfach erscheinen, um in unserer heutigen kulturellen Situation noch aussagekräftig zu sein. Ist doch die gegenwärtige Lage von verschiedenen Blöcken mit weltumspannender Macht, von konsumorientierten Wirtschaftssystemen und «mitleidsvollen» Biotechnologien geprägt. Dennoch war sich Balthasar der Komplexität der heutigen Probleme vollauf bewusst. Nichtsdestoweniger sah er gerade in diesen Worten die einzige Wahrheit enthalten, unter deren Voraussetzung die Probleme an der Wurzel zu packen sind und unzureichende Symptombehandlungen überwunden werden können.
Die Christen seien, sagte er, «die Wächter einer Metaphysik der Person und der Ganzheitlichkeit in einer Epoche, die ebenso das Sein wie auch Gott vergessen hat». Sie tragen die Verantwortung für die Lebendigkeit einer von Staunen erfüllten Liebe, die der Ursprung einer wirklich menschlichen Existenz ist und in sich den gesamten Kosmos in seiner Weite enthält. Dieses Staunen lässt sich zwar unbewusst, aber dafür bereits lebhaft im Blick des Kindes finden, das zum ersten Mal die Augen öffnet und das Lächeln der Mutter erblickt. In diesem Lächeln erfährt das Kind, dass es «gehalten, angenommen und geliebt ist in einer Beziehung, die es in unaussprechlicher Weise umgreift, beschützt und nährt». Diese Beziehung ruft in ihm mit anderen Worten ein Staunen hervor und lässt das Kind wissen, dass ihm das Sein geschenkt wurde. «Diese Gegebenheit, dass uns das Leben geschenkt wurde, kann von keiner anderen Interpretation der Gesetze und Notwendigkeiten der Welt außer Kraft gesetzt werden». Balthasars Theologie des Staunens, das ein Bewusstsein für alles Geschenkhafte hervorruft, und seine Theologie eines Beschenktseins, das seinerseits Staunen hervorruft, findet seine theologische Gestalt im anerkennenden Gehorsam des christologisch-marianisch-ekklesialen Fiat. Der Ausspruch, der prägend für die grundlegende Methode der Theologie wurde, lautet Kniende Theologie – eine demütige Theologie auf den Knien beziehungsweise eine betende Theologie sind damit gemeint. Eine solche Theologie schließt andere Methoden wie die historisch-kritischen nicht aus. Sie umfasst diese vielmehr und fügt sie in sich ein. Balthasar bestand darauf, dass es letztlich nur die Heiligen sind, die das Recht haben, von Gott zu sprechen, weil in ihnen das Wort Gottes authentisch Fleisch geworden ist.

Die Schätze Ägyptens einsammeln
Der Bogen von Balthasars Werk, das 119 Bücher umfasst, umspannt das gesamte westliche Erbe der Philosophie, der Literatur, der Kunst und der Theologie. Nichtsdestoweniger war dieser große Theologe – wie der damalige Kardinal Ratzinger anlässlich von Balthasars Beerdigung versicherte – nicht getrieben von einer bloßen Neugier, die Dinge zu kennen, oder von Machtempfinden, der vom Besitz zahlreicher Fähigkeiten herrührt. Sein Interesse bestand vielmehr darin, im Sinne der Kirchenväter «die Schätze Ägyptens in den Kammern unseres Glaubens einzusammeln». Er wusste, dass «diese Schätze nur in einem bekehrten Herzen Frucht tragen können». Am Ende lebt die Theologie nicht so sehr «von dem, was man denkt, als vielmehr von dem, was man empfängt». Daher war Balthasar, so Ratzinger, im tiefsten Sinne des Wortes ein Mann der Kirche.
Der tiefe Sinn für das Geschenk, der seinen Ursprung hatte in der in Jesus Christus offenbarten göttlichen Communio, inspirierte Balthasar zu der ihm eigenen Betrachtungsweise der abendländischen Kultur. In der Tat schrieb Henri de Lubac, der Balthasar einmal als den «vielleicht gebildetesten Menschen unserer Zeit» bezeichnete, dass die von Balthasar gestellte «spirituelle Diagnose unserer Kultur die genaueste ist, die es gibt». Wir können die Tiefe dieser Behauptung nur in dem Maße begreifen, in dem wir sehen, dass das Staunen am Beginn der menschlichen Existenz auch die «Logik» dieser Existenz anzeigt. Das Geschöpf ist nämlich eine Gabe, die sich von Gott her empfängt und deren Sein sich angemessen entfaltet in einer anerkennenden Bewegung auf Gott hin. Es handelt sich um eine Bewegung, die darauf gerichtet ist, mit Dankbarkeit all das aufzunehmen, was gedacht, getan und hergestellt wird.
Die charakteristischen Probleme unserer Kultur sind folglich gerade hier auszumachen: im Mangel an Dankbarkeit beziehungsweise an dankbarem Gehorsam gegenüber Gott. Unsere politischen Errungenschaften, die Wirtschaft und die (Bio-)Technologien ermangeln in ihrer typisch liberalen Ausdrucksform der Gestalt und des Bewusstseins der Geschöpflichkeit. Wahrheit, Gutheit und Schönheit, die in der Vor-Neuzeit vor allem als von Gott gegeben anerkannt waren, werden heute in erster Linie als vom Menschen gemacht angesehen (Gianbattista Vico: verum quia factum).

Betrachtung und Handeln
Don Luigi Giussani liebte folgende Worte Romano Guardinis besonders: «In der Erfahrung der großen Liebe sammelt sich die ganze Welt in das Ich-Du, und alles Geschehende wird zu einem Begebnis innerhalb dieses Bezuges.» (R. GUARDINI, Das Wesen des Christentums, Würzburg 1938, S. 5). Balthasar entwarf den gesamten Kosmos, und darin enthalten auch die gesamte menschliche Kultur, als ein Ereignis innerhalb der Liebe Gottes. Ein Ereignis der Liebe nicht im Sinne eines «frommen» Geschehens, sondern als Bedeutung, als das Angesicht des Seins selbst. Dergestalt «wird die gesamte Welt dank der Gegenwart des Fleisch gewordenen Sohnes, der das vollkommene Bild des Vaters ist, umgewandelt in eine Art Sakrament der Wahrheit und der göttlichen Liebe». Ähnlich wie Adrienne von Speyr, Balthasars engste Mitarbeiterin, es sagte: Der dreifaltige Austausch von Liebe im Inneren Gottes «öffnet zur Welt hin», so dass das Wort selbst ein «Austausch zwischen Himmel und Erde» wird.
Balthasar war ein betrachtender Mensch, aber nicht wie jemand, der sich für die Welt nicht interessiert und engagiert. Er verstand, dass jede Geste, die nicht aus der Betrachtung erwächst, leer und unfruchtbar bleibt. Deshalb war er ein Mann der Tat im marianischen, und so auch im johanneischen und ignatianischen Sinne des Wortes. Balthasars Einsatz für die Welt konkretisierte sich in erster Linie in drei Gründungen. 1945 gründete er zusammen mit A. von Speyr die Johannes-Gemeinschaft, ein Säkularinstitut, zusammengesetzt aus Priestern und Laien, Männern und Frauen, die eine gottgeweihte Liebe lebten und dennoch in der Welt blieben. 1947 folgte die Gründung des Johannes-Verlages mit der Zielsetzung, theologische, philosophische, spirituelle und literarische Werke zu verbreiten, die den Katholizismus und den authentisch katholischen Sinn der Liebesbotschaft des Evangeliums herausstellen. Zuletzt gründete Balthasar 1972 die Internationale Katholische Zeitschrift Communio, zusammen mit den Theologen Henri de Lubac, Joseph Ratzinger und anderen (Karol Wojtyla trug im Nachhinein dazu bei, die Zeitschrift nach Polen zu bringen). Heute wird Communio in vierzehn Sprachen veröffentlicht.

Balthasar und das Konzil
Balthasar sah in dieser Zeitschrift Communio ein Instrument, um die Konzilslehre genauer zu erläutern gegenüber den Auseinandersetzungen und gegenüber der um sich greifenden Ungewissheit, die in Bezug auf die historische Glaubwürdigkeit des katholischen Glaubens und in Bezug auf die Bedeutung der menschlichen Existenz selbst auf das Konzil folgte. In den Jahren nach dem Konzil wurde Balthasar vorgeworfen, er habe seine frühere Verteidigung der Offenheit der Kirche gegenüber der Welt aus der Zeit vor dem Konzil (vgl. z. B. Schleifung der Bastionen, 1952) aufgegeben und sei auf eine «integralistische» Sicht (etwa im Büchlein Cordula oder der Ernstfall, 1966) zurückgewichen. Doch die Klarheit seiner Position, der unveränderliche Kern sozusagen seiner steten Ausrichtung auf die Kirche und die Welt, lässt sich an seinem berühmten Artikel «Das Konzil des Heiligen Geistes» aus dem Jahre 1966 erkennen.
Glaubhaft ist nur Liebe: Diese Worte stehen nach Balthasar, zusammenfassend gesehen, für einen «neuen» Realismus, der die Kraft haben würde, die Langeweile zu durchbrechen, in die eine für die Neuzeit charakteristische leere und technokratische Seele (anima technica vacua) hineingeführt hatte. Dennoch widersetzte sich Balthasar dem für den Antimodernismus typischen «Moralismus»: Die Sendung der Christen besteht heute darin, in allen Aspekten des Lebens Zeugnis zu geben für den Gestus der Liebe, dessen Ur-Form im leidensbereiten Fiat Christi vorgebildet ist. Davon inspiriert müssen die Christen die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums lesen. Die Inkulturation des Evangeliums, die daraus entspringt, wird eine wirklich neue Inkulturation sein und nicht die automatische und unüberlegte Auferlegung einer bereits vorausgegangenen. Es wird sich um eine schöpferische und in der Freiheit des Geistes gestaltete Inkulturation handeln. All dies wird geschehen können, solange die Christen nicht aufhören zu staunen und vor allem zu lieben.


Leben

12. August 1905 Geburt in Luzern.
1917-1924 Gymnasium in Engelberg, Schweiz, und in Feldkirch, Österreich. Maturität in Zürich.
1924-1928 Studium der Germanistik und der Philosophie in Zürich, Wien, Berlin und wieder in Zürich.
1928 Doktorat in Germanistik mit einer Arbeit über die Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur.
1929 Eintritt in die Gesellschaft Jesu in Feldkirch als Postulant. Zweijähriges Noviziat.
1933 Theologische Studien in Fourvièvre (Lyon). Begegnung mit Henri de Lubac, G. Fessard, J. Daniélou. Beginn seiner patristischen Arbeit.
26. Juli 1936 Priesterweihe in der St. Michaelskirche in München durch Kardinal Faulhaber, dem Erzbischof von München und Freising.
Ab 1940 Leiter der europäischen Sektion der Reihe Klosterberg des Verlegers Benno Schwabe. Geistlicher Leiter von Frau Doktor Adrienne von Speyr, die zum Katholizismus übertritt. Er beginnt einen intensiven Dialog mit K. Barth mit dem Ziel, die Beziehung zwischen der analogia entis und der analogia fidei zu vertiefen. Seelsorge unter den Studenten und in der akademischen Welt von Basel. Kurse und Exerzitien für die Studenten in der von ihm gegründeten Schulungsgemeinschaft (SG) (1941), die sich später Akademische Arbeitsgemeinschaft nennt (AAG) (1945).
1944 Beginn der Diktate von Adrienne von Speyr, gesammelt von Balthasar in 50 Werken.
1945 Gründung der Johannes-Gemeinschaft zusammen mit Adrienne von Speyr.
1947 Gründung des Verlagshauses Johannes Verlag, Einsiedeln, Schweiz.
1948 Entscheidungsexerzitien im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr.
1949-1950 Zusammenarbeit mit Barth.
1950 Austritt aus der Gesellschaft Jesu. Intensivierung der Arbeit mit den Säkularinstituten. Ausbildung und geistliche Begleitung der Johannes-Gemeinschaft. Aktivität als Autor und Herausgeber, zuerst in Zürich und dann in Basel.
1956-1967 Leitung der Johannes-Gemeinschaft.
8. Juli 1965 Doktorwürde in Theologie honoris causa an der Universität von Edinburgh.
19. November 1965 Doktorwürde in Theologie honoris causa an der Universität Münster in Westfalen.
17. September 1967 Adrienne von Speyr stirbt.
17. Dezember 1967 Doktorwürde in Theologie honoris causa an der Universität Fribourg, Schweiz.
17. März 1971 Romano-Guardini-Preis der Katholischen Akademie in Bayern, München.
1972 Mitbegründer der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio.
11. Juni 1973 Corresponding-Fellow der British Academy, London.
5. September 1980 Doktorwürde in Philosophie honoris causa an der Katholischen Universität von Amerika, Washington D.C.
1983 Gründung der Johannes-Gemeinschaft für Priester.
23. Juni 1984 Internationale Auszeichnung Paul VI., Rom.
28. Mai 1988 Ernennung zum Kardinal durch Johannes Paul II.
26. Juni 1988 Balthasar stirbt in seinem Haus in Basel.

Werke

1925 Erste Veröffentlichung: Die Entwicklung der musikalischen Idee. Versuch einer Synthese der Musik.
1937-1939 Veröffentlichung der Apokalypse der deutschen Seele.
1938 Anthologie über Texte von Origines: Origenes, Geist und Feuer.
1939 Übersetzung ins Deutsche von Paul Claudels Le Soulier de Satin, gefolgt von Übersetzungen von Péguy, Mauriac, Bernanos u.a. Projekt einer neuen Dogmatik mit Karl Rahner.
1941 Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus des Bekenners.
1942 Présence et Pensée. Essai sur la Philosophie religieuse de Grégoire de Nysse.
Veröffentlichung einer Anthologie von Texten über Goethe aus den Trauergesängen; Veröffentlichung einer Anthologie über Nietzsche: Vom vornehmen Menschen. – Vergeblichkeit. – Von Gut und Böse.
1945 Das Herz der Welt.
1947 Wahrheit der Welt.
1950 Therese von Lisieux. Geschichte einer Sendung.
1951 Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie.
1955 Das betrachtende Gebet.
1961-1969 Veröffentlichung des ersten Teils der Trilogie: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik.
1963 Das Ganze im Fragment. / Glaubhaft ist nur Liebe.
1966 Cordula oder der Ernstfall.
1969 Theologie der drei Tage.
1971 In Gottes Einsatz leben.
1972 Die Wahrheit ist symphonisch.
1973-1983 Veröffentlichung des zweiten Teils der Trilogie: Theodramatik.
1977 Christlicher Stand.
1984 Unser Auftrag.
1985-1987 Veröffentlichung des dritten Teils der Trilogie: Theologik.
1987 Epilog.


(*) Der Autor ist Dekan und Professor für Fundamentaltheologie am Institut Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie, Washington D.C.; er ist verantwortlich für die nordamerikanische Ausgabe von Communio.