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Thema - La Thuile
Wie ein Lichtstrahl im Nebel
Rückkehr zur Wirklichkeit

Luigi Amicone

Achthundert jugendliche und erwachsene Verantwortliche der Bewegung aus 70 Ländern haben an ihrer Internationalen Versammlung teilgenommen. Jeder kam mit seiner eigenen Erfahrung. Jeder war für den anderen Zeuge der Liebe Christi zum Menschen - gegen jeden Dualismus und Nihilismus, die von der Wirklichkeit trennen

Wie jedes Jahr traf man sich in La Thuile, in jenem Talkessel des Val d'Aosta, den die Berge so hoch überragen, dass sich der Himmel wohl oder übel auf die Größe eines Taschentuchs zurückzieht. Gott sei Dank waren es vier schöne, sonnige Tage. Am schönsten war es bei unserem Ausflug: ein tief blauer Himmel, strahlende Sonne und eine leichte Briese wie auf dem Meer, wenn alle Kräfte der Natur dem Seefahrer günstig gesonnen sind. So also war in diesem Jahr die Internationale Ferien-Versammlung der Verantwortlichen unter der Obhut der Hoteliers Graziano De Bellini und seines Freundes Igino. Das aus Padua stammende Freundespaar? hat ein kleines Imperium für intelligenten Tourismus aufgebaut. Don Giussani hörte uns vom GEHEIMNIS in der Höhe aus zu, während wir hier unten noch unter den gewaltigen Gipfeln des Montblanc unterwegs waren, mit einem Zimmergefährten, der uns nicht so fremd war, dass wir ihn nicht sogleich als einen der Unsrigen erkannt hätten. «Gebt Rechenschaft von der Hoffnung, die in euch ist.» und «die Hoffnung enttäuscht nicht» waren das Leitmotiv während der halben Woche unserer Arbeit, der Grund für unsere Einberufung und für die Aufforderung zum Zuhören und zum Gespräch mit sechshundert Jugendlichen und Erwachsenen aus den Gemeinschaften von CL in 70 Ländern der Erde. An erster Stelle stand die Tagesordnung, eine Leitplanke die eigens dazu gemacht war, die Erfahrung als Weg zur Wahrheit zu verstehen: Wecken (um acht), Frühstück, Laudes, Versammlung (an ungeraden Tagen), Vorlesung (an geraden), Gesang und klassische Musik (immer), Eucharistie, Zeugnisse aus der Welt (abends), Schweigen (eine halbe Stunde nach Mitternacht). Schon die Tatsache, dass Schweigen als Grundhaltung empfohlen war, angefüllt mit dem Gespräch zwischen den ausgelosten Zimmergefährten, hat uns die Bedeutung unseres Zusammenseins immer wieder bewusst gemacht.

Wie Kinder
Das ganze Leben ist Arbeit, auch in seinen anscheinend unbedeutendsten Momenten. Arbeit ist es, dem Geheimnis anzuhängen, das uns erschafft, jenem «etwas in etwas», wie gesagt worden ist, das die verwirrende Undurchsichtigkeit der Dinge – verstärkt durch unser aktivistisches Vorurteil – durchdringt und endlich etwas von jenem ursprünglichen «Weiter noch» sehen (und sich daran erfreuen) lässt, aus dem die Wirklichkeit besteht und das sich unseren Vorstellungen immer wieder entzieht. «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nie eintreten». Wie Kinder werden, eintreten und sehen: das ist gute Arbeit. Jene ursprüngliche Beziehung wiederherstellen, mit der das Kind von einem Ding zum nächsten geht, daran zu hängen, ohne es zu vergöttern, die Welt nach Belieben zu nutzen, sich ganz wohl zu fühlen und das, ohne einen abstrakten Gedanken vor die Erfahrung zu stellen: ja, das erzeugt Erfahrung der Welt wie Gott sie erschaffen hat. «Trotz allem [Krieg und Holocaust von 6 Millionen Juden, AdR] scheint mir die Welt wie Gott sie geschaffen hat gut zu sein» (Arendt). Dermaßen gut, dass sich jedes Kind darin wohlfühlt, nicht nur wie ein kleiner Affe, ein Baum oder Stein, sondern wirklich wie ein nach dem Bild und Gleichnis Gottes erschaffenes und in einer ursprünglichen, liebevollen Abhängigkeit lebendes Wesen. Und selbstverständlich ist alles gut, aber die Mutter, das Antlitz deiner Mutter, dein Vater, deine Geliebte lassen dein Herz höher schlagen und dein Gesicht strahlen wie sonst nichts anderes, so wie Johannes im Schoß Elisabeths hüpfte und Elisabeths Antlitz bei der Umarmung Marias strahlte.

Der Moment der Krise
Julián Carrón jedoch beginnt seine Vorlesung ausgerechnet mit einem Zitat von Hannah Arendt: «Ideologie ist nicht naive Annahme des Sichtbaren, sondern intelligentes Auslöschen der Wirklichkeit». Und das ist die Krise unserer Epoche, die als Bedenken und Versuchung jeden von uns befällt. «Die Schwierigkeit dieses “etwas in etwas” zu erkennen; die Verkürzung der Wirklichkeit auf einen Anschein, und deshalb eine Beziehung zur Wirklichkeit, die das GEHEIMNIS aus dem Weg räumt: das alles können wir Dualismus nennen. Auf der einen Seite die Wirklichkeit, auf der anderen das GEHEIMNIS» (das, wenn es existiert, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat). «Ein schon bestehendes Ich, dem dann etwas hinzugefügt wird». Ein Ich, das sich im Voraus bildet, unabhängig von der Wirklichkeit. Das Ergebnis ist ein Nebeneinander, die Unmöglichkeit einer «liebevollen Erkenntnis». «Das ist der erste Schritt zum Sieg des Nihilismus». Umso schlimmer steht es um das christliche Ereignis, das heute oft nicht einmal dem Namen nach bekannt ist (selbst nicht im Herzen des globalen Dorfes, in New York, der Hauptstadt weltweiter Kommunikation und Information: «Warum sind die Zeitungen gegenüber der Passion von Gibson so kritisch, wer ist dieser Jesus?» fragte eine Kollegin Giovanni Cesana, der als Arzt und Forscher in einer bedeutenden Neu-Yorker Universität arbeitet). Aber was ist Christus für den, der Ihn kennt? «Christus ist keine Autorität mehr, sondern etwas für das Gefühl; Gott ist ein Schreckgespenst und kein Freund». Von dieser Unwissenheit und insbesondere vom Fehlen einer Erziehungsmethode, vom mangelnden Einsatz der Vernunft hat uns, sagt Carrón, das Charisma befreit. «Vertraut werden mit Don Giussani heißt mit einer Methode vertraut werden». Oder es ist ein sentimentales Nichts. «Giussani hat uns nicht eine Gruppe für Spiritualität hinterlassen, sondern eine epochale Wende bei der Antwort auf das Drama unserer Zeit, die Feindschaft gegen das GEHEIMNIS». Denn was sich in einer Krise befindet «ist unsere geheimnisvolle Verbindung mit dem WIRKLICHEN» sagt Carrón und zitiert dabei Maria Zambrano. So «fehlt die Nahrung für das Leben». Fehlt aber die Nahrung fürs Leben, wie schauen wir dann unsere Kinder an? Was wird sie vor dem versteinernden Blick unseres eigenen Maßes retten? Und vor denen, die Macht haben?

Die Wirklichkeit leben
Das ist also der Ausgangspunkt, der erste Schritt der Methode, der erste vernünftige Akt: die Wirklichkeit zu leben, die Vernunft zu leben wie ein weit zur Wirklichkeit, das heißt zur Gesamtheit ihrer Faktoren hin geöffnetes Fenster, also bis zur Bejahung des GEHEIMNISSES, dem Grund der Wirklichkeit. Das ist das Leben, aus dem unsere Bewegung entsteht, es ist ein “Du”, ein Freund - Carrón zitiert einen Brief Giussanis an Angelo Maio aus dem Jahr 1946, Giussani war damals 24 Jahre alt – es ist «diese unbeschreibliche und totale Erregung angesichts der Dinge und der Menschen». «Immer wieder Kapitel 10 aus Der Religiöse Sinn lesen, bis es uns vertraut ist» empfiehlt Carrón, das Gesetz des Seins ist ein “Du”, ist ein «Ich bin du-der-mich-macht». Und doch lehrt die Erfahrung, dass «es keinem von uns gelingt, allein, von sich aus einen wahren Blick auf das Wirkliche zu werfen». Deshalb, und das ist der zweite Punkt der Methode, stellen wir uns gefälligst klugerweise der Nachricht der Nachrichten: «Um uns mit dem GEHEIMNIS vertraut zu machen, ist das GEHEIMNIS in die Geschichte eingetreten. Das Christentum ist die Ankündigung, dass Gott an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Mensch geworden ist». Diese Begegnung erneuert sich heute für uns «wie ein Lichtstrahl im Nebel». Wie für Johannes und Andreas an jenem Nachmittag vor zweitausend Jahren stoßen auch wir bei dieser Begegnung auf etwas menschlich Außergewöhnliches, Unvergleichliches, wo «außergewöhnlich etwas meint, das dem ursprünglichen Bedürfnis des Herzens entspricht, so konfus und verschwommen wir uns dessen auch bewusst sein mögen». Um zu verstehen, dass «die Gegenwart Christi die Gemeinschaft ist, die er mit dir berufen hat» braucht man nicht Geschichts- oder Theologiebücher zu lesen, man versteht das, sobald man sich nur mit irgendeinem der sechshundert Anwesenden an den Tisch setzt, die Zeugen seines Leibes auf der ganzen Welt sind («Leib ist das, was erscheint, das man von dem sehen kann, was einer ist» erklärt Carrón. «Er ist wirklich und geht zugleich darüber hinaus, er senkt die Wurzeln in uns unbekannten Boden, den Boden des SEINS»).

Dennis, Cleuza, Marcos.... und die anderen
Es gibt kaum merkliche Begebenheiten, in denen aber das Drama des Universums steckt («Mein Kollege hat den Glauben verloren. Während des Völkermords in Ruanda haben sie seine Großfamilie ausgerottet, fast zweitausend nahe und entfernte Verwandte. Er hat mit vielen kirchlichen Würdenträgern gesprochen, keiner hat ihn überzeugt, auch weil Männer der Kirche Mitwisser waren. Ich verstehe, dass ich seine einzige Hoffnung gegen alle Hoffnung bin» sagt Dennis von CL Ruanda). Und es gibt Geschichten die Schlagzeilen machen wie die der Brasilianerin Cleuza und ihres Mannes Marcos, die auf absolut unvorstellbaren Wegen (Cleuza sagt: «Ein italienischer Arzt, der zuviel sprach und dabei stets Hinweise auf Don Giussani einstreute und Freunde von ihm, die immer Giussani zitierten und eigenartig, anders waren, aber auf eine gute Art und Weise, aufmerksam den Mitmenschen und ihren materiellen Problemen gegenüber: kurzum, ich bin dem begegnet, was mir fehlte, der Hoffnung») ihre Bewegung von Obdachlosen, hunderttausend Männer und Frauen, die sich seit Jahren in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen engagierten, in die Bewegung von CL brachten («Ja, Carrón, Du hast leicht sagen “ihr müsst das Seminar der Gemeinschaft halten“» meldet sich Creuza mit heiterer Ironie bei einer Versammlung, «wenn aber zufällig nur 10% der unsrigen deiner Einladung folgen würden, kannst du mir mal erklären wie ich und mein Mann dann mit zehntausend Personen das Seminar der Gemeinschaft halten sollen?»).
Da in La Thuile italienisch gesprochen wird auch wenn Carrón Spanier ist, könnt ihr jetzt vielleicht die Arbeit und Mühe der Dolmetscher verstehen. Aber scheint euch normal, dass ein Bischof (der von Petropolis in Brasilien) wie selbstverständlich in der Dolmetscherkabine Dienst tut, oder dass Annamaria vier Tage lang im Gebirge am Rockzipfel ihrer kroatischen Landsmännin Ylena hängt, um ihr während der Ferien alle Vorträge, Versammlungen und Begegnungen zu übersetzen? «Cambia, todo cambia».

Spektakel menschlicher Vielfalt
Der argentinische Chor heitert die Zeit nach dem Abendessen mit aria caliente auf. Aber habt ihr jemals einen schwarzen Alpini-Chor Sul pajon und, während die Gruppe auf der Terrasse langsam größer wird, Nigerianer und Amerikaner, Österreicher und Italiener alle zusammen Guantanamera und Aida singen hören? Pablo dagegen weiß wirklich nicht, wo er mit seiner Geschichte anfangen soll. Denn Pablo kommt aus Kolumbien, und seine Show besteht aus einem Stadtviertel, wo die jungen Leute T-Shirts von Benetton tragen (mit einem aufgedruckten Foto von Schafen, die darum bitten, nicht bei Tisch geopfert zu werden) und wo im benachbarten Stadtviertel nachts “la pulizia“ kommt, oder die Todesschwadronen, die für einen Euro pro Kopf Transvestiten, Prostituierte und Drogensüchtige umlegen. Enrique kommt aus Chile (wo man sieht, «dass der südamerikanische Kontinent Gefahr läuft, in einer neuen Welle von Populismus und Caudillos zu versinken») und Michelle aus Washington (wo sie als Journalistin arbeitet und ihr Problem ist, den Beruf zu erlernen, hart an einem wissenschaftlichen Doktorat zu arbeiten). Cindy hingegen ist Australierin, bei CL ohne es zu wollen, «es waren die Umstände, nicht meine Wahl, du findest dich da, weißt du, ich glaube nichts besseres in meinem Leben gefunden zu haben, und nicht etwa weil ich in meinem Leben nichts gesehen hätte, ich habe drei Kinder von zwanzig, achtzehn und sechzehn Jahren, mit gut vierzig Jahren bin ich zu neuem Leben erwacht» (auch John ist Australier, aber aus Perth, an der Westküste, wo allem Anschein nach alles gegen Christus ist; warum, sagt das T-Shirt des Ortes, in dem man morgens das Frühstück am Strand einnimmt, dann Arbeitspause, den Nachmittag mit Aperitif auf der Veranda verbringt, den Abend mit Umarmung beim Sonnenuntergang am Meer: «o Gott, Perth, wieder ein langweiliger Tag im Paradies»). Welch ein Spektakel menschlicher Vielfalt, von Geschichten, von Freude vermischt mit offenen oder versteckten Mühen und Leiden! Und doch rührt es uns unversehens an, auf der ganzen Welt, unter Menschen, die wir nie gedacht hätten kennen zu lernen, Schwarze, Weiße, Gelbe, Olga aus Moskau und junge Sibirier, freundliche Chinesen und eine fantastische Südkoreanerin, an uns ist es, berührt zu werden von der Anziehungskraft des Seins, die uns geschenkt worden ist von einer GEGENWART. Uns berührt das Charisma, durch das ER uns erreicht hat.

Die Anziehungskraft des Seins
Auch die Internationale Versammlung der Verantwortlichen (IVV) erweist sich vor allem als das, was die Bewegung auf all ihren Ebenen ist: den persönlichen, gemeinschaftlichen, geographischen und raum-zeitlichen. Wir waren vom Meeting in Rimini aus aufgebrochen, erstaunt über eine Wirklichkeit, die allen offen stand und niemandem gegenüber feindlich war. Wir haben die IVV begonnen und sind auf das Durchhalten und Andauern einer reinen Schönheit gestoßen. Das was wirklich erstaunt ist nicht die Vielfalt und der Reichtum der Personen, die aus allen Teilen der Welt gekommen sind. Das was menschlich gesprochen erstaunt, ist, dass es ETWAS gibt, das all das möglich macht. «Wie schön ist die Welt und wie groß ist Gott» wiederholt der (sichtbare) Leib unserer Bewegung. Rettung aus der Hölle des Dualismus: wir sehen, berühren und verkünden ein Leben, nur ein Leben, nichts als ein Leben, das uns der Anziehungskraft nachgeben lässt. Der Anziehungskraft des SEINS, das uns entgegen kommt.