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Thema - La Thuile
Nächstenliebe, das Gesetz des Lebens
Paola Ronconi

Auf dem Treffen der Verantwortlichen wurden auch karitative Werke der Bewegung vorgestellt. Einige sorgen sich um Minderjährige, denen jede Chance in der Gesellschaft, der Schule, oder Familien genommen wurde. Es sind Einrichtungen, die mit der Compagnia delle Opere (CdO) einem katholischen Verband von CL entstanden und inzwischen in Neapel, Padua, Mailand, Turin, Varese, Pesaro und Forlì tätig sind. Sie kümmern sich um Jugendliche aus zerrütteten Familien, Missbrauchsopfer, geistig Behinderte oder Minderjährige am Rande der Gesellschaft. Oft sind es Kinder, die die Schule nicht zu Ende bringen, straffällig wurden oder sonstwie durch die Maschen der Gesellschaft gefallen sind, weil sie nicht in das «normale» Schema passen oder «andersartig befähigt» sind.
Die Werke helfen aber auch Auszubildenden, die einfach ein Vorstellungsgespräch vorbereiten müssen. «In der Schule habe ich mich gelangweilt. Hier hingegen hilft man mir. Wenn ich etwas nicht sofort verstehe, wird es erneut erklärt. Man lässt mich nicht fallen», meint einer der Jugendlichen. «Man hat mir beigebracht, meinem Leben ins Gesicht zu schauen. Normalerweise laufe ich nämlich vor allem weg.» Und weshalb machen das die ehrenamtlich Tätigen, wollte der Interviewer wissen. «Ich glaube, weil sie uns lieben.» Das ist der Punkt: Den Menschen lieben, ihn in den Schwierigkeiten des Lebens begleiten, die für einige enorme Hürden darstellen. Die Kinder müssen ihr Leben mit jemandem teilen können, der sie liebt, etwa durch eine Berufsausbildung. Aber um zu lieben, muss man seinerseits geliebt sein. Man muss jemanden haben, der mit den eigenen Grenzen, den kleinen und großen Armseligkeiten Erbarmen hatte (andernfalls handelt es sich höchstens um Sozialhilfe). Die Einrichtungen heißen Aslam, Cometa, In-Presa, Edimar, Zentrum für Solidarität, Markt der Handwerke, Gemeinschaft Solidarität, Die Straße, Das Unvorhergesehene, Freier Hafen oder Unternehmen Solidarität. Im Grunde handelt es sich schlicht und einfach um Nächstenliebe.
Ein weiteres Beispiel ist der junge Chirurg Andrea Rizzi. Er lebt seit einigen Jahren mit seiner Frau und seinen Kindern in Uganda und arbeitet im Krankenhaus von Hoima. Die Arbeit in der Notaufnahme des Krankenhauses ist mehr als eine Herausforderung: Amputationen, bewusst vom Vater oder der Mutter als Bestrafung zugefügte Verbrennungen, oder Menschen, die von wilden Tieren verletzt wurden. Wenn man das Handwerk beherrscht, ist die Versuchung groß zu glauben, wenn man hoffnungslose Fälle rettet, dann sei man ein kleiner «Kollege Gottes». Doch schon der nächste Schritt kann die Niederlage bringen: Die Wirklichkeit ist größer und oft härter als die gut gemeinten Versuche, sie zu ordnen. «Eines Abends», erzählt Rizzi, «kam ich nach Hause und musste mich übergeben wegen all dessen, was ich gesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, alles sei vergeblich. Und so sagte ich meiner Frau: „Kehren wir heim“. Sie antwortete darauf: „Glaubst du, dass du hier bist, um die Probleme Afrikas zu lösen? Erinnere dich daran, weshalb wir hier sind, und was dich hierher gebracht hat. Denke an alle Personen, mit denen wir unseren Wunsch, nach Afrika zu kommen, geteilt haben. An die Leute in Uganda, mit denen wir das Leben teilen: Pater Tiboni, Pippo, Maolita und Stefano.“ Da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich das erste Objekt der Nächstenliebe war», so Andrea Rizzi. «Ich war dort, weil jemand barmherzig mit mir gewesen war, als ich im ersten Semester des Medizinstudiums war. Mir wurde gesagt, die Bestimmung der Personen zu lieben, die ich unter dem Skalpell vorfand, denn ich hätte nicht alle retten können ...
Diese Leute haben dieselbe Frage, die auch wir haben, nämlich ob das Leben einen Sinn hat. Es ist der Wunsch, jemanden zu treffen, der dies bezeugt, und es ist die Sehnsucht, dass es eine Schönheit, eine Wahrheit, einen Grund gibt zu leben, dass dein Ehemann und deine Kinder einen Wert haben. Da wir das Glück und die Gnade hatten, den Schatz des Lebens zu finden, ist es an uns, dies allen mitzuteilen.» Um die Nächstenliebe zu leben, muss man sie erhalten haben, aber um sie geben zu können, muss man die Personen lieben, jeden Einzelnen. An diesem Punkt macht es keinen Unterschied, in Uganda oder in einem Krankenhaus in Lodi zu arbeiten.
Die Geschichte von Marcos und Cleuza Zerbini ist den Lesern von Spuren bereits bekannt [siehe April und Juni 2005]. Vor Jahren begannen sie, sich um die favelados von Sao Paolo in Brasilien zu kümmern. Nach und nach entstand eine Landlosen-Bewegung. Man kaufte Grundstücke für den Häuserbau und die Regierung finanzierte die Infrastruktur: Wasser, Schulen, Busse. Allerdings ging die Bewegung auch darüber hinaus, wie Marcos erzählt: «Das Haus war nicht alles. Wir mussten eher Gemeinschaften als Häuser errichten, damit die Menschen lernten, sich zu lieben und zu respektieren. Aber auch nachdem das erreicht war, sagte uns unser Herz, dass es nicht reichte.» Vor dreieinhalb Jahren trafen sie einen Arzt von CL und dies war für Cleuza der Wendepunkt: «Als wir die Bewegung trafen, haben wir verstanden, dass bei allen diesen Anstrengungen Christus fehlte. Die Sehnsucht nach unserem eigenen Glück und dem aller Menschen, die mit uns zusammen sind, wird vervollkommnet, wenn man Ihn trifft. Die Last unserer Arbeit ist dadurch leichter geworden, weil unsere Aufgabe darin besteht, auf den Ruf Jesu zu antworten. Und das Ergebnis unserer Arbeit hängt letztlich von Gott ab, nicht von uns. Wir spüren jetzt nicht mehr die Einsamkeit wie früher. Als ich die Bewegung getroffen habe, habe ich das getroffen, was ich mein ganzes Leben lang gesucht habe: Ich habe den lebendigen Gott in meinem Leben getroffen. Und meine Arbeit ist heute zur Mission geworden.»