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Meeting Rimini
Der Herr ist alles
Alberto Savorana

Claudio Morpugno, Vizepräsident des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden in Italien, und Joseph Weiler, ein bekannter Experte zum europäischen Verfassungsrecht aus New York, befassten sich auf dem Meeting mit dem Thema "Ein Gesetz für die Menschen". Beide stehen in der großen Tradition des jüdischen Volkes und setzen sich auf dem Meeting - ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung und der Geschichte ihres Volkes, aus dem wir alle hervorgehen - mit dem Themenkreis Recht, Gesetz, Freiheit auseinander.

Weiler: (...) Ich möchte das Problem des Gesetzes im Zusammenhang der Beziehung zwischen Juden und Christen erläutern. Unser Zusammenleben bestand zu großen Teilen aus schwierigen Beziehungen, die zuweilen von Hass, Verachtung und Schlimmerem geprägt waren. Eine wirkliche Wiederannäherung in der Beziehung von Juden und Christen begann ernsthaft mit dem Konzil und dem Dokument Nostra aetate vor fünfzig Jahren. In jüngerer Zeit ist man unter der Führung des unvergesslichen Papstes Johannes Paul II. zu einer goldenen Epoche gelangt. Vergangene Woche hat Benedikt XVI. während seines historischen Besuches in der Kölner Synagoge spontan, gleichsam aus einer Herzensregung heraus, den offiziellen Text geändert, der schon unter den Journalisten verteilt war: anstatt vom Imperativ des Respektes zwischen Juden und Christen zu sprechen, sprach er vom Imperativ der Liebe. (...)
Das Herz der jüdischen Religion ist das Gesetz. Und es ist von grundlegender Bedeutung, das Gesetz zu verstehen und so zu sehen, wie wir praktizierenden Juden es sehen, um dem Gebot Papst Benedikts von der Liebe zwischen Christen und Juden Folge leisten zu können. Und dies werde ich nun zu erklären suchen. (...) Für uns bildet das Gesetz den jüdischen Weg zur Heiligkeit. (...) Das jüdische Gesetz ist allgegenwärtig in der Praxis des alltäglichen Lebens: vom Aufwachen am Morgen bis zum Abend, wenn ich die Augen schließe und das Abendgebet spreche. (...) Aber es ist keine Idee, sondern eine ständige, tägliche Gegenwart. (...) Das Gesetz zeigt mir meinen Gehorsam Gott gegenüber. Ohne das Gesetz ist der Jude ein Waise, ein Waise Gottes.

Claudio Morpugno: (...) Für uns Juden ist die Beziehung zum Gesetz eine kreative Beziehung, die die Lehre des Herrn aktuell und lebendig hält. Das bedeutet, diese Erfahrung und Tradition mit in das alltägliche Leben hineinzunehmen. (...)
Jeder Mensch ist ein Kosmos und die Unterschiedlichkeit bedeutet Reichtum. Dies heißt jedoch, dass auch das erhabenste Gesetz, das Gesetz des Herrn, wenn es von einer Gesamtheit angenommen werden soll, auch von jedem Einzelnen empfunden und anerkannt werden muss. Es muss die Identität jedes Menschen ansprechen, seine Bedürfnisse und Wünsche. (...) Das Gesetz als Art und Weise, ich selbst zu sein, nicht als abstrakte Formel, der man sich blind angleicht. Es handelt sich gleichsam um eine Unterstützung ante litteram, deren Grundlage die Anerkennung der kreativen Kraft des einzelnen Individuums ist. Dieses schließt gleichsam einen Vertrag, einen Vertrag mit dem Herrn selbst. (...) Diese Evidenz kann man so beschreiben: "Für einen Juden gibt es keine Freiheit ohne das Gesetz." (...) Die wirkliche Freiheit gibt es nicht gratis, sie kostet Mühe, man erobert sie Tag für Tag, im Leben, indem man auch spezielle Gesetze beachtet, die unerklärlich scheinen können. Die wirkliche Freiheit erobert man durch eine geistige Disziplin, die individuell und zugleich gemeinschaftlich ist. (...) Ihr habt verstanden, dass der Mensch für uns Juden frei ist, den eigenen Weg zu wählen, aber er ist nicht unabhängig vom Herrn und seiner Schöpfung.

Nach dem Beitrag der zwei Vertreter der jüdischen Gemeinschaft ist es verständlicher, warum Don Giussani uns immer empfohlen hat, als gleichsam jüngere Geschwister mit Andacht die große jüdische Geschichte zu betrachten, ohne die wir heute nicht hier sein könnten, um über die Freiheit zu sprechen. Denn Gott ist das Ziel einer Liebesbeziehung, die auf die Wirklichkeit hin öffnet und deswegen befreit, die es uns ermöglicht, durch keinen Umstand versklavt zu werden und alles mit Interesse zu betrachten, um die Dinge ganz neu zu besitzen.