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Die Nächstenliebe - Caritas - wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft
Julián Carrón

Aufzeichnung eines Vortrags von Don Julián Carrón vor Verantwortlichen der Initiativen «Avsi - Zelte 2006/2007». Die Nichtregierungsorganisation Avsi wirbt jedes Jahr zu Weihnachten mit öffentlichen Ständen um Spenden für die Entwicklungshilfe.
Mailand, 18. November 2006

Der Titel der diesjährigen Initiative der «Zelte» kann uns in das Verständnis des Gestus tiefer einführen. «Nächstenliebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen.» (Benedikt XVI. Deus caritas est, Nr. 28). Vor einem Menschen zu stehen, der Liebe, Zuneigung und eine Umarmung braucht, lässt uns verstehen, dass der Dienst dieser Liebe, dieser Zuneigung, nie genug, nie überflüssig sein wird und dass wir keine Zivilisation schaffen können, in der das nicht mehr nötig sein wird. Denn ein Mensch kann vielleicht ohne Geld auskommen, aber niemals ohne diese Umarmung.
Zum besseren Verständnis hilft uns das, was Don Giussani uns in dem Buch Der Sinn der Caritativa mitgeteilt hat. Dort haben wir kurz gefasst alle Ausgangspunkte, um die Gründe eines Gestus wie den der «Zelte» zu verstehen. Aber es geht nicht allein um die Gründe des Gestus. Denn um die Gründe eines Gestus zu verstehen, müssen wir uns selbst und den Gesamtzusammenhang verstehen. In einem Gestus sind alle Faktoren einbezogen: vom Ich zum Ganzen, zum Sinn und zur Bedeutung von allem.
Die Nächstenliebe ist ein notwendiges Bedürfnis, unser Bedürfnis, das in uns Interesse für die anderen weckt. «Wenn es etwas Schönes in uns gibt, empfinden wir die Notwendigkeit, es den anderen mitzuteilen.» (Der Sinn der Caritativa, S. 5). Wenn wir ein Bedürfnis sehen, sehen wir uns dazu gedrängt, zu antworten. Das ist der Fall und entspricht so sehr unserer Natur, dass wir dies spüren, und zwar nicht weil es uns jemand sagt, sondern weil wir den Wunsch haben, etwas mitzuteilen. Wie Don Giussani hinzufügt, werden wir umso mehr wir selbst, je intensiver wir dieses notwendige Bedürfnis leben. Das ist der erste Grund, warum wir einen Gestus wie den der «Zelte» machen, und warum wir karitativ handeln. Deshalb geht es nicht um etwas Äußerliches, wie eine Pflicht, sondern um etwas, das mit uns übereinstimmt. Wir sind so geschaffen, haben diese Struktur, diese Art und Weise zu sein. Und je mehr wir in der Art und Weise leben, in der wir geschaffen sind, desto mehr «verwirklichen wir uns selbst», wie Don Giussani betont.
Dieses Sich-Geben, Sich- Mitteilen, Sich- für –den- anderen- Interessieren, ist Teil unserer Natur, so wie wir sie in der Erfahrung entdecken. Wir schnappen es nicht wie ein Konzept in irgendeiner Enzyklopädie auf, sondern wir werden, wenn wir aufmerksam sind, in unserer Erfahrung davon überrascht – wenn wir die Notwendigkeit spüren, etwas Schönes mitzuteilen, oder wenn wir auf ein Bedürfnis eingehen. Worin besteht dabei das Gesetz? Dass wir mehr wir selbst sind. Noch vor jeder Antwort auf ein Bedürfnis und jeder Notwendigkeit, ist dieses Mitteilen ein Gesetz unseres Ichs. «Das höchste Gesetz unseres Seins ist also das Sein der anderen zu teilen, und sich in Gemeinschaft zu stellen» (S. 7). Wir sind daran interessiert, dies durch einen Gestus zu tun, der es uns erlaubt, diese Haltung für unser ganzes übrige Leben zu lernen. Denn so sind wir mehr wir selbst. Und dieses Gesetz des Seins hat sich – sagt Don Giussani – in offensichtlicher Weise offenbart, in der Form in der das Sein selbst sich uns geschenkt hat. Indem der Menschensohn, Christus, Mensch, Fleisch geworden ist, hat er uns nicht als Erstes etwas gegeben, sondern er hat – wie es Don Giussani so wunderschön sagt – «unsere Nichtigkeit mit uns geteilt.» (S. 7). Das Erste, was er tat, war Mensch zu werden, Fleisch anzunehmen. So hat er die wahre Natur des Seins enthüllt, die wir wahrnehmen, entdecken und die wir in Christus ganz klar verwirklicht sehen, ohne Zweideutigkeit, in absolut evidenter Weise. Wir müssen dazu nur innehalten und an dieses überraschende und absolute Geheimnis denken: dass das Wort Fleisch geworden ist – wenn wir es für einen Moment einmal nicht als selbstverständlich und abgegriffen ansehen, als etwas schon Gewusstes.
Was aber besagt diese Hingabe, diese Selbstmitteilung für uns? Ich habe bereits bei anderen Gelegenheiten eine Episode geschildert, die mir auf einer Reise in Lateinamerika widerfahren ist. Es war das Fest der Gottesmutter und die erste Lesung der Messe war dem Galaterbrief entnommen. Es hieß dort, dass Jesus, das Geheimnis, Fleisch wurde durch die Mutter Gottes. Ich nahm dies sofort an und sagte mit all meinem Wollen: «Das stimmt!» Dann aber begriff ich, wie begrenzend das sein kann, ich verstand, dass das nicht alles war. Und als ich dann das Evangelium derselben Messe hörte, es handelte vom Besuch Mariens bei Elisabeth, durchfuhr mich ein Ruck. Die Mutter Gottes kommt zum Haus von Elisabeth und das Evangelium sagt, dass das Kind – Johannes der Täufer –, als er den Gruß von Maria vernahm, im Schoß seiner Mutter vor Freude hüpfte. Ich sagte zu mir: «Das ist das Christentum!» Es ist keine theoretische Feststellung. Was aber ist es? Eben dieses vor Freude springende Kind im Schoß seiner Mutter. Hier sieht man gut, was das Größte an dieser Hingabe und diesem Teilen war. Es ist nichts, was Christus tut – das sieht man hier in seiner Existenzialität –, sondern allein seine Gegenwart, die unser Nichts mit uns teilt. Die Mutter Gottes wollte lediglich ihre Cousine besuchen, das könnte als Nichtigkeit erscheinen, aber in diesem Gestus, indem sie Seine Gegenwart gebracht hat, hat sie jenes Kind vor Freude springen lassen.
Wir sehen also, dass die wahre Nächstenliebe dieses Eintreten, dieses Teilen unseres Nichts von Seiten des Sohnes Gottes ist. Wenn wir das begreifen, lässt uns das aufspringen. Was also ist die Wurzel dieser Leidenschaft, wo kann die Leidenschaft des Teilens etwas aufgreifen? Nur in dem, das wir von einem Anderen erhalten, in dem, was aus dem Herzen überläuft von dem, was wir erhalten, von jener Zärtlichkeit des Geheimnisses uns gegenüber. Es ist äußerst wichtig, das gut zu verstehen, damit unser Tun nicht zum reinen Aktivismus wird. Denn oft nehmen wir das selbstverständlich hin, denken, wir wissen das schon, und legen gleich los.

Ich habe einmal, bei einer Versammlung mit Jugendlichen über das Kapitel zur Nächstenliebe im Buch Si può vivere così? dazu aufgefordert: «Nehmt einen Zettel und schreibt in einem Satz, was euch am stärksten beeindruckt hat.» Schon nach einer Minute hatte ich einen ersten Überblick über die Situation. «Was hast du geschrieben?» «Diesen Satz.».«Wie viele haben noch diesen Satz geschrieben?» … «Was hast du geschrieben?» ... Der Test hat eine Minute gedauert: Die Mehrheit hatte vergessen, um welche Frage es ging und das Thema verfehlt. Die meisten hangelten sich an dem entlang, was man tun muss. Aber wer hatte die wirkliche Frage begriffen, die in der Aussage Don Giussani lag und sich mit den Worten von Jeremia zusammenfassen lässt: «Ich habe dich mit einer unendlichen Liebe geliebt und habe mich deines Nichts erbarmt? Das ist die Liebe, wie es der heilige Johannes sagt: die Frage ist nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern, dass «Gott uns zuerst geliebt hat» (Deus caritas est Nr.1). Das ist es, von dem der Papst in seiner Enzyklika so spektakulär gesagt hat: Unsere Leidenschaft greift dort etwas auf, und wenn sie es dort nicht versucht, wird uns alles andere allmählich ermüden. Denn die Nächstenliebe ist keine Großzügigkeit. Die Großzügigkeit beginnt bei dem, was uns fehlt, was wir mit etwas füllen wollen, und dann wird uns das früher oder später ermüden. Die Ungeschuldetheit hingegen beginnt mit dem, was unserem Herz einen Ruck gibt, was uns erfüllt, was überfließt, von dem, was wir unsererseits erhalten haben, was wir alles am Anfang haben, also mit dem, was uns erfüllt. Und deswegen verwirklichen wir uns, indem wir uns einander schenken, unsere Person verwirklicht sich. Anderenfalls, wenn das nicht so ist, entstehen die Ansprüche.
Deswegen ist es so außerordentliche wichtig, den Ursprung unseres Gestus zu verstehen, der uns von jeder anderen Nichtregierungsorganisation unterscheidet. Denn unsere ganze Freiwilligkeit reicht nicht aus, um uns und andere froh zu machen. Denn gegenüber der Tragweite der Seele ist alles zu klein und zu wenig, selbst wenn wir in der Lage sein sollten, die Probleme und Schwierigkeiten zu lösen. Deswegen wird die Nächstenliebe auch in der gerechtesten Gesellschaft stets notwendig sein.
Weshalb ist das heute so schwer zu verstehen? Don Giussani gibt eine Antwort auf den folgenden Seiten des Buches Der Sinn der Caritativa: Wir reduzieren das Bedürfnis des anderen. «Was ist das Bedürfnis des anderen?» fragt er (S. 8). Was ich mir vorstelle? Was ich entschieden habe? «Was sie wirklich brauchen, weiß nicht ich, messe nicht ich, habe nicht ich. Es ist ein Maß, das ich nicht habe, es ist ein Maß, das in Gottes Hand liegt. Deswegen – sagte Don Giussani vor vielen Jahren – können die „Gesetze“ und die „Gerechtigkeiten“ erdrücken, wenn sie das vergessen oder ersetzen sollten, was das einzig „Konkrete“ ist, das es gibt, die Person und die Liebe zur Person» (S. 9). Der tödlich-kritische Punkt ist, dass wir so häufig das Bedürfnis reduzieren, eingrenzen.
Wenn wir unseren Verstand nicht erweitern, um wirklich das Bedürfnis des anderen aufzunehmen, zu entdecken und herauskommen zu lassen (sondern so sind, wie viele Politiker, die uns immer wieder sagen, was unsere Bedürfnisse sind und gar nicht zuhören), wird es immer so erscheinen, dass es jemanden geben muss, der uns sagt, was wir sein müssen, oder was unser wirkliches Bedürfnis ist. Es gab auch Gesellschaften, deren Führer überzeugt waren, schon zu wissen, was alle ihre Länder brauchten, das haben wir ganz klar gesehen. Wenn wir nicht offen sind, wirklich zuzuhören, das wahre Bedürfnis anzunehmen, wie können wir es dann vermeiden, dem anderen schließlich unsere Maßstäbe aufzuzwingen? Nur im Zusammenleben begreifen wir, dass «wir es nicht sind, die sie zufrieden stellen – sagt Don Giussani – und dass nicht einmal die perfekteste Gesellschaft, der rechtlich stärkste und umsichtigste Organismus, der größte Reichtum, die stärkste Gesundheit, die reinste Schönheit, die am höchsten stehende Zivilisation sie jemals zufrieden stellen kann. (S. 10).
Deswegen wird die Nächstenliebe immer nötig sein. Die einzige volle Gerechtigkeit ist die, die unserem drängenden Bedürfnis nach Erfüllung entspricht. Jede andere Art von Gerechtigkeit ist eine Verkürzung, ist eine Einschränkung davon. Deswegen müssen wir der Sache auf den Grund gehen und das bedeutet, uns selbst, die Wirklichkeit, und das Bedürfnis, das wir und die anderen haben, immer besser zu verstehen; das Bedürfnis nach der einzigen Antwort, die mir entspricht. Denn durch dieses Teilen hindurch, durch das Unvermögen meines Versuches, verstehe ich, dass sie das brauchen, was ich auch brauche: Christus.
Wenn man das aus den Augen verliert, entsteht eine Nichtregierungsorganisation wie jede andere. Vielleicht werden bestimmte Bedürfnisse befriedigt, aber mit dieser Einschränkung verliert man die Möglichkeit, auf das wahre Bedürfnis zu antworten. Es ist nicht so, dass man darauf nicht eingehen soll. Aber mit diesem Eingehen auf das konkrete Bedürfnis müssen wir das bringen, was alle so wie wir, erwarten, denn wir haben dasselbe Herz. Wie ist das möglich? Es ist nur möglich, wenn wir dieses Bedürfnis selber haben. Das ist die Ebene, wo derjenige ins Spiel kommt, den wir bringen können. Wir bringen es, wenn wir es zuerst erhalten haben, wenn wir es in uns aufgenommen haben. Wir bringen ihnen das Antlitz Christi nur wenn wir uns von Seinem Antlitz, von Christus, durchdringen lassen. Anderenfalls wird jede Antwort von uns immer ungenügend sein.
Mich berührt es, zu denken, dass Jesus nicht alle Kranken seiner Zeit geheilt hat, er hätte das tun können, er hatte die Möglichkeit, es zu tun und hat es nicht getan. Wenn wir unser Unvermögen spüren, auf alle einzugehen, sollen wir uns nicht entmutigen. Denn nicht einmal Er, der es hätte tun können, hat es getan. Das gilt auch für uns: Wenn wir antworten, ist das, was wir tun können wie ein Zeichen, durch das wir alles tragen. Was uns aber so oft fehlt ist beim Detail, bei der ganz konkreten Geste die Gesamtheit zu sehen. Um auf das Bedürfnis zu antworten, hat Jesus manchmal Wunder vollbracht. Es war so, als wollte er durch diese Zeichen hindurch sagen: «Seht mal, ich bin hier. Seht her, die Wirklichkeit ist größer als das, was ihr im Kopf habt, und ihr seid mit eurem Nichts nicht alleine. Ich bin hier.» Das entsprach viel mehr dem wahren Bedürfnis. Denn indem er auf das konkrete Bedürfnis antwortete, ließ er seine Anwesenheit, welche die vollständige Antwort war, gegenwärtig werden.
So sagt es auch das Evangelium zur Auferstehung des Lazarus: «Warum bist du nicht eher gekommen?» fragten sie ihn. Und er antwortete: «Um klarer die Ehre und die Wahrheit Gottes, die ich bin, zu enthüllen, denn sie wird deutlicher enthüllt, wenn ich ihn jetzt auferwecke, als wenn ich ihn nur geheilt hätte.» Und was erstrahlte in dieser Tatsache? Wer Jesus war. Denn Lazarus musste trotzdem sterben, später. Oder habt ihr ihn zufällig unterwegs getroffen? Mit dieser Geste wollte er Lazarus zu verstehen geben, dass er mit seinem Nichts nicht allein war. Dass es Hoffnung gibt nicht nur für dieses Leben, sondern für die Ewigkeit, denn Er, der ihn in jenem Moment auferstehen lassen konnte, kann ihn auch am Ende auferstehen lassen. Jesus ließ, indem er auf das Bedürfnis eine Antwort gab, die Wahrheit der Welt klar vor Augen treten, die Wirklichkeit der Welt. So zwang er alle, die Vernunft auszuweiten. Oft verfügen wir über eine unzeitgemäße Vorstellung der Wirklichkeit. So wie es keine wirklichen Weltkarten gibt, außer denen auf denen Amerika schon eingezeichnet ist, so ist es als ob wir noch nicht vollständig unsere Karte zur Erkenntnis der Wirklichkeit auf den neuesten Stand gebracht hätten. Tatsächlich gibt es keine wirkliche Weltkarte, die den Namen verdiente, auf der die Auferstehung Christi nicht eingezeichnet wäre und in der nicht verzeichnet wäre, dass dieses Geheimnis unser Nichts mit uns geteilt hat. Eine Wirklichkeit ohne Christus existiert nicht, es gibt sie nicht, es ist nur eine Beschneidung durch uns. Es gibt sie nicht.
Deshalb führen wir durch die Geste der «Zelte» in die allumfassende Wirklichkeit ein, durch diese Geste des Teilens führen wir in die Wirklichkeit ein. «Alles Handeln der Kirche – sagt der Papst in der Enzyklika – ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt» [beachtet diesen Punkt] (Nr. 19), die Totalität der Bedürfnisse des Menschen und das heißt: «Die Begegnung mit den sichtbaren Erscheinungen der Liebe Gottes kann in uns das Gefühl der Freude wecken, das aus der Erfahrung des Geliebtseins kommt» (Deus …, Nr. 17) – aus der Erfahrung, dass wir nicht mit unserem Unvermögen allein sind. Deshalb betont der Papst: «Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte [dies ist sehr wichtig, es ist nichts, das wir anderen überlassen können], sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst» (Nr. 25). Man kann auch nur materielle Unterstützung liefern, wie jede beliebige Nichtregierungsorganisation, aber das ist nicht Kirche. Wenn wir, durch das, was wir machen, nicht jenen Blick weiter tragen, mit dem wir angeschaut worden sind, sind wir wie alle anderen. Wie sagt es jener phantastische Ausdruck von Don Giussani: Ein Blick, der dem Blick Gestalt verleiht. Das ist das Christentum! Es ist nicht die mechanische Wiederholung bestimmter Haltungen, bestimmter moralistisch verstandener Dinge, sondern die Tatsache, dass ein Mensch von einem Blick gleichsam neu erschaffen wurde, der ihn so an der Wurzel traf, dass er dem eigenen Blick Gestalt verleiht. Und zwar in der Weise, dass jeder – wie wir – sich mit Christus treffen kann, denn dieser Blick ist das Zeugnis dafür, dass Christus jetzt gegenwärtig ist. Deswegen kann die Kirche niemals die Nächstenliebe anderen überlassen, wie dem Staat oder einer Nichtregierungsorganisation. Denn wir vollbringen nicht nur gesellschaftliche Hilfeleistungen («Aber seht ihr nicht? Meine Werke sprechen von mir»), denn Jesus kennt unser Bedürfnis und hat es nicht verkleinert. Er weiß, dass wir Ihn brauchen, der die Hoffnung von Zeit und Ewigkeit ist. Wir haben nicht nur materielle Bedürfnisse, sondern auch das Verlangen nach Zuneigung, danach, geliebt zu sein. «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.» Deswegen ist es für uns alle wirklich eine große Gelegenheit, diesen Gestus durchzuführen. Deshalb müssen wir uns helfen, denn «die Liebe bedarf – sagt der Papst – auch der Organisationen als Voraussetzung für ein geordnetes gemeinschaftliches Dienen» (Nr. 20). Es bedarf einer Organisation, wir müssen die Veranstaltungen organisieren, aber das wird nie das Ziel der Aktivität der Liebe der Kirche, eines Christen sein, niemals! Die Organisation ist eine Voraussetzung, nicht das Ziel. Denn das Risiko, zu Funktionären der Organisation zu werden, ist immer groß, wir alle, die wir bei diesem Gestus mitmachen, müssen uns gegenseitig helfen, damit statt dessen die Gewissheit unseres Glaubens wächst. Denn es kann passieren, dass das zum Grab unseres Glaubens wird, dass es uns skeptisch macht.
Als ich diesen Sommer mit einer Gruppe von Jugendlichen sprach, hat mich die Tatsache betroffen gemacht, dass die Teilnahme an der Organisation bestimmter Initiativen zu etwas werden kann, das nicht unser Ich weckt und uns neue Luft zuführt, sondern etwas, das zu unserem Gab wird, weil wir völlig vom Organisieren, von den Problemen und den Diskussionen unter uns eingenommen sind. Es ist einem zum Heulen zumute allein bei dem Gedanken, dass das, wofür wir so viel Zeit aufwenden, so viel Bereitschaft, so viel Energie, etwas sein soll, das uns nicht wachsen lässt.
Deswegen müssen wir bei allem, das wir machen, dabei sein, und zwar mit unserem ganzen Selbst. Und das können wir nur machen, wenn wir von der Gegenwart und der Liebe Christi überwältigt sind. Denn das, was wir bringen müssen, ist genau das, was uns begegnet ist. Der Satz vom Heiligen Augustinus, den der Papst zitiert, bringt das auf den Punkt: «Wenn du die Liebe siehst, siehst du die Heiligste Dreifaltigkeit». (Nr. 19). In jedem Gestus sollte jede Person, die uns trifft, die Gelegenheit haben, durch die Liebe hindurch die Dreifaltigkeit zu sehen. Denn einzig und allein diese entspricht dem wirklichen menschlichen Bedürfen, was nichts anderes ist, als die Sehnsucht nach dem Unendlichen, das heißt nach Gott, nicht nach einem abstrakten Gott, sondern nach dem einzigen Gott: der Dreifaltigkeit.
Kürzlich in Brasilien, bei Tisch mit einer Gruppe von Freuden, war auch Cleuza Zerbini zugegen, die wie ganz viele andere zur Bewegung «Senza Terra» gehört. Irgendwann plauderten wir darüber, wie wir uns gegenseitig helfen können, da sagt sie ganz überrascht: «Wie bitte: ich bin dazu ausgesucht worden?» - «Ja, Ja!»«Also, erklär mir das bitte». Ich habe versucht, ihr zu erklären, was wir immer von Don Giussani gelernt haben, also dass die Wahl die Methode Gottes ist, dass Gott einige auswählt, um – durch sie hindurch – zu allen zu gelangen. Um das verständlicher zu machen, bin ich von dem Gemälde von Caravaggio ausgegangen, das mir sehr gefällt, Die Berufung des Matthäus, mit Matthäus, der zu sagen scheint: «Wie, tatsächlich ich?!». Auf einmal bemerke ich, dass sie angefangen hatte zu weinen, ganz gerührt davon, dass ihr das gegeben wurde. Für mich war das, als ob ich gegenwärtig sehen würde, was vom Besuch von Maria bei Elisabeth erzählt wurde. Man fühlt sich bis ins Mark getroffen, weil das Geheimnis sein Nichts mit einem geteilt hat.
Mit diesem so konkreten, manchmal so mühsamen Gestus der «Zelte», als Antwort auf die konkreten Bedürfnisse, die wir sehen, wollen wir etwas von dieser Liebe bringen, von diesem Berührt-sein, von dieser Dankbarkeit für das, was uns gegeben wurde.