Logo Tracce


Aufmacher
Maria im Geheimnis Christi und der Kirche
Luigi Giussani

Aufzeichnungen eines Vortrags von Don Luigi Giussani vom 2. Mai 1988 in der Kathedrale von Faenza

Ich danke Ihnen, Exzellenz1, dass Sie es mir ermöglichen, hier - wie Sie selbst gesagt haben - ein Zeugnis abzulegen, zumal es sich um ein Zeugnis über die Muttergottes handelt. Ein Zeugnis ist keine Rede. Es ist eine Mitteilung unter Brüdern von etwas, das jemand zu leben verspürt oder in seinem Leben als Erfahrung gemacht hat. In der Bibel steht folgender Satz, den die christliche Tradition als Prophezeiung der Muttergottes deutet: «Qui elucidant me, vitam aeternam habeunt»ii, «Wer mich ans Licht hebt, hat ewiges Leben.» Daher danke ich für die Möglichkeit, über die Muttergottes sprechen zu dürfen. Außerdem wird jeder zugeben müssen, dass es in der Geschichte des Christentums, ja überhaupt in der Weltgeschichte nichts Erstaunlicheres gibt als die Berühmtheit, die Verehrung, das Vertrauen und die Liebe, die sich um ihre Person herum verdichtet und polarisiert haben. Und das, obwohl sie ein junges Mädchen von gerade einmal fünfzehn oder sechzehn Jahren war, aus einem völlig abgelegenen Ort.

I
Was ist das erste Wort, von dem alles seine Ausgang nahm? «Respexit humilitatem ancillae suae», «auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.»iii Das lateinische Wort humilitas stammt ab vom Wort humus, das «Erde» oder «Boden» bedeutet. Es handelte sich also um eine armselige, geradezu am Boden liegende Wirklichkeit, ein Nichts. Wie ich gerade sagte: ein Mädchen von 15 oder 16 Jahren in einem kleinen Ort, der in der gesamten damaligen Welt völlig unbekannt war. Doch warum gehe ich von diesem Wort aus? Warum geht meine Marienandacht von dieser Beobachtung aus?
Was gibt es Großes auf der Welt? Alles war einmal nichts und wird dereinst nicht mehr sein, alles! Alles ist wirklich armselig.
Auch die Wassertropfen einer Welle, die sich am Meeresufer an den Klippen bricht, erscheinen in dem Moment, in dem sie in der Sonne glitzern, wie Perlen, doch eben nur für diesen einen Moment. Alles ist an einen bestimmten Ausschnitt von Raum und Zeit gebunden, an einen Augenblick eben, an einen Ort, der für einen Augenblick besteht und dann nicht mehr. So wie die Blume auf dem Feld, von der Jesaja spricht und auch der Psalmist: am Morgen blüht sie, doch schon am Abend welkt sie und dient zu nichts mehr, außer ins Feuer geworfen zu werden. Alle Dinge sind wie ein Nichts.
Das Bewusstsein der eigenen Geringfügigkeit und Zerbrechlichkeit oder, wie die Philosophen sagen, der eigenen Kontingenz, das Bewusstsein der Vergänglichkeit des eigenen Seins, das man vielleicht mit 20 oder auch 30 Jahren noch nicht haben mag, doch wenn das Alter voranschreitet, manifestiert sich das immer mehr (auch wenn uns die Zerstreuung und Unüberlegtheit einen gewissen Schutz hiervor bietet, doch das ist nicht sehr menschlich, und in der Tat ist es nicht von Dauer), dieses Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit und Geringfügigkeit lässt immer noch Raum für die Gewalt oder fördert sie sogar in vielen Fällen. Denn wenn jemand nur kurz zu leben hat, ist er versucht, gewalttätig zu werden. Der Mensch jedenfalls, ob nun gewalttätig oder nicht, der die Kürze seines Lebens vor Augen hat, sowie seine Armseligkeit und Nichtigkeit, bewegt sich auf der Schwelle zum Zynismus. Er bewegt sich gleichsam am Ufer des Nichtigkeitsgefühls, und dies spiegelt sich zweifellos im Zynismus wider. Gerade in dem Maß, in dem der Mensch aktiv ist, wird er zynisch. Wenn sich jemand in diesem Gefühl der eigenen Nichtigkeit befindet, muss er zynisch werden, um aktiv sein zu können. Durch diesen Zynismus wird er ein wenig vor den natürlichen Affekten bewahrt, doch dann wird er traurig. Entweder man ist zynisch oder man ist traurig.
Wie ich gesagt habe, es mag sein, dass man mit 20 Jahren noch nicht an diese Dinge denkt. Und doch, auch bei einem 20-Jährigen können diese Dinge gewisse Haltungen bestimmen, schaut nur mich an. Eine gewisse Art von Verzweiflung ist geradezu typisch für die Zeit des Heranwachsens und der ersten Jugend. Bei diesem jungen Mädchen von 15 oder 16 Jahren dagegen, das sich seiner Geringfügigkeit und seiner Nichtigkeit völlig bewusst war, führte dieses Bewusstsein nicht etwa zu gewalttätigen Anmaßungen und nicht zu Zynismus oder Traurigkeit, sondern zur erwartungsvollen Öffnung des Herzens. Das, was klein ist, kann sich also nur vor dem Zynismus und der Traurigkeit retten, wenn es sich voller Erwartung öffnet. Doch Erwartung wovon?

II
Ich komme nun zum zweiten Punkt, den ich unterstreichen möchte. Es handelt sich um ein Wesen, das schon in seiner frühesten Jugend jene Weisheit besaß. Denn der erste Aspekt der Weisheit ist die Liebe zur Wahrheit seiner selbst, und diese Wahrheit besteht zuallererst darin, dass wir ein Nichts sind. Doch wir sind kein empfindungsloses Nichts: Wir sind ein Nichts, das berufen worden ist. Wir sind insofern «berufen», als es uns vorher nicht gab und wir nicht selbst entschieden haben, geboren zu werden. Wenn wir also berufen und geschaffen wurden, ohne es gewollt zu haben, und wenn wir uns ganz klein fühlen wie ein Atom im Kosmos, das so klein ist, dass man es nicht sieht, so wird auch klar, warum das Herz des Menschen sich von Natur aus voller Erwartung öffnet. Die Natur des menschlichen Herzens besteht gerade darin, ein Bedürfnis zu sein: Bedürfnis nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Glück. Das Herz ist Bedürfnis und somit eine sich öffnende Wirklichkeit. Es öffnet sich jedoch nicht auf einen Anspruch hin, denn was willst du, der du aus dem Nichts kommst, schon sagen? Dein einziger Reichtum besteht darin, dich voller Erwartung zu öffnen, wobei du weder etwas wissen, noch sagen, noch beanspruchen kannst. So wie du auch nichts gewusst hast, als du geschaffen wurdest.
Es geht also um eine Erwartung, die völlig frei von Anmaßung ist. Stellen wir uns jenes Mädchen von 15 oder 16 Jahren vor, das alle Gesetze seines Volkes beachtete und so zu bestimmten Tageszeiten mit jenen Worten betete, die es mit seinem ganzen Volk gemeinsam hatte. Das Volk wiederholte diese Gebete seit Jahrtausenden dem großen, geheimnisvollen, nicht darstellbaren und unaussprechlichen Gott Jahwe gegenüber.
Was ist das Gebet, wenn nicht Bitte? Auch dieses junge Mädchen empfand gerade seiner Aufrichtigkeit wegen sein Herz als eine einzige große Bitte, als ein einziges großes Bedürfnis. Die wahre Bitte ist jedoch gerade dadurch charakterisiert, dass sie sich keine Bilder schafft, in denen sie auf den Inhalt ihrer Person ihren eigenen Anspruch (italienisch pre-tesa) projiziert. Eine wahre Bitte ist voller Erwartung (italienisch attesa). Und dies galt besonders für Maria, die von ihrem Volk die große Verheißung eines Retters ererbt hatte, der alles wieder in Ordnung bringen würde. Auf welche Weise er alles wieder in Ordnung bringen würde, darüber gingen die Meinungen auseinander (einige vertraten eine Theologie der Befreiung, andere eine Theologie der Spiritualität und Innerlichkeit; auch damals schon gab es also diese Trennungen und Unterschiede; vorherrschend war damals jedoch die Theologie der Befreiung, die zur Zeit Jesu von den Schriftgelehrten und Pharisäern vertreten wurde, Sie erwarteten einen Messias, der die Gerechtigkeit wieder aufrichten würde, also sein eigenes Volk zum größten Volk der Welt machen und von allen anderen Völkern befreien würde, besonders von den Römern, die sozusagen die Vereinigten Staaten von damals waren). Maria aber war in ihrer Erwartung von der Tradition bestimmter Gruppen bestimmt, die sich die «Armen im Geiste» (Anauim) nannten. Sie erwartete diese Rettung, ohne sich in irgendeiner Weise das Recht anzumaßen, sich diese Rettung in der einen oder anderen Form vorzustellen. Sie wartete einfach mit geöffnetem Herzen und geöffneten Armen auf die Tat, die Gott vollbringen würde: Ihre Bitte war reine Erwartung.
Ich komme nun zu einem zweiten Schritt in der Betrachtung des Herzens Mariens und damit auch unseres eigenen Herzens (weil die Muttergottes wirklich ein Beispiel darstellt, durch das wir auch uns selbst besser verstehen). Alles geht aus Gott hervor, denn nichts schafft sich selbst, und auch wir schaffen uns nicht selbst. In jenem geheimnisvollen Augenblick, den das Evangelium als die Erscheinung eines Engels darstellt - eigentlich geht es mehr um die Botschaft eines Engels, als um die Erscheinung eines Engels, es geht um die Verkündigung eines Gottesboten -, in jenem Augenblick klang folgendes Wort im Herzen der Muttergottes wider: «Denn für Gott ist nichts unmöglich.»iv
«Denn für Gott ist nichts unmöglich»: das ist das Geheimnis, der Grund, der die Erwartung wahr macht. Hierin liegt die Vernünftigkeit der Erwartung und ihrer Positivität (die dem entgegensteht, was ich vorhin als Zynismus bezeichnet habe) und ebenso die Vernünftigkeit der tiefen und diskreten Freude in dieser Erwartung (die dem entgegensteht, was ich vorhin als Traurigkeit bezeichnet habe). «Denn für Gott ist nichts unmöglich»: Kann man demgegenüber etwas einwenden? Kann man diesem Satz gegenüber etwas einwenden? Nein! Und nun, wenn für Gott nichts unmöglich ist, versteht man auch, was die wahre Natur war, die aus dem geistlichen Leben dieser jungen Frau, dieses Mädchens unmittelbar hervorging: Es ist das, was ich nun als religiöses Empfinden bezeichnen möchte.
Als ich Schüler am Gymnasium war, zeigte uns der Physiklehrer damals im Laboratorium die sogenannte «Runkorff'sche Spule» (das ist mehr als fünfzig Jahre her, und vielleicht erinnere ich mich nicht an den richtigen Namen). Es war jenes Gerät, das auf der einen Seite einen Punkt aus Metall hatte, und auf der anderen Seite eine Platte. Man ließ zwischen dem Punkt und der Platte Elektrizität fließen, und so entstand aufgrund des Potentialgefälles ein kleiner Blitz (ich kann diese Dinge nicht erklären und wiederhole nur, was ich damals gelernt habe). Aufgrund eines Potentialgefälles sah man in dem dunklen Saal einen Blitz. In ähnlicher Weise ist das religiöse Empfinden wie ein Licht, das aufgrund eines Potentialgefälles zwischen zwei Polen aufblitzt: zwischen dem Pol des eigenen Nichts, des Bewusstseins des eigenen Nichts, und dem anderen Pol, der in dem Bewusstsein des Faktums besteht, dass Gott alles vermag. Meine Nichtigkeit und Gottes Allmacht.
Ich meine jenes Empfinden, das auch vom heiligen Franziskus überliefert ist. Eines Morgens war er nicht mehr im Kloster, und man fand ihn statt dessen im Unterholz von La Verna, das Gesicht am Boden und die Arme ausgestreckt, und immerfort sagte er: «Wer bin ich? Und wer bist du?»v
Das Empfinden dieses Unterschieds ist gerade das religiöse Empfinden. Die Muttergottes ist in erster Linie ein bewundernswertes - bewundernswertes! - Beispiel für das religiöse Empfinden, ohne theologische oder philosophische Schnörkeleien: auf der einen Seite die humilitas, und auf der anderen Seite der allmächtige Gott.
«Für Gott ist nichts unmöglich.» Dass für Gott «nichts» unmöglich ist, scheint leicht verständlich zu sein, denn in der Tat gibt es hierzu keinen Einwand. Doch in der Geistesgeschichte, auch in der theologischen und auch in der katholischen, wurde dies nie so leicht anerkannt. Und in der Tat ist es nicht leicht, dass der Mensch dies anerkennt. Denn der Mensch ist stets versucht, Gott vorschreiben zu wollen, was er machen kann und was nicht. Er ist versucht, das auf Gott zu projizieren, was er für richtig hält, und, was er für nicht richtig hält, will er abwenden. Doch dem ist nicht so: «Für Gott ist nichts unmöglich.»

III
Nun kommen wir zum dritten Schritt an diesem Abend, den uns die Gottesmutter machen lässt, so wie sie ihn selber in ihrem Herzen vollzogen hat. Dadurch ist sie wahrhaft Protagonistin geworden. Wenn für Gott nichts unmöglich ist, dann kann das, was er geschaffen hat, sei es auch noch so klein, dann kann dieses Nichts, das wir sind, jeder von uns, von Gott ergriffen und groß gemacht werden.
Der heilige Augustinus kam allen Erkenntnissen der Evolutionslehre - die die moderne Wissenschaft nicht zuletzt als Angriff auf die christliche Tradition nutzte - zuvor, indem er sagte, Gott sei so mächtig, dass er die Welt als einen winzig kleinen Samen, seminales rationalesvi, geschaffen haben könnte, einen kleinen Samen, aus dem alles entstanden ist. Schon 1500 Jahre vorher hat er Darwin und den Wissenschaftlern, die der katholischen Kirche und ganz allgemein der Religion kritisch gegenüber standen, damit gewissermaßen den Wind aus den Segeln genommen. Gott kann aus einem winzig kleinen geschaffenen Punkt die ganze Entstehung der Menschheit und des Kosmos heraus bewirkt haben.
Was uns interessiert ist aber, dass Er aus meinem kleinen, fast unsichtbaren Punkt als Mensch etwas Großes machen kann, wie aus dem Augenblick: Der Augenblick scheint etwas zu sein, aber er ist im Grunde wie ein Nichts, denn der Augenblick ist von so kurzer Dauer, dass er, kaum hat man von ihm gesprochen, auch schon vergangen ist. Dasselbe gilt für den Augenblick als räumliche Größe. Kaum hat man auf ihn verwiesen, hat er auch schon wieder ein neues Gesicht. Aus unserer kleinen Menschlichkeit und aus dem Augenblick kann Gott etwas Großes machen. Und dieses Eingreifen Gottes in das Nichts des Geschöpfes, ein Eingreifen, dem keine Grenzen gesetzt sind, nennen wir «Geheimnis». Gott ist also nichts unmöglich. Und wenn er nun in die Niedrigkeit seines Geschöpfes eingreift, kann er etwas Großes wirken. Was heißt das: «etwas Großes»? Er kann aus dem kleinen Geschöpf etwas machen, durch das er sich selbst mitteilt, das ihn, das Unendliche, «transportiert». Wir haben von Mariens Sohn auch gelernt, dass selbst ein Wort, wenn auch im Scherz ausgesprochen ewigen Wert hat und der Kleinste unter den Menschen (denken wir nur an die Kampagne gegen die Abtreibung, die die Kirche mit den wenigen, die sie überhaupt verstanden, vorangetrieben hat), auch der Kleinste unter den Menschen ist Beziehung zum Unendlichen, hat einen unauslöschlichen Wert. Deswegen ist die Seele des Menschen, das was im Menschen ist, nach den Worten des heiligen Thomas von Aquin «quodammodo omnia», «in gewissem Sinne alles»vii. Das heißt sie ist größer als die Welt, wie es später auch Pascal sagen wird. Wenn sich auch die ganze Welt zusammen tun würde, um den Geringsten aller Menschen zu unterdrücken, so wäre dieser doch größer als die Welt, die sich gegen ihn verbündet, denn er würde die Welt «umfassen», da er Beziehung zum Unendlichen ist.
Wir sprechen also vom «Geheimnis», wenn der unendliche, der unaussprechliche Gott, die Allmacht Gottes eingreift und sich in gewisser Weise offenbart, sich der Erfahrung kundtut, in den Erfahrungshorizont des Menschen eintritt, in gewissem Sinn ein Faktor in der Geschichte wird. Er tut dies auch, indem er sich der Niedrigkeit seiner Magd bedient, indem er sich der Geringheit seiner Kreatur bedient. In der Tat: wird das Wort «Geheimnis» im christlichen Sinn verstanden, überwindet, ja übersteigt es die Bedeutung, die das Geheimnis durch das menschliche Denkvermögen, durch die Philosophie erlangt. Das menschliche Denken und die Philosophie vermögen nur zu formulieren, dass das Geheimnis etwas ist, das man nicht kennen kann. Als Quelle des Seins ist es etwas, das unerkannt bleibt. Der Christ dagegen versteht Geheimnis als Quelle des Seins, als Gott, insofern er sich mitteilt und sich durch eine menschliche Wirklichkeit, durch eine geschichtliche Wirklichkeit erfahrbar macht. Vor diesem Hintergrund ist der Kosmos das erste Geheimnis, denn durch die Sterne am Firmament, durch die Blumen auf dem Feld wird diese unendliche Weisheit und Macht für uns sichtbar und erfahrbar: Die Welt lässt uns Gott erkennen. Aber «Geheimnis» im christlichen Sinne ist dramatischer, ist viel genauer: Es ist Gott, der einen menschlichen Faktor nutzt, indem er eins wird mit ihm, und damit zusammen mit ihm Protagonist innerhalb der Geschichte wird.
Das christliche Geheimnis ist Gott, der sich sichtbar, wahrnehmbar, erfahrbar gemacht hat, insofern er einen kleinen, armseligen Menschen mit sich vereint und eins wird mit ihm. Auch die Gottesmutter war so etwas Armseliges, und der Allmächtige hat sich mit ihr vereint auf die für uns unnachvollziehbarste Weise, auf eine Weise, die unser Vorstellungsvermögen vollkommen übersteigt. Ja, mehr als das hätte er nicht vollbringen können: Gott hat damit sogar die Grenze seiner Unendlichkeit überschritten, indem er Sohn dieses Mädchens geworden ist.
«Und das Wort ist Fleisch geworden», wie jeder von uns im Schoß seiner Mutter Fleisch angenommen hat. Wir müssen diese Dinge betrachten, damit wir beginnen sie wahrzunehmen und zu erfahren, das gilt umso mehr, wenn wir von ihnen sprechen wollen. Es sind Dinge, die man eine Weile betrachten muss, wie man die größten und schönsten Dinge länger betrachten muss, wenngleich wir auch nichts damit vergleichen können.
Die Religiosität der Gottesmutter ist von der Macht Gottes erreicht worden, denn «Gott ist nichts unmöglich», und so ist der Sohn des Höchsten ihr Sohn geworden.
Aus diesem Grund ist das Geheimnis im christlichen Sinn das Ereignis, das uns verstehen lässt, was Gott ist, Gott, insofern er sich mitteilt und erfahrbar macht, dadurch dass er auf gewisse Weise mit Etwas eins wird: angefangen bei der Stimme, die aus dem brennenden Dornbusch kam, bis zu der Stimme, die durch die Propheten sprach, bis zum Höhepunkt in der Geschichte, diesem wirklich unaussprechlichen Höhepunkt, von dem wir nicht sprechen können, außer dadurch, dass wir dessen Frucht anhängen: Gott ist Sohn dieser jungen Frau geworden.

IV
Wie hat sich all das auf das menschliche Leben der Gottesmutter ausgewirkt? Welche neue Beziehung ist zwischen jenem «Sein», das andernfalls unerkannt geblieben wäre, und der ganzen Menschheitsgeschichte entstanden? Was für eine Auswirkung hat es auf die Menschheitsgeschichte gehabt?
Die Art und Weise, wie die Gottesmutter aktiv darauf reagiert hat, nennt sich «Glaube». Auch hier muss man fragen: Wie drückt er sich aus, wie hat dieser Glaube Gestalt angenommen, diese Anerkennung einer Gegenwart, die größer ist als man selbst? Denn der Glaube ist diese Anerkennung einer Gegenwart unter uns, die Anerkennung von Jemandem, der größer ist als wir, und dieser Jemand, der größer ist als wir, ist «der Herr». Wie hat der Glaube Gestalt angenommen? Das Evangelium fasst es zusammen im fiat.
Fiat - das ist wie ein Hauch: so wie jenes 15-jährige Mädchen ein «Nichts» war, so ist auch diese große Geste, - ohne die sich die ganze Weltgeschichte verändert oder eben nicht verändert hätte -, diese Geste des fiat, das entscheidend war für die ganze Welt, wie ein Hauch: Es ist der Hauch der Freiheit. Freiheit meint die Fähigkeit, dem Sein anzuhängen, dem Geheimnis, dem Sein, das sich offenbart durch das Geheimnis, das Geheimnis, das in unser Leben tritt.
Fiat, ja - ja! Das, was mich am meisten beeindruckt, wenn ich im Evangelium die Stelle von der Verkündigung lese, ist der Moment, in dem der Engel seine Rede beendet hat und die Gottesmutter antwortet: «Ja, mir geschehe, wie du es gesagt hast.» Punkt. «Danach verließ sie der Engel.»viii Dann halte ich mich gern eine Weile bei diesem Satz auf - «Danach verließ sie der Engel» - und ich versuche mich in dieses junge Mädchen hineinzuversetzen, mir vorzustellen, wie sie sich danach - psychologisch gesehen - auf nichts anderes stützen konnte als die reine Erinnerung, wie da von außen keinerlei Impuls mehr kam, alles abhing von der Aufrichtigkeit ihrer Erinnerung. Sie hätte sagen können: «Das war eine Illusion, das Ganze habe ich mir nur eingebildet». «Danach verließ sie der Engel.» Stellt euch vor: So musste sie jetzt ihrem Verlobten gegenübertreten, ihren Eltern, ohne dass das, was in ihr noch lebendig nachklang, zu sehen, beweisbar, erfahrbar war.
In diesem Satz scheint mir das wahre Moment des Glaubens aufzuscheinen, der Gipfel des Glaubens: Er ist geschaffen, «konstruiert», wirklich geschaffen als Hingabe an die Vernunft, an die Wahrheit der Vernunft, als Haltung der Aufrichtigkeit gegenüber der eigenen Geschichte, der Aufrichtigkeit dem gegenüber, was eben vergangen war, und als Treue gegenüber der Größe Gottes. Sie hatte sich der Gottesmutter als Evidenz angedeutet. Freiheit, Wahrheitsliebe, Aufrichtigkeit, Treue Gott gegenüber - all das macht den Glauben aus. Die Heilige Schrift spricht von einer «vernünftigen Ehrerbietung».
Es ist also vor allem der Glaube. «Selig» begrüßt sie ihre Base Elisabeth, die sie sofort besuchen gegangen ist. Wenn die Größe Gottes die Niedrigkeit seiner Kreatur berührt, dann zeigt sich das nicht anders als darin, dass sich diese Größe, der Anfang seiner Größe ausweitet, und sie kann sich in nichts anderem zeigen als in der Liebe zum Nächsten, darin, dass man für den anderen das Gute will.
Maria hat sich sofort zu ihrer Base Elisabeth aufgemacht, um ihr zu helfen, und als Elisabeth sie sah, sagte sie: «Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ»ix; deine Größe besteht darin, dass du daran geglaubt hast, dass sich erfüllt, was Gott dir gesagt hat.
Die Größe des Menschen besteht demnach im Glauben, die Größe des Menschen besteht darin, die große Gegenwart in einer menschlichen Wirklichkeit anzuerkennen. Denn die große Gegenwart hat, so konfus wie sie durch menschliche Gedanken erfasst werden kann, kaum eine Wirkung. Der Glaube als Anerkennung der großen Gegenwart im Nichts, in der Geringheit, der Niedrigkeit eines Geschöpfes, in einem geschichtlichen Augenblick, einem geschichtlichen Faktum, im Lebens einer jungen Frau - «Selig, die du geglaubt hast, dass sich das Wort des Herrn erfüllen wird» -, es ist dieser Glaube, der zum Protagonisten in der Geschichte wird. Genau das ist auch das Thema des Magnificat: «Fecit mihi magna qui potens est» «Denn der Mächtige hat Großes an mir getan.»x Aus diesen Worten spricht keine Überheblichkeit: «Er hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut»; durch ihre Freiheit, durch ihr «Ja», das heißt durch ihren Glauben macht er sie zu einer unvergleichlichen Protagonistin innerhalb der Geschichte. Es gibt keinen größeren Namen als den ihren.
In der Schule haben wir früher noch so schöne Dinge gelernt wie Manzonis Gedicht Der Name Mariä; dort heißt es: «Den Berg hinan schritt eines stillen Tages / Die Braut des nazarä'schen Werkmanns: schweigend / Schritt sie hinan zur selig kleinen Hütte /
Derer, der im Alter noch Mutterfreuden zuteil geworden [Elisabeth, die noch in ihrem Alter ein Kind empfangen hatte, wie es der Engel vorhergesagt hatte]; // hoffnungsvoll gesegnet, grüßte / Die unerwartet Nahende: doch diese / Sprach Dank zu Gott, dass alles Volk der Erde / Sie glücklich priese [und wir sind heute Abend hier um diese Prophezeiung zu wiederholen, um die Wahrheit dieser Prophezeiung noch einmal zu bestätigen]. // O Spott der Welt und Hohn der eitlen Großen / Vor solcher fernen Ahnung! [mit einem verächtlichen Lächeln hätte wohl der moderne Mensch den Satz dieses sechszehnjährigen Mädchens quittiert: «Siehe von nun an preisen mich selig alle Geschlechter»]! Doch wie sollen / Wir, trägen Geists [wie starrköpfig wir doch sind]! untrügerisch erkennen, wie voraussehn / Was Menschen wollen? ? [wie wenig wir doch die Dinge vorauszusehen vermögen, wie viele Lügen damit verbunden sind]!»xi
«Er hat Großes an mir getan». Ja, die ganze Welt, als Geschichte, hat sich gespalten (so konkret, dass sich auch die Zeitrechnung daran orientiert) wegen des Kindes, das sie gebären sollte. Und das Kind, das sie gebären sollte, war der Erlöser ihres Volkes, der Erlöser des Volkes Gottes, das heißt der ganzen Menschheit. «Der Mächtige hat Großes an mir getan».
In der Erzählung der Hochzeit von Kana sehen wir, was sie, gerade als Frau und Mutter, in der Menschheitsgeschichte geworden ist: die Mittlerin zwischen der Armseligkeit des Menschen und der Macht des Geheimnisses, Jesus. Sie sagte zu den Dienern: «Was er euch sagt, das tut!»xii, und Christus gehorchte ihr, ja, sagen wir, «er gehorchte ihr», aber es war genau genommen kein Gehorsam, sondern jenes vollkommene Einssein, das entsteht aus der Liebe des Sohnes zur Mutter.
Eine größere Verehrung kann es in der Kirchengeschichte und in der Weltgeschichte nicht geben: Denn die Verehrung der Gottesmutter geht weiter, insofern sich die Mittlerschaft zwischen den Brautleuten und Jesus in Kana in die Geschichte hinein verlängert, und zwar aus einer tiefen, wunderbaren Syntonie heraus, einer Syntonie voller Zuneigung, Instrument der größten Zuneigung, dem Mensch gewordenen Gott, dem alles in die Hand gegeben ist. «Alles ist mir in die Hände gelegt», «Du hast mir die Macht über alle Menschen gegeben»xiii, sagt Jesus zum Vater vor seinem Tod.
All das wird bewirkt durch die Fürbitte dieser Frau, der Mittlerin aller Gnaden, das heißt wann auch immer Jesus dem Menschen in seiner Armseligkeit, dem armseligen Geschöpf sein Heil kundtut; deswegen ist sie auch Mittlerin des Heilsgeschehens des Geheimnisses. Mehr noch als Protagonistin der Geschichte! Die ganze Welt und alle menschlichen Mächte, auch die der kirchlichen Hierarchie, sind gezwungen - wie soll man es ausdrücken? - ihre eigene Geringheit anzuerkennen angesichts des Wunders, das sich in Maria gezeigt hat, denn durch all die Jahre der Kirchengeschichte hindurch hat sie zu ihrem Volk gesprochen, das Teil ihrer Frucht als Mutter ist, denn alle Menschen sind Glieder und dazu bestimmt Glieder ihres Sohnes zu sein. Sie ist wahrhaft Protagonistin der Geschichte: «Der Mächtige hat Großes an mir getan.»

V
Aber in diesem Moment offenbart das Geheimnis Gottes auch mehr das Geheimnis in seiner dunklen Seite, das Geheimnis des Lebens des Menschen, das Geheimnis der Menschheitsgeschichte. Das Geheimnis der Menschheitsgeschichte ist das eines Kampfes, eines Kampfes zwischen Gut und Böse, man könnte auch sagen ein Kampf zwischen dem Sohn Mariens und - sagen wir es mit den Worten des Evangeliums - denen, die die Lüge, die der Teufel hervorgebracht hat. Das achte Kapitel des Johannes-Evangeliums beschreibt die Geschichte des Menschen als Kampf zwischen Jesus und den Anhängern, also den Kindern des Teufels: «Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er ist der Vater der Lüge; wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst heraus kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge»xiv.
Also ist Maria Protagonistin in der Geschichte, insofern sie Mutter der Wahrheit ist, und der Mensch, jeder Mensch, kehrt, wenn er sie vor Augen hat, zurück zur Wahrheit ihrer Niedrigkeit und steht wieder vor der Größe des Geheimnisses Gottes, für den nichts unmöglich ist. Die Gottesmutter ist in der Menschheitsgeschichte die unmittelbarste Quelle, stärker und deutlicher als der religiöse Sinn. Denken wir zum Beispiel an Fatima, als Maria sich durch drei Kinder im Alter von 5 und 8 Jahren, die das Gesicht einer ganzen Nation verändert haben, in der Geschichte der Kirche und im Leben der Welt mitgeteilt hat.
Auf welche Seite stellen wir uns? Stehen wir auf der Seite der Kinder der Lüge oder wollen wir zum Sohn Mariens gehören? «Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt; es gibt nicht mehr [irgendeinen Unterschied] Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie [weder eine Rechte, noch eine Linke], nicht Mann und Frau, denn ihr seid alle «einer» [eis, ein Einziger, eine einzige Person] in Christus Jesus»xv. Und so ist sie wirklich meine Mutter, unsere Mutter, wie sie die Mutter Jesu ist.
Einmal, so erzählt es das 21. Kapitel des Johannesevangeliums, erschien Jesus am Ufer des Sees von Genezareth (eine der schönsten Seiten des Evangeliums). Alle Apostel waren dort zugegen in der Morgendämmerung, standen jenem Menschen gegenüber, standen vor jenem Mann, der für sie auf dem Feuer Fisch gebraten hatte (wie mag er dort hingekommen sein und hat gerade für sie den Fisch gebraten?). Und allen war klar: «Es ist der Herr!», und keiner wagte es zu sagen, sie wagten nicht, es auszusprechen. Nachdem sie dann eine Weile miteinander gesprochen hatten und möglicherweise schon wieder unterwegs waren, dreht sich Jesus um, wendet sich einem zu und sagt: «Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?» Und Petrus, in dessen Herzen nun Erinnerungen wach wurden, Erinnerungen an einen mehrfachen Verrat, an Widersprüche, an seine Geringfügigkeit - all das gehörte zu seinem armseligen Leben -, antwortet: «Herr, du weißt es, ich liebe dich». Und Jesus schaut ihn an und fragt ihn noch einmal: «Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?» Wie sehr wird Petrus gezittert haben, als er antwortete: «Herr, du weißt, dass ich dich liebe». «Weide meine Schafe!» Er hat ihn zum Protagonisten in der Geschichte gemacht, Protagonisten in der Geschichte als dem Haupt der Kirche. Ein drittes Mal, vielleicht nachdem er einen weiteren Schritt gemacht hatte und sie erneut stehen blieben, sagt er zu ihm: «Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?» Daraufhin war Petrus total verwirrt, hatte aber doch den Mut zu sagen: «Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich liebe». «Weide meine Lämmer! Alles, was mein ist, gebe ich in deine Hände. Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wird ein anderer dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.» Und dann sagt er ihm: «Folge mir nach»xvi.
«Folge mir nach». Die ganze Kirchengeschichte baut auf dieser Nachfolge Petri auf, auf dem Papsttum, dem Bischof von Rom, dem Glaubensgarant aller Bischöfe und aller Gläubigen (und das ist das Geheimnis, das ist die Allmacht Gottes innerhalb der Geschichte, innerhalb der Geschichte der einfachen Leute). Er hat ihn zu einem Protagonisten in der Geschichte gemacht, nur durch eine kurze Aufforderung: «Folge mir nach!»
Was war für die Gottesmutter jenes Fiat, «ja, mir geschehe nach deinem Wort»? «Ja, ich folge dir nach». Wie es der Papst in seiner wunderschönen Enzyklika über die Gottesmutterxvii gesagt hat: Was der Engel der Muttergottes gesagt hat, ist das erste «Folge mir nach» in der Geschichte des Christentums. Und sie hat geantwortet: «Ja, ich folge dir nach, mir geschehe nach deinem Wort».
So muss es für uns sein. Auf welcher Seite stehen wir in unserem kurzen Leben, das Teil hat an der großen Geschichte Gottes mit der Menschheit? Stehen wir auf der Seite des Fiat, des «Ja» angesichts aller Umstände des Lebens, die keine andere Bedeutung haben als diese: «Folge mir nach».
Wie spricht Gott, wie spricht Christus sein «Folge mir nach» zu mir? Durch die Umstände meines Lebens, die in sich total unbedeutend sind, durch eine Aneinanderreihung von Augenblicken, die einem Nichts gleichkommen, nichts sind. Aber dadurch dass ich diese Umstände annehme, sage ich: «Ja, ich folge dir nach», wir stellen uns auf die Seite jenes menschlichen Volkes, das, durch Christus erleuchtet und erlöst, durch das Beispiel und die Mittlerfunktion der Gottesmutter die ganze Welt, den Menschen sowie die ganze Schöpfung, die Welt des Menschen und den ganzen Kosmos, zu ihrer Bestimmung führt. Indem ich das Fiat am heutigen Tag lebe, es lebe durch die Umstände dieses Abends hindurch oder durch das, was morgen früh sein wird, indem ich sage: «Ja, ich folge dir nach», fiat, was wie ein Hauch ist, wie ein Nichts, gegenüber der Wucht, mit der die Dinge geschehen. So werden wir mit der Gottesmutter zu Miterlösern. Das heißt wir tragen dazu bei, dass die Welt des Menschen und des Kosmos zu ihrer Bestimmung gelangen, zum Glück, zur ewigen Fülle, zu dem, wofür eine Mutter ein Kind zur Welt bringt: für das Glück.