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Thema - Erfahrung
Vernünftig ist nicht nur das Messbare
Giancarlo Cesana

Auch im wissenschaftlichen Bereich kann die Erfahrung nicht auf das Maß dessen beschränkt werden, was man erlebt. Denn der Mensch sucht nach einem umfassenden Sinn der Wirklichkeit. Ein Beitrag aus dem Studium der Geschichte der Medizin.

Man hat mich gebeten, etwas über den Wert der Erfahrung im Bereich der Wissenschaft zu sagen, besonders in der Medizingeschichte. Das kann von Nutzen sein, gerade in Bezug auf die Sorgen, die der Papst in Regensburg zum Ausdruck brachte, dann beim Treffen der italienischen Kirche in Verona, und schließlich bei der Eröffnung des akademischen Jahres an der Lateranuniversität. Der Papst hob hervor, wie die Vernunft im Abendland aufgrund des Einflusses der experimentellen Wissenschaften eine unangemessene Verkürzung hinnehmen musste. In kulturellen und intellektuellen Kreisen wird mehrheitlich nur das für vernünftig gehalten, was in irgendeiner Weise messbar ist. Alles Übrige, alles, was nicht objektiv messbar ist, gehört demnach in den Bereich des subjektiven Glaubens oder äußerstenfalls, zu «anderen», nicht näher bezeichneten Arten von Vernunft, wie es Popper, der populärste Wissenschaftsphilosoph des vorigen Jahrhunderts, formulierte.

Der Fall Galilei
Vor allem im Gefolge des Falls Galilei entwickelte sich nämlich nicht zuletzt aufgrund seiner kirchlichen Verurteilung eine scheinbar unüberwindliche Trennung im Rahmen der Erkenntnis: Auf der einen Seite die für alle gültige wissenschaftliche Erkenntnis, auf der anderen Seite die Erkenntnis des Glaubens, gültig nur für die Gläubigen. Bekanntlich wurde von Galilei verlangt, der Theorie abzuschwören, der zufolge die Erde um die Sonne kreist, da dies der Schrift und der Tradition widerspreche. Galilei als guter Katholik (er hatte auch eine Tochter, die Ordensfrau war), schwor ab und murmelte dabei das berühmt gewordene «und sie [die Erde] bewegt sich doch». Seine Ansicht war zu seiner Zeit in keinster Weise bewiesen, und der Standpunkt der Kirche hatte seine Berechtigung. Da jedoch der Fortschritt der astronomischen Forschung die Richtigkeit der galileischen Ansicht bewies, wurde der Standpunkt der Kirche fortan als aufklärungsfeindlich angesehen. Man meinte, ihr Vorschlag sei subjektiv, lasse sich nicht angemessen durch die Erfahrung belegen. Die Erfahrung wurde also beschränkt auf das Maß dessen, was man erlebt, ohne die Möglichkeit, darüber hinaus zu gehen auf der Suche nach einem umfassenden Sinn der Wirklichkeit. Da zudem das Erlebte relativ und vorläufig ist, gelten die Schlussfolgerungen allgemeiner Natur – beispielsweise die Gesetze der Physik – auch nur solange, bis jemand das Gegenteil beweist. Entsprechend wird alles – das Universum, die Welt, ich – relativ und vorläufig. Und wer dann von einer endgültigen Hoffnung und Wahrheit spricht, tut dies allenfalls als Empfehlung, niemals zwingend, also für alle verbindlich.

Die Erfahrung der Krankheit
Der Gegenstand der medizinischen Forschung ist die Krankheit. Es ist kein «kalter» Gegenstand wie der der Physik oder Mathematik. Er ist dramatisch, ja, gefährlich nicht nur für die Kranken, sondern auch für die, die sie behandeln. Sich den Kranken zu nähern, bedeutete jahrhundertelang sehr oft, sich der Ansteckungsgefahr auszusetzen. Howard Ricketts starb im Jahre 1910 in Mexiko City, als er die «Rickettsien», die Erreger des Fleckfiebers entdeckte. In der Antike wurden deshalb die an Infektionskrankheiten Leidenden vor allem gemieden und entfernt. Damit die Kranken angenommen und behandelt werden konnten, bedurfte es des Christentums, bedurfte es der christlichen Mönche, die Klöster schufen mit Orten, in denen Arme und Kranke aufgenommen und «wie Christus selbst» behandelt wurden. Dann gründete Guido von Montpellier endgültig den Orden der Hospitalbrüder des Heiligen Geistes, der 1198 von Papst Innozenz III. anerkannt und von der Kirche unterstützt und verbreitet wurde. Die bürgerlichen Krankenhäuser entstanden wesentlich später. Ohne Ordensleute hätte es allemal keine Krankenpflege gegeben, die angesichts der Machtlosigkeit der Ärzte jahrhundertelang die einzige Form der Hilfe für die Kranken darstellte. Ohne die Verkündigung der Auferstehung Christi war die Krankheit der Anfang vom Ende, ein Fluch, dem es zu entfliehen galt. Man versuchte dabei, den bösen Gott zu beschwören, der sie angeblich hervorgerufen hatte. Mit der Auferstehung Christi ist der Tod nicht mehr das endgültige Wort über das Leben, dessen Hoffnung nicht zunichte wird, wenn man sich in Gefahr begibt. Man kann gut verstehen, dass eine Idee oder ein Gefühl nicht hinreichen, um sich in diese Gefahr zu begeben, mit der Krankheit zu leben und die Kranken zu behandeln und sich mit dem Tod zu messen. Dafür ist hingegen die Erfahrung einer neuen Menschlichkeit und einer Erkenntnis unabdingbar, bei der die Vernunft nicht verneint wird. Es braucht eine Erfahrung die die Vernunft öffnet, ermächtigt und in die Lage versetzt, nicht bei der schmerzhaften und «unheilbaren» Grenze des menschlichen Daseins stehen zu bleiben.

Das Studium der Medizin
Ansonsten hätten neben den Krankenhäusern auch die Universitäten nicht entstehen können. Diese modernen Orte der Wissenschaft entstanden durch den Drang, die Wahrheit zu suchen, die in allem steckt – uni-versitas, hin auf die Einheit des Wissens. Die Abtei von Montecassino stand am Ursprung der Schule von Salerno. Sie wiederum war die erste Medizinschule und Vorbild der Universitäten von Bologna, Paris, Cambridge und Oxford, die ihrerseits alle aus kirchlicher Initiative gegründet wurden (und unter ebensolcher Kontrolle standen). Selbst die Grundlagen der experimentellen Methode – der Methode Galileis und der modernen Wissenschaft, die den Glauben schließlich verneinte – wurden durch die Arbeiten von Albertus Magnus, dem Lehrer Thomas von Aquins, Roger Bacon und vor allem Robert Grosseteste gelegt. Grosseteste war der erste Kanzler von Oxford und später Bischof von Lincoln, dem damals größten Bistums von England. An dieser Bewegung hatte die Medizin großen Anteil, sowohl als Faktor der Wissensentwicklung als auch als Wissenschaft unter dem Einfluss der anderen, genauen Wissenschaften. Dem Weg von Physik und Chemie folgend erkannte man, dass der Anatomie eine Physiologie entspricht; dass der Wirksamkeit der Kräuter Stoffe entsprechen, die man aus ihnen extrahieren kann, sowie weitere ähnliche oder andere Stoffe, die man ganz neu herstellen oder verändern kann. Vom Studium der Krankheit als Veränderung des gesamten Körpers ging man über zum Studium der Veränderung der Organe, dann der Gewebe, dann der Zellen (einschließlich Bakterien), schließlich der Moleküle.

Biologischer Reduktionismus
Inzwischen sind wir also beim Studium des immer Kleineren angelangt. Die Krankheit wird gleichsam vom Kranken abstrahiert und in jener mikroskopischen Unordnung gesucht, die ihre Ursache zu sein scheint. Die Chirurgie «schneidet» und zerstört längst nicht mehr nur, sie verpflanzt, ersetzt, regeneriert, in Erwartung neuer Entdeckungen, die sie immer weniger notwendig machen sollen. Nichtsdestotrotz verlangt der Kranke – alle Kranken – gegen diese biologische und technologische Verkürzung weiterhin als «Einheit» behandelt zu werden: eben nicht nur als physische Einheit, sondern als Einheit an Bedürfnissen. Auch die widersinnigsten Trends in den medizinischen Anwendungen, wie die so genannte verbrauchende Embryonenforschung und selbst die Euthanasie, sind motiviert durch den Versuch, höhere Vollkommenheit und höheres Glück zu erreichen, bis man am Ende Menschen umbringt, weil Vollkommenheit und Glück nicht möglich sind. In der Gesundheitsplanung erklären alle, und zwar ausnahmslos, dass der Kranke im Mittelpunkt stehen müsse, die Person, die viel mehr ist als die biologische Unordnung.
Vom medizinischen Fortschritt erwartet man neben der Befreiung von Krankheiten auch bessere Kinder, wirksamere physische und psychische Leistungen, Verlängerung des Lebens und – warum nicht? – ein glücklicheres Leben, wie erst unlängst das Dokument Beyond Therapy des Bioethikrates des US-Präsidenten darlegte.
Am Ende gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder spielt der Mensch Gott, ohne es zu sein, und richtet folglich schweres Unheil an; oder er muss auch in der Wissenschaft Gott suchen, um zu verstehen, wofür er geschaffen ist. Das ist die Empfehlung des Papstes. Und das ist auch die Lehre der Geschichte der Medizin, die sich immer um Menschen gekümmert hat, die nicht über die Runden kommen und die deshalb darum bitten, oder vielmehr danach schreien, dass ihnen geholfen wird, über die Runden zu kommen.

Das Verfahren von Grosseteste
Wiederholt sich die Verbindung von Dingen (x und y), dann wendet sich die ratio mentis, stimuliert von der aestimatio memoriae dem Versuch zu, das Phänomen der Verbindung der Dinge zu reproduzieren, indem es die begleitenden nebensächlichen oder mitverursachenden Faktoren ausschaltet.
Dadurch kann das Verfahren zeigen, dass jedes Mal, wenn x auftritt auch y gegeben ist. Die Schlussfolgerung wird im Vorgriff auf Galileo und Newton als principium universale experimentale und universale experimentale complexum bezeichnet.