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Briefe
Briefe April 2007
Zusammengestellt von Paola Bergamini

Rückkehr nach Hause
Ihr Lieben,
ich breche zu meinem Volk nach Somalia auf, das nichts anderes kennen gelernt hat, als sich gegenseitig umzubringen. Seit ich dank meines Freundes und Kollegen, Dr. Patrono, die Wahrheit kennen gelernt habe, habe ich stets um die Möglichkeit gebetet, dorthin zurückzukehren, um meine Erfahrung in der Bewegung mitzuteilen. Ohne die Begegnung mit Euch trüge ich nur den Wunsch nach Rache und Hass in mir. Doch jetzt habe ich den Wunsch zu zeigen, dass die Wirklichkeit positiv ist und sich zutiefst von dem Weg unterscheidet, der dort seit Jahren beschritten wird. Ich werde als Tierarzt ein Entwicklungshilfeprojekt unterstützen. Die Viehzucht ist das wichtigste Standbein der Entwicklungshilfe. Aber das ist nicht meine einzige Botschaft. Ich hoffe, meinem Volk die Wahrheit bekunden zu können, wenngleich ich viel Angst habe. Denn allein das Nennen seines Namens kann zur ernsthaften Bedrohung werden. In mir trage ich die Worte Don Giussanis, die ich täglich bete: "In der Einfachheit meines Herzens habe ich Dir voll Freude alles hingegeben." Ich trage Euch mit mir. Danke.
Dr. Abdi Farah Abdulkadir

Die Frage lebendig erhalten
Lieber Julián,
bei den Sommerexerzitien der Erwachsenen kam ich wegen der Situation bei der Arbeit und in der Familie müde und erschöpft an. Am Morgen nach deiner Lektion dachte ich während der Stille erstmals, dass ich nie wirklich die Dinge beurteilt hatte, wie du es von uns verlangst. So blickte ich bislang auch nie wirklich auf mein Verlangen. Es ging mir bisher stets darum, die jeweilige Situationen zu lösen, und nicht um das, «was ich wirklich will und was meinem Herzen jetzt, in diesem Gemütszustand, in dieser inneren Unruhe entspricht». Ich verstand, dass es eine Entscheidung auf Messers Schneide ist: entweder machst du die Arbeit zum Wohle von allem oder du machst sie für nichts. Es ist eine Aussage, die mich wirklich betrifft, denn ich kann mir nicht erlauben, die Umstände, Gefühle und so weiter mir auszusuchen. Ich fragte also: «Was brauche ich jetzt wirklich?», wenn mich das Verlangen erdrückt. Und jedes Mal gewann ich einen unglaublich offenen Blick auf die Wirklichkeit. Ich sah die Dinge einfacher und angemessener. Vor allem aber entdeckte ich in allem, was ich dachte und tat, eine neue Entsprechung mit der Gemeinschaft mit Christus. Ich machte geradezu physisch die Erfahrung des Satzes von Don Giussani, den du wiederholt hast «alles gehört mir, mit dieser Einfachheit und Ruhe, die mir die Wahrnehmung des Fluchtpunktes gibt, der in allem ist und der alles und jedes Ding mit der letzten Bestimmung und dem letzten Geheimnis verbindet, das sich in all seiner Macht, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit enthüllt: der auferstandene Christus.» Gerade das Verlangen, das ich empfand, und all das, was daraus folgte, wurden zu einem fruchtbaren Boden, um wieder mein Ich und meine wirklichen Bedürfnisse im Grunde des Herzens wahrzunehmen. Ich musste nichts mehr verstecken und konnte die Dinge mit Sympathie betrachten, auch das, was mir als Hindernis erschien, um mich selbst normal zum Ausdruck zu bringen. Die Arbeit wurde von diesem Tag an zwar nicht weniger. Was mich aber wirklich beeindruckte, war die veränderte Haltung gegenüber den Dingen. Ich lasse mich nicht mehr von meinen Gemütszuständen bestimmen. Das gilt sowohl für die alltäglichen Mühen als auch für die Wunder, die mir geschehen, vor allem in meinem Leben zu Hause. Ich staune, wie ich das Verlangen auch für die Arbeit nützlich machen kann. Es trifft wirklich zu, dass ich in der Wirklichkeit eine Antwort finde, wenn ich aufrichtig auch zu dem ganz verborgenen menschlichen Verlangen stehe, aus dem immer neu die Bitte entspringt: «Ich brauche Dich Jesus, sei Du bei mir». Was du bei den Exerzitien der Studenten gesagt hast, hat mich sehr beeindruckt und begleitet: «Es geht darum, sich beeindrucken zu lassen; dem, was geschieht, Raum zu geben. Denn nur das gibt uns Atem. Alle unsere Versuche reichen nicht. Denn sie geben uns nicht einen einzigen Augenblick dieser Neuheit, die mit einem Faktum in unser Leben eintritt.» Mit einem Funken dieses Bewusstseins zu leben, ermöglicht mir, am Morgen voller Fragen und Erwartungen gegenüber allen aufzustehen, mich gegenüber allen Umständen und Begegnungen zu öffnen, und selbst außergewöhnlichen Situationen auf einfache und fröhliche Art und Weise zu begegnen. Am ersten Abend unseres Einkehrtages zum Advent hast du den Satz von Johannes Paul II. wieder aufgegriffen: «Es wird keine Treue geben, wenn es im Herzen des Menschen keine Frage gibt, auf die nur Gott die Antwort ist». Ich hatte sofort das Bedürfnis, Jesus wirklich zu bitten, mir zu helfen, diese Frage wach zu halten. So kann ich das Bedürfnis meines Ichs wahrnehmen und wertschätzen, und Jesus ist nicht nur ein Wort oder eine Vorstellung, sondern wirklich der Herr meines Lebens.
Carla, Mailand

Das Wagnis der Erziehung
Lieber Don Carrón,
vor ein paar Monaten haben wir beschlossen, das Buch Das Wagnis der Erziehung hier in Manchester vorzustellen. Hier gibt es keine große Gemeinschaft, unter die man sich mischen kann. Es fehlt nicht an Mühen und Herausforderungen, an schönen und bösen Überraschungen. Das man trotz aller falschen Schritte stets fähig ist, wieder anzufangen, hat bereits etwas Wunderbares an sich. Die Vorbereitungen zur Veranstaltung erlaubten uns auch, die Freundschaft mit zwei Studentinnen, Laura und Karolina, von der katholischen Studentengemeinde zu vertiefen. Mit ihnen trafen wir uns jede Woche, um Das Wagnis der Erziehung zu lesen. Der Dialog forderte uns heraus und half uns gleichzeitig, die Neuheit der Botschaft von Don Giussani zu verstehen. Zugleich bot sich uns so die Gelegenheit, die Beziehung zu Pater Ian, dem Studentenseelsorger, zu vertiefen. Er gibt uns seit Jahren einen Raum für das Seminar der Gemeinschaft. Wir hatten ihn aber bisher nie eingeladen. Die Art, wie Pater Ian diesen Vorschlag annahm, und die Leidenschaft, mit der er eine Dreiviertelstunde über das Buch sprach und seine Erfahrung mit den Aussagen verglich, war die endgültige Bestätigung, dass sich die Geschichte, in die wir uns stürzten, wirklich an das Herz des Menschen richtet. Der Vorschlag eröffnete unglaubliche Möglichkeiten. Vor allem aber stürzte er uns ganz neu in die Beziehung mit Personen, die wir jeden Tag treffen. Wir baten auch den Universitätsdozenten Peter um einen Beitrag. Er ist sehr gebildet und auf eine reizende Art englisch. Er folgt dem neokatechumenalen Weg und ist Vater von vier Kindern. Es war überraschend, wie er auf die Herausforderung, Das Wagnis der Erziehung zu lesen und zu beurteilen, antwortete. Uns beeindruckte schon der Einführungssatz: «Man darf dieses Buch nicht nur lesen, ansonsten bleibt es abstrakt. Man muss es leben, sonst kann man es nicht verstehen.» Der dritte Redner war Dominic, ein Freund von uns aus York. Die konkreten Beispiele, die er vorbrachte, waren bewegend. Schließlich überraschten uns auch die vielen Teilnehmer. Unter ihnen war auch der Vikar des Bischofs von Salford. Fast ohne uns dessen bewusst zu werden, nahm die Gemeinschaft der Katholiken der Stadt auf diese Weise CL offiziell auf.
Cristina, Cristian, Alessandro, Luca, Miriam, Anna, Manchester

Danke an eine Erfahrung in Japan
Ich bin Peruaner und habe die Bewegung Comunione e Liberazione in Hiroshima kennen gelernt. Ich lebte dort 14 Jahre illegal, um für meine Familie in der Heimat zu arbeiten. Die Behörden brachten mich dann nach Osaka und inhaftierten mich im Zentrum für Migration. Ich begegnete dort Leuten verschiedenster Herkunft, aus Lateinamerika, Asien und dem Mittleren Osten. Trotz der Unterschiede in Sprache, Kultur und Religion knüpften wir bald Freundschaften. Die Mehrheit sprach Japanisch, wenn auch nur zu etwa 70 Prozent. Das reicht aber, um miteinander zu sprechen. Der größte Teil von uns befindet sich in dem Zentrum, weil er sich "illegal" im Lande aufhält und auf die Abschiebung wartet. Jeder hat eine andere Geschichte. Wir kamen aber alle mit einem Ziel in das Land, für unsere Familien zu arbeiten oder die Ausbildung unserer Kinder in den jeweiligen Herkunftsländern zu ermöglichen. Während meines Aufenthaltes in Japan habe ich gelernt, Christus nach der Unterweisung der Katholischen Kirche zu lieben. Sie lehrt mich, das Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das betrifft vor allem eine Aussage: Aus jedem Leiden geht immer Licht hervor, da Gott immer über die Dinge in seiner unermesslichen Weisheit verfügt. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass die meisten Christen waren: Katholiken, Protestanten oder Zeugen Jehovas. Jeder hatte eine Bibel in seiner Sprache. Und aus diesem Grund entschlossen wir uns, mit zwei amerikanischen protestantischen Freunden, die Bibel zu lesen und gemeinsam zu beten. Nach einer Woche, war die kleine Gruppe erheblich gewachsen. Mir wurde klar, dass es viele nach Gott dürstete. Alle waren am Studium von Gottes Wort und dem Gebet interessiert. Es waren Menschen aus weit entfernten Ländern wie Nepal, den Philippinen, Sri Lanka, Indonesien, Korea, auch aus südamerikanischen Ländern wie Brasilien, Peru, Chile und Bolivien. Deshalb zögerte ich nicht, einen großartigen Freund um Hilfe zu bitten: Pater Arnaldo Negri, einen Italiener. Durch diesen katholischen Ordensmann hatte ich die Bewegung von CL in Hiroshima kennen gelernt und durch diese Bewegung, das Geheimnis tiefer erfahren. Er gab mir regelmäßig die Zeitschrift Spuren, mal in spanisch, mal in portugiesisch, wie auch reichlich Literatur zum wöchentlichen Evangelium in Englisch, Spanisch und Portugiesisch. Es hilft uns und stärkt uns bei unseren Treffen in der Liebe zum auferstandenen Jesus Christus und in der Möglichkeit, die Freundschaft zu Personen zu vertiefen, denen man zuvor nie begegnet war; Menschen von verschiedenen Kontinenten und doch geeint im Glauben an den einen Gott. So jubelt man angesichts eines unbeschreiblichen Gefühls, wenn man hört, wie die Bibel in den jeweiligen Sprachen gelesen wird, und wie das Gelesene in japanisch kommentiert wird, oder wenn man die Gebete an unseren Herrn in den verschiedenen Sprachen hört. So heißt es auch im Evangelium im Brief an die Epheser 4,3-4: «Bedacht auf die Wahrung der Einheit des Geistes durch das Band des Friedens. Ein Leib und ein Geist». Bedacht die Einheit des Geistes durch das Mittel des Friedens zu bewahren. Ein einziger Leib, ein einziger Geist. Wahrhaftig, ich bin mir bewusst geworden, dass Jesus mitten unter uns weilt.
Roberto, Osaka (Japan)

Eine Hilfe, das Leben zu verstehen
Hallo Mama, ich wollte dir erzählen, was mich beim Treffen mit Carrón beeindruckt hat. Carrón hat oft über die Erfahrung gesprochen und welche Bedeutung sie für unser Leben hat. Für mich hat die Erfahrung immer einen Augenblick dargestellt, der mir zeigte, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Aber damit war die Erfahrung für mich schon beendet. Mein Leben bestand oft aus diesen Erfahrungen, aber zwischendrin gab es eine Leere. Carrón sagt hingegen, die Begegnung mit Christus, dieser Moment der Erfahrung, stellt erst den Anfang da. Diese Erfahrung soll uns einen Anlass geben, in die Wirklichkeit hineinzugehen mit einer neuen Sympathie für alle Dinge. Ich muss also nicht mit der Haltung in den Alltag gehen und warten, bis ich erneut die Gnade habe eine solche Erfahrung zu machen. Ich kann mich wirklich in den Tag stürzen und alle Probleme mit Sympathie betrachten, mit dem Bewusstsein, dass es mehr dahinter gibt. Die Wirklichkeit ist für uns gemacht und die Begegnung mit Christus ist ein Anlass, alle diese Dinge mit anderen Augen anzuschauen. Das Leben, der Alltag wird um einiges spannender. Es besteht immer die Spannung, die Probleme und Aufgaben mit dieser neuen Haltung zu betrachten. Meine Aufgaben, Herausforderungen und Probleme sind aber nicht mehr eine Sache, die mich müde werden lassen, sondern sie fordern mich ständig heraus, mit dieser Haltung zu leben und das gibt dem Leben einen Geschmack, den es vorher nicht hatte.
Wichtig ist es natürlich auch, dieser Begegnung Raum zu geben. Das heißt man braucht einen Ort, der uns immer wieder daran erinnert mit der beschriebenen Haltung in das Leben hineinzugehen. Ich bin ein chaotischer Mensch und deshalb werden die schönen Tage, die ich in Mailand erlebt habe, sicher nicht genug sein, um mein ganzes Leben mit einer so positiven Haltung zu leben. Ich glaube, dass hier zum Beispiel das Seminar eine sehr wichtige Rolle spielt. Auf diesen Punkt ist Carrón auch mehrmals eingegangen. Das Seminar fordert uns immer zu dieser aufmerksamen Haltung heraus. Außerdem geht es auf diese Weise auch konkret auf unser Leben ein. «Unser Leben hilft uns, das Seminar besser zu verstehen, und das Seminar hilft uns, unser Leben zu beleuchten». Ich habe den großen Wunsch, dass das Seminar eine ebenso große Hilfe wird wie das Treffen mit Carrón.
Philipp

Die Freundschaft mit Piero
Lieber Don Carrón,
nach langer Krankheit ist in Florenz unser Freund Piero verstorben. Er war 51 Jahre alt. In den letzten zwei Jahren hatte er sich uns auf unglaubliche Weise wieder angenähert. Inmitten seines Schmerzes gab er sich mit einer großen Einfachheit dem gütigen Antlitz des Geheimnisses hin, das er in seinem Leben anerkannte. So wurde er für die, die ihn kannten, zu einem Bezugspunkt. Er hat uns einige schöne Gedichte hinterlassen, die er in den letzten Monaten geschrieben hat, und das Erbe des Satzes von Don Gius: «Das Bewusstsein Seiner Gegenwart ist die Initiative, zu der wir jeden Morgen berufen sind.» Dieser Satz lag ihm Tag für Tag so sehr am Herzen, dass er ausgewählt wurde als Begleittext zu dem Foto, das auf seiner Beerdigung verteilt wurde.
Am 25. Januar fiel Piero ins Koma und starb anderthalb Stunden später, genau zur selben Zeit, als ich auf der Versammlung des Seminars der Gemeinschaft über das Kapitel «Der Ansatz der Frage nach dem Menschsein» sprach: Als Freundin von ihm zu Beginn der Geschichte von CL in Florenz und als Zeugin seiner erneuten Begegnung erzählte ich im Licht des Textes von meiner Beziehung zu ihm. Dieses zeitliche Zusammentreffen hat uns aufgewühlt und aus unserer Zerstreuung gerissen, so dass wir klarer verstehen konnten, welch ein Geschenk seine Person für unsere Gemeinschaft war. Hier ist der Text meines Beitrags.
Durch die Arbeit an diesem Kapitel habe ich besser verstanden, was sich in den letzten Jahren in meinem Leben ereignet hat; ich spreche von meiner Freundschaft mit Piero, die mich buchstäblich immer mehr mitgenommen hat. Piero kann heute Abend nicht hier sein, obwohl er so gern dabei gewesen wäre. In der letzten Zeit hat er nie auch nur ein Treffen versäumt und jedes Mal einen Beitrag geschickt, obwohl er immer schlechter laufen konnte und seine Bewegungen immer langsamer wurden. Seit Anfang Januar hat sich seine Lage massiv verschlechtert: die Krankheit fesselt ihn ans Bett, er ist unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen; ihm bleibt nur das Lächeln und die Hände, die er ergreift. Er ist bei den letzten Tagen seines Lebens angekommen.
Er hat selbst so oft von seiner unglaublichen neuen Begegnung erzählt: er war einer jener Jugendlichen am Ursprung der Geschichte der Bewegung von Florenz gewesen, war dann im Streit gegangen und hatte 30 Jahre lang gegen CL gekämpft und seine Türen vor der Kirche verschlossen. Er führte ein Leben, so beschreibt er es selbst, ohne sich viele Fragen zu stellen. Dann antwortete er im Juni 2004, wie auch andere Schüler der Bewegung von damals, die später die Bewegung verlassen hatten, auf die Einladung zur Silberhochzeit einiger unserer Paare, darunter auch wir. Es hätte einfach eine Gelegenheit von vielen sein können, aber diese Gelegenheit war von einem Anderen gewollt, damit wir ihm wieder begegneten und unser Leben nicht mehr auf getrennten Wegen weiterlaufe. Er wurde nämlich am Tag danach aufgrund eines Unwohlseins ins Krankenhaus eingeliefert; dort wurde ein Gehirntumor diagnostiziert, und er wurde unverzüglich operiert. Aber angesichts der Tatsache, dass er vorher auf jener Feier war, konnte diese neue Situation uns nicht mehr gleichgültig sein.
Eine ganze Freundschaft hat von dort aus neu begonnen, ausgehend vom Gehorsam gegenüber dieser Lage, ausgehend davon, dies interessanter zu finden als die eigene Meinung, die eigenen Vorstellungen. Schon von Anfang an fragte ich mich: «Ist es wirklich möglich, dass die Barmherzigkeit Gottes, um Piero zur Vollendung seiner Bestimmung hin zu begleiten, zu seinem Ja, durch meine Ärmlichkeit hindurch wirkt?» Diese Frage hat mich keinen Tag mehr verlassen, wurde immer drängender und unterstrich jene Empfindung der Machtlosigkeit, jene Einsamkeit, von der auf S. 71 des Textes die Rede ist, durch die wir entdecken, dass eines unserer grundlegenden Probleme bei uns selbst keine Lösung finden kann. Denn in dieser Freundschaft machen wir die Erfahrung dieser vollen Menschlichkeit, durch die der Schrei des anderen dein eigener Schrei wird, und die Erwartung des anderen deine eigene Erwartung. Diese Ebene der Frage, weit offen in ihrer Dramatik und so offensichtlich bei Piero, hat meine persönliche Frage verwandelt in: «Ist es möglich, dass die Barmherzigkeit Gottes, um meine Bestimmung zur Vollendung zu führen, um zu meinem Ja zu kommen, durch das kranke und leidende Nichtssein Pieros wirkt?» In der Erfahrung unserer Freundschaft waren beide Aspekte offensichtlich, und das lässt alle Umstände des Lebens und alle Beziehungen interessant werden, weil ich entdecke, dass diese Menschlichkeit, die sich selbst nicht schont, uns entspricht.
In diesem Sinne war Piero für mich eine Autorität in diesem Stück Umgebung, wo sich mein Leben abspielte, und ich habe entdeckt, dass ich ihm folgte. Auf S. 69 des Textes heißt es: «Christus war der einzige, der ihre ganze menschliche Erfahrung verstand. Durch das, was er sagte, fühlten sie sich in ihren Bedürfnissen ernst genommen, und wo diese unbewusst und verworren waren, brachte er sie ans Licht.» Diese Worte sprechen von der Erfahrung mit Piero in diesen zwei Jahren. Als er nämlich verstanden hat - indem er Ihm wieder begegnete - dass nur Einer die Antwort auf sein Ich sein konnte, auf sein Leiden, auf sein Stück Kreuz (wie er es nennt), da ist er Ihm mit vollem Einsatz gefolgt. In der Form, wie dieser sich ihm kundtat: das heißt durch die harte Krankheit und durch das Antlitz der Freunde, die er als heilig ansieht, weil sie Gegenwart Christi für ihn sind. Dieser Form ist er in allen Aspekten gefolgt, wie er mit seiner körperlichen Behinderung nur konnte, aber ohne sich zu schonen. Er staunte zum Beispiel über die Beiträge, die er auf unseren Versammlungen hörte, während ich womöglich neben ihm saß und mich langweilte; aber so wie er sie im Nachhinein beschrieb, wurden sie auch für mich schöner.
Vor zwei Monaten hat er entschieden, formell um Aufnahme in die Fraternität zu bitten, mit großer Ernsthaftigkeit; und dann sagte er, lächelnd und selbstironisch im Hinblick auf seine frühere Beziehung zu CL: «Ich bin von CL!» Aber seine Entscheidung war wie eine offene Frage an die Gruppe, an der teilzunehmen er erbat. Was mich als letztes beeindruckt hat, war vorige Woche bei der wöchentlichen Seminargruppe: Piero konnte nicht dabei sein; ich bin zur Sekretärin gegangen, um mich anzumelden und habe ihr gesagt: «Melde Piero trotzdem auch an.» Sie hat geantwortet: «Piero hat sich schon selbst angemeldet, schon vor mehr als einem Monat, er war einer der ersten!» Da habe ich gedacht: «Wer weiß, dass er nicht Herr seiner Zeit ist, der verschwendet die Zeit nicht, die nicht die seine ist, sondern nutzt sie im Gegenteil gemäß ihrer wahren Bedeutung.» Und ich habe für mich um dasselbe Bewusstsein gebeten. Mir ist klar, dass diese Beziehung, die in besonderer Weise einigen von uns gegeben ist, und die Art und Weise, wie sie stattfand, für uns alle ist, für die gesamte Welt.
Cristina, Florenz