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Karol Wojtyla (1920-2005) - Todestag
Das Ich und seine Bestimmung
Eine echte Öffnung auf die Wirklichkeit

Johannes Paul II.

Vor zwei Jahren verstarb Johannes Paul II. Wir gedenken seiner, indem die Reden von zwei mittwöchlichen Generalaudienzen von 1983 widergegeben werden. Sie befassen sich mit der rechten Herangehensweise an die Grundfrage des Menschen. Dabei betonte der Papst, dass es notwendig ist, die ursprüngliche Erfahrung der Einsamkeit mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Diesem Vergleich folgt schließlich die Entdeckung der Gemeinschaft. Seine Worte sind von großer Aktualität.

Generalaudienz, Mittwoch, den 12. Oktober 1983

Das Nachdenken über die eigene Existenz
1. "Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe" (Joh 4,15) Die Bitte der Samariterin an Jesus drückt in ihrer tieferen Bedeutung die unerfüllbare Bedürftigkeit und die unerschöpfliche Sehnsucht des Menschen aus. Jeder Mensch, der diesen Namen verdient, entdeckt unvermeidlich seine Unfähigkeit, auf die Sehnsucht nach Wahrheit, Güte und Schönheit zu antworten, die aus seinem tiefsten Wesen entspringt. Umso weiter er auf dem Lebensweg voranschreitet, umso deutlicher erkennt er wie die Samariterin seine Unfähigkeit, den Durst nach Lebensfülle zu stillen, den er in sich trägt. Ab heute bis Weihnachten werden die Gedankengänge dieses wöchentlichen Treffens auf die Sehnsucht des Menschen nach der Erlösung gerichtet sein. Der Mensch braucht einen Anderen. Er lebt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, in der Erwartung eines Anderen, der ihn freimacht von dieser angeborenen Unfähigkeit, seine eigenen Ansprüche und Hoffnungen zu befriedigen.
Aber wie kann er ihm begegnen? Unabdingbar für diese erlösende Begegnung ist, dass der Mensch sich des existentiellen Durstes, an dem er leidet, bewusst wird, wie auch seiner radikalen Unfähigkeit, dessen Brennen zu löschen. Der Weg zu diesem Bewusstsein ist für den Menschen von heute, genau wie für den Menschen zu allen Zeiten, das Nachdenken über die eigene Erfahrung. Schon die Weisheit der Antike hatte dies erahnt. Wer erinnert sich nicht der gut sichtbar angebrachten Inschrift am Apollontempel zu Delphi? Sie lautete "Erkenne dich selbst!" Dieser Auftag, den auch noch ältere Kulturen in verschiedenen Formen ansprachen, hat die Geschichte überdauert und wendet sich mit derselben Eindringlichkeit an den zeitgenössischen Menschen.
Das Evangelium des Johannes dokumentiert in einigen Episoden sehr gut, wie Jesus selbst die Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Geheimnis zu verstehen, indem er über seine Erfahrung nachdenkt, zu nutzen gewusst hat. Es genügt hier, an die obengenannte Begegnung mit der Samariterin zu denken oder an jene mit Nikodemus, mit der Ehebrecherin oder mit dem Blindgeborenen.

Ein Gefüge von Bedürfnissen und Sehnsüchten
2. Wie aber sollen wir diese tiefe menschliche Erfahrung definieren, die dem Menschen den Weg zur echten Selbsterkenntnis weist? Sie ist der dauernde Vergleich des menschlichen Ichs mit seiner Bestimmung. Die wahre menschliche Erfahrung geschieht nur in jener echten Öffnung auf die Wirklichkeit hin, die es der menschlichen Person gestattet, sich in der Wahrheit ihres Wesen zu erkennen - der menschlichen Person, die hier verstanden wird als einzigartig und mit Bewusstsein ausgestattet, reich an Möglichkeiten und Bedürfnissen, fähig zum Streben und zur Sehnsucht.
Welche Eigenschaften zeichnen eine solche Erfahrung aus, dank derer der Mensch sich der Aufgabe des "Erkenne dich selbst!" mit Entschiedenheit und Ernst stellen kann, ohne sich bei dieser Suche zu verirren? Es sind zwei grundlegende Bedingungen, die er beachten muss.
Zu allererst muss er dem Gefüge von Bedürfnissen und Sehnsüchten, die sein Ich charakterisieren, leidenschaftlich zugetan sein. Zweitens muss er sich öffnen für eine objektive Begegnung mit der ganzen Wirklichkeit. Paulus erinnert die Christen unaufhörlich an die grundlegenden Eigenschaften jeder menschlichen Erfahrung, wenn er betont: "alles gehört euch; ihr aber gehört Christus und Christus gehört Gott" (1 Kor 3,23), oder wenn er die Christen von Thessaloniki einlädt: "Prüft alles und behaltet das Gute!" (1 Th 5,21). Bei diesem ständigen Vergleich mit der Wirklichkeit auf der Suche nach dem, was der eigenen Bestimmung entspricht oder widerspricht, macht der Mensch die Grunderfahrung der Wahrheit, die von den Scholastikern und von Thomas von Aquin in bewundernswerter Weise als "adeaquatio intellectus ad rem" ("Angleichung des Verstandes an die Wirklichkeit", Thomas von Aquin, De Veritate, q. 1 a. 1 corpus) definiert worden ist.

Die Erwartung eines Anderen
3. Wenn die Erfahrung, um wahrhaftig zu sein, umfassend sein muss und den Menschen zur Ganzheit hin öffnen muss, dann ist es leicht verständlich, wo der Mensch Gefahr läuft zu irren: er muss sich vor jeder Eingeschränktheit hüten. Er muss der Versuchung widerstehen, die Erfahrung zum Beispiel auf rein soziologische Fragestellungen oder auf ihre nur psychologischen Bestandteile zu beschränken. Er muss sich auch in Acht nehmen, festgefahrene Denkweisen und "Vorurteile", die seine Arbeits- und Lebensumwelt ihm nahelegt, mit der Erfahrung zu verwechseln. Vorurteile, die heutzutage noch gefährlicher sind, weil sie vom Mythos der Wissenschaft oder der angeblichen Vollständigkeit einer Ideologie bemäntelt werden.
Wie schwer fällt es doch dem heutigen Menschen, am sicheren Strand der echten Selbsterfahrung anzukommen, wo er den wahren Sinn seiner Bestimmung andeutungsweise erkennen kann! Er schwebt dauernd in der Gefahr, sich in einen falschen Blickwinkel abdrängen zu lassen. Unter diesem Blickwinkel vergisst er sein Wesen: nämlich, dass er als Abbild Gottes geschaffen ist, und verfällt so der Einsamkeit der größten Verzweiflung oder, was noch schlimmer ist, einem unnahbaren Zynismus.
Angesichts dieser Gedanken hat der Satz der Samariterin eine zutiefst befreiende Wirkung: "Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe". Er ist wahrhaft für jeden Menschen gültig, ja in ihm steckt eine tiefe Erkenntnis menschlichen Natur.
Der Mensch, der sich ernsthaft selbst in Frage stellt? und mit klarem Blick seine Erfahrung beobachtet und dabei den Kriterien, die wir dargelegt haben, folgt, entdeckt mehr oder weniger bewusst, dass er ein Wesen ist, das voller Bedürfnisse ist, für die es keine Erfüllung finden kann, und das zugleich durchdrungen ist von einer Sehnsucht, von einem Durst nach Selbstverwirklichung, den es allein nicht befriedigen kann.
So entdeckt der Mensch, dass seine eigene Natur ihn zu einer Haltung der Erwartung eines Anderen bringt, der ausfüllen kann, was ihm fehlt. Jeder Moment seines Daseins ist von Unruhe durchdrungen, wie Augustinus am Beginn seiner Confessiones (I, 1) nahelegt: "Du hast uns für dich erschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir." Wenn der Mensch seine Menschlichkeit ernst nimmt, nimmt er wahr, dass seine Lage von struktureller Ohnmacht gezeichnet ist.
Christus ist Der, der ihn rettet. Nur er allein kann ihn aus dieser festgefahrenen Lage herausholen und den existentiellen Durst stillen, der ihn quält.

Generalaudienz, 9. November 1983

Radikales Unvermögen und unüberwindbare Einsamkeit
1. Der Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach, den wir gerade gehört haben, liebe Schwestern und Brüder, lädt uns zu einer Reflexion über das Geheimnis des Menschen ein: Er ist "aus Erde geschaffen", zu der er "wieder zurückkehren soll", und zugleich auch "geschaffen nach dem Abbild Gottes" (Sir 17,1.3); er ist ein vergängliches Geschöpf, dessen "Tage gezählt und Zeit bestimmt ist" (Sir 17,2) und dem trotzdem Augen gegeben sind, die "die machtvolle Herrlichkeit Gottes sehen" können (Sir 17,13).
In diesem Geheimnis, das den Menschen von Anfang an ausmacht, liegt die existentielle Spannung begründet, die den Kern jeder seiner Erfahrungen ausmacht. Die Sehnsucht nach dem Ewigen, das in ihm gegenwärtig ist durch den göttlichen Widerschein, der sein Antlitz erleuchtet, steht dem strukturellen Unvermögen gegenüber, dieses Ewige von sich aus zu erreichen; jede menschliche Anstrengung ist dem ausgeliefert. Maurice Blondel, einer der großen christlichen Denker, der Anfang des Jahrhunderts gelebt und die meiste Zeit seines Lebens damit zugebracht hat, über dieses geheimnisvolle Streben des Menschen nach dem Unendlichen nachzudenken, schrieb einmal: "Wir sind gezwungen, das werden zu wollen, was wir von uns aus weder erreichen noch besitzen können … Nur weil ich unendlich sein will, nehme ich mein Unvermögen wahr: Ich habe mich nicht geschaffen; das, was ich will, kann ich nicht; ich bin gezwungen über mich hinauszugehen" (M. Blondel, L’action, Paris 1982, S.354).
Wenn der Mensch dieses radikale Unvermögen, das ihn ausmacht, in seiner konkreten Existenz wahrnimmt, entdeckt er, dass er zutiefst allein ist und diese Einsamkeit nicht überwunden werden kann. Diese Einsamkeit macht ihn von Beginn an aus und rührt von dem klaren - und manchmal auch dramatischen - Bewusstsein her, dass niemand, weder er selbst, noch irgendein anderer Mensch, endgültig auf sein Bedürfnis antworten und seine Sehnsucht stillen kann.

Von der Einsamkeit zur Gemeinschaft
2. Paradoxerweise erzeugt diese ursprüngliche Einsamkeit - von der der Mensch weiß, dass er, um sie überwinden zu können, auf nichts rein Menschliches zählen kann - trotz allem die tiefste und authentischste Gemeinschaft unter Menschen. Gerade diese leidvolle Erfahrung der Einsamkeit ist es, die am Beginn eines wahren Gemeinschaftssinnes steht, der bereit ist, auf die Gewalt der Ideologie und den Missbrauch von Macht zu verzichten. Es ist paradox: Wenn es da nicht dieses tiefe "Mit-leid" mit dem Anderen gäbe, das einer nur dann entdeckt, wenn er in sich selbst diese totale Einsamkeit wahrnimmt - wer würde den Menschen, der sich seines Zustands bewusst ist, dazu anhalten, sich auf das Abenteuer der Gemeinschaft einzulassen? Sollte es einen wundern, wenn die Gesellschaft bei solchen Voraussetzungen nicht ein Ort der Herrschaft des Stärkeren, des homo homini lupus wird? Gerade die moderne Sicht des Staates hat sich damit nicht nur theoretisch beschäftigt, sondern es auch auf tragische Weise umgesetzt.
Nur wenn der Mensch einen wahren Blick auf sich selbst hat, kann er sich als solidarisch mit allen anderen Menschen begreifen, weil er sie als Subjekte wahrnimmt, die dasselbe Unvermögen und dieselbe Sehnsucht nach einer vollkommenen Verwirklichung kennzeichnet.
Die Erfahrung der Einsamkeit wird so zu einem entscheidenden Schritt auf dem Weg dahin, die Antwort auf diese wesentliche Frage zu entdecken. Durch sie sieht sich der Mensch mit allen anderen Menschen zutiefst verbunden, da sie dieselbe Bestimmung haben und von derselben Hoffnung erfüllt sind. So entsteht aus dieser abgrundtiefen Einsamkeit der ernsthafte Einsatz des Menschen hin auf die eigene Menschlichkeit, ein Einsatz, der zur Leidenschaft für den Anderen und Solidarität mit jedem Einzelnen und allen wird. Dann ist eine authentische Gesellschaft menschenmöglich, weil sie nicht auf egoistischer Berechnung beruht, sondern im Anhängen an das, was sich als das Wahrste in ihm selber und in allen anderen zeigt.

Geordnetes Zusammenleben
3. Die Solidarität mit dem Anderen wird genauer noch Begegnung mit dem Anderen in den unterschiedlichen Ausdrucksformen, in denen sich menschliche Beziehungen existentiell verwirklichen. Von diesen scheint die affektive Beziehung zwischen Mann und Frau die wichtigste zu sein, denn sie beinhaltet ein Werturteil, in dem der Mensch in sehr origineller Weise seine ganze vitale Dynamik einsetzt: seinen Verstand und Willen sowie seine Sensibilität. Er macht hier die Erfahrung einer großen Intimität (zu der wesentlich aber auch der Schmerz gehört), die der Schöpfer im Moment seines Werdens in seine Natur hineingelegt hat: "Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: "Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch" (Gen 2,23).
Aufgrund dieser ersten Erfahrung von Gemeinschaft setzt sich der Mensch mit den Anderen für den Aufbau einer "Gesellschaft" im Sinne eines geordneten Zusammenlebens ein. Der erworbene Sinn für Solidarität mit der ganzen Menschheit konkretisiert sich vor allem in dem Beziehungsgeflecht, in dem der Mensch zuerst lebt und sich Ausdruck verleihen soll. Der Beitrag, den er zu diesen Beziehungen leistet, hat seinerseits großen Einfluss auf die Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit. Er wächst als Person, indem er sich an verschiedenen Orten dazu erziehen lässt, den Wert wahrzunehmen, den es bedeutet, zu einem Volk zu gehören, als unverzichtbare Bedingung, um die Dimensionen der Welt zu leben.

Der Schrei nach einem Anderen
4. Die Binome Mann-Frau, Person-Gesellschaft und das noch radikalere Binom von Leib und Seele sind die Dimensionen, die das Menschsein ausmachen. Auf diese drei Dimensionen kann die ganze "vorchristliche" Anthropologie reduziert werden, in dem Sinne, dass sie all das darstellen, was der Mensch außerhalb von Christus über sich sagen kann. Was sie charakterisiert, ist ihre Polarität. Sie implizieren von daher eine unvermeidliche dialektische Spannung. Leib-Seele, Mann-Frau, Individuum-Gesellschaft sind drei Paare, die uns deutlich werden lassen, was die Bestimmung und das Leben eines unerfüllten Wesens ausmacht. Sie sind ein weiterer Schrei, der sich aus der innersten Erfahrung des Menschen erhebt. Sie sind Bitte um Einheit und inneren Frieden, sie sind Sehnsucht nach einer Antwort auf das implizite Drama in ihrer wechselseitigen Beziehung. Man kann sagen, dass in ihnen ein Anderer angerufen wird, der den Durst nach Einheit, Wahrheit und Schönheit, die aus ihrem Gegensatz entspringen, stillen möge.
Auch die intimste Begegnung mit dem Anderen - so lässt sich schlussfolgern - hat zur Folge, dass sich der Mensch nach einem Eingriff von oben sehnt, der den Menschen aus einem dramatischen, und ansonsten unvermeidlichen, Scheitern erlöst.