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Julián Carrón

Aufzeichnungen eines Treffens von Julián Carrón auf der Jahresversammlung der «Compagnia delle Opere / Gemeinschaft der Werke» in Mailand am 18. November 2007

Ich danke Euch, dass Ihr mich eingeladen habt, an Eurer diesjährigen Jahresversammlung teilzunehmen. Ich bin glücklich, bei Euch zu sein, denn ein Christ wie ich kann nicht anders als mit Sympathie auf Eure Bemühungen schauen. Ihr habt das Risiko nicht gescheut, Eure Freiheit in diese unsere besondere gesellschaftliche Situation einzubringen. So versucht Ihr, eine Gemeinschaft von Personen aufzubauen, die zur Mehrung von Wohlstand und Arbeit beitragen will und mit karitativen und kulturellen Werken auf die jeweiligen Nöte eingeht.

1.Geschichtlicher Zusammenhang
Wir leben in einem sozialen Gefüge, das allmählich immer grauer erscheint und an die «große Gleichmacherei» erinnert, die Pasolini vorausgesagt hat. Die Jugendlichen sind davon am meisten betroffen. Sie sind das Spiegelbild der Schwierigkeiten, die wir leben und der dringende Anruf an unsere Verantwortung als Erwachsene.
«1968 verkörperten die Jugendlichen die Hoffnung, die Zukunft, die Befreiung, die Utopie. Die Jugendlichen von heute jedoch erscheinen mir oft wie die Avantgarde der Angst, der Furcht vor der Zukunft. Sie verkörpern meiner Meinung nach eine Art ‚Peter Pan Syndrom‘», so der französische Philosoph Luc Ferry, und er fährt fort: «Sie sind Kinder und Jugendliche, die sich weigern, erwachsen zu werden (...). Ihre Furcht und Angst äußert sich in einer Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und spiegelt sich in einer Opferhaltung wieder (...). Alle erwarten etwas vom Staat und der Politik(...). Und allesamt haben sie Angst, ohne die Krücken des Staates zu leben, um in das Leben als Erwachsene einzutreten.»
Auch Umberto Galimberti greift in diesen Wochen dieselbe Thematik auf, wenn er in seinem Buch schreibt: «Den Jugendlichen geht es schlecht, auch wenn sie das selbst oft nicht wissen. Nicht etwa wegen der gewöhnlichen Existenzkrisen, die das Jugendalter mit sich bringt, sondern weil ein unbequemer Gast, der Nihilismus, sie umgarnt, ihre Gefühle durchdringt, ihre Gedanken verwirrt, Perspektiven und Horizonte auslöscht, ihre Seele zerbricht und die Leidenschaften verkümmern lässt, so daß sie blutleer werden.»
Der Schriftsteller Pietro Citati sagte vor einigen Jahren gleichfalls: «Die Jugendlichen ziehen es vor, passiv zu bleiben (...) sie leben in einer geheimnisvollen Stumpfheit.»
Ein Beispiel sagt mehr als tausend Worte. Neulich erzählte mir jemand, dass man während eines Mittagessens in der Familie über die Situation am Arbeitsmarkt und die Schwierigkeit sprach, eine Beschäftigung zu finden. Auf den väterlichen Kommentar, wie schwierig und erniedrigend es für einen Heranwachsenden sei, von der Arbeitslosenunterstützung abhängig zu sein, antwortete der Sohn, der im ersten Jahr die Universität besucht und ausgestreckt auf dem Sofa lag: «Ich würde die Arbeitslosenunterstützung gerne in Anspruch nehmen.»

2. Die Gemeinschaft der Werke: Eine Tatsache, die sich durchsetzt
Genau in diesem anthropologischen und kulturellen Umfeld, in dem die menschliche Tatkraft geschwächt ist, sollte man auf die «Gemeinschaft der Werke / Compagnia delle Opere» (CdO) schauen. In diesem Zusammenhang fällt zunächst einmal auf, dass es überhaupt eine Wirklichkeit wie diese gibt: Personen, die sich eben nicht von dieser geheimnisvollen Abstumpfung ergreifen lassen und die Energie und den Mut finden, sich zusammen zu schließen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie verwirklichen damit ein wirtschaftliches und soziales Unterfangen, das auf die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse jener, mit denen sie zusammenleben, antwortet. Zwei Dinge sind charakteristisch für das Phänomen der CdO, gemäß einem Motto, das Eure Geschichte geprägt hat: Eine Ausrichtung auf ein Ideal und eine wirksame Freundschaft. Darin wart ihr Pioniere. Ihr drückt seit mehr als 20 Jahren ein Anliegen aus, das nun alle als notwendig für einen sozialen Aufschwung ansehen. Aldo Schiavone bemerkte kürzlich, in Europa und den Vereinigten Staaten wachse ein neuer und unvorhergesehener Wunsch nach sozialen Bindungen, das Bedürfnis nach einem menschlichen Universum. Er sprach von der Suche «nach einer neuen sozialen Unterstützung, die das Wachstum jedes Einzelnen fördert und in der auch die Technik in Beziehung zum Leben stehen soll.» Diese solle unmittelbar zur Freiheit führen, «ohne den Umweg über den Markt doch gleichzeitig ohne diesen zu schwächen.» Und Schiavone betont: «Die Kirche hat dies sofort und angemessen aufgegriffen: und sie begibt sich mit Bereitwilligkeit in diesen neuen, für sie familiären Horizont.»
Die Existenz der CdO ist ein Beweis, dass wir eben nicht dazu verdammt sind, ohnmächtig zu zuschauen, wie unsere Wünsche, Hoffnungen und Versuche, etwas aufzubauen, sich unter unseren Händen verflüchtigen. Nein, es gibt wirklich die Möglichkeit neu anzufangen, auch in der Situation einer Zerstörung des Menschlichen, in der wir uns befinden. Es gibt etwas, das sogar den ungünstigsten Umständen standhält.
Aber um die Bedeutung Eures Ansinnens wirklich zu verstehen, muss man seinen Ursprung betrachten.

3. Auf den Ursprung schauen
Wie ist Eure unternehmerische und gemeinschaftliche Initiative entstanden? Don Giussani hat den Ursprung in seinem Beitrag für die Landesversammlung der CdO 1989 klar definiert: «Die \\'Gemeinschaft der Werke\\' (...) entsteht nicht als soziales Projekt oder Vorstellung einer Struktur, sondern als das Wunder einer Veränderung. Die ersten, die sich gleichsam als Zuschauer über diese Veränderung wundern, sind wir selber.»
In der Tat ist für viele von Euch, ganz sicher aber für jene, die es ins Leben gerufen haben, «Unternehmen und Vereinigung» (CdO) die Frucht der Veränderung gewesen, die das christliche Ereignis in Euch bewirkt hat. Wenn das Christentum als eine Erfahrung gelebt wird, kann es seine schöpferische Kraft erweisen, indem es Euer «Ich» immer wieder erweckt. Die menschliche Anziehungskraft war so stark, dass sie Eure Person zu einer Kreativität und einem Reichtum von Initiativen angeregt hat, die ein Zeugnis Christi und des geschichtlichen Wertes der Kirche darstellen, wie Don Giussani bei anderer Gelegenheit betonte.
Mit anderen Worten, das christliche Ereignis erneuert in uns den religiösen Sinn. Darunter verstehen wir dieses Bündel von Bedürfnissen nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit, nach dem Guten und dem Glück, das die ursprüngliche Struktur jedes Menschen ausmacht und den Ursprung all\\' Eurer Bemühungen bildet.
Dank Eures Wiederaufblühens und der Bemühungen, auf die Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens zu antworten, habt Ihr Euch auch mit Nichtchristen zusammengeschlossen, die dasselbe Bedürfnis hatten. Indem sie Euch trafen, haben sie gemerkt, dass ihre Bedürfnisse auch die Eurigen sind. «Der religiöse Sinn als Ausgangspunkt treibt die Menschen unweigerlich dazu, sich zusammenzuschließen«. Denn dieses existentielle Bedürfnis «leitet die persönliche und soziale Ausdruckskraft des Menschen.»
Auf diesen Ursprung zu schauen, ist grundlegend, denn ohne dieses Bewusstsein bleibt man wie ein Kind. Dieser Ursprung bringt schlagend zum Ausdruck, dass sich keiner von uns
aus sich selbst heraus schafft und jeder immer neu geschaffen werden muss, um «Ich» sagen zu können. Denn daher kommt der Mut, ein Werk auf die Beine zu stellen oder am Ball zu bleiben und alle Hindernisse zu überwinden, die sich einem entgegenstellen. So wie wir uns nicht selbst das Leben geben, so geben wir uns nicht einmal jenes Leben, aus dem die Fähigkeit, die Energie und der Wunsch entstehen, etwas aufzubauen. Es reicht, sich umzuschauen, um zu sehen, wie viele ermüdet sind. Im Angesicht der gegenwärtigen Situation geben sie jeden Versuch auf oder verspüren nicht einmal den Wunsch, etwas Neues zu beginnen.
Deswegen ist es entscheidend, auf den Anfang zu schauen. Denn im Ursprung beziehungsweise in der Tatsache, die ihn begründet, wird uns die Methode mitgeteilt, wie wir voranschreiten können, ohne uns zu verausgaben.

4. Die Methode: die Treue zum Ursprung
Die größte Gefahr für jemanden, der sich für ein Werk engagiert, besteht darin, die Methode zu wechseln und sich damit vom Ursprung zu entfernen. Um dies zu vermeiden, muss man sich wirklich unserer ursprünglichen Abhängigkeit bewusst sein, sonst sehen wir dies automatisch als gegeben an. Wir verneinen es nicht, aber es bleibt wie ein berechneter Hintergrund, so dass wir uns früher oder später als die einzigen Urheber unseres Glücks ansehen. Damit unterliegen wir derselben Illusion der Aufklärung, die behauptete, mit der Verkürzung des Christentums auf eine Ethik, die gleichen Früchte zu erhalten, die das Christentum hervorgebracht hatte. Und sie tat dies, indem sie Ideen und Werke hervorbrachte, um von Christus abzusehen, obgleich er doch ihre eigentliche Quelle darstellte. Beim Subjekt äußert sich dies im totalen Desinteresse, das zur Abstumpfung führt, aus dem nichts wachsen kann, weil ein Ort fehlt, wo das Ich wieder aufblühen kann. Das Christentum wiederum verliert auf diese Weise seine ursprüngliche Natur als geschichtliches Ereignis, das fähig wäre, das Ich wieder zu erwecken. Es reduziert sich stattdessen auf eine ethische Voraussetzung oder einen abstrakten kulturellen Diskurs, der nichts mit den Interessen des Lebens zu tun hat.
Dass dies auch uns betrifft, sehen wir an dem, was Don Giussani vor genau 30 Jahren einer Gruppe von Lehrern sagte und diese Aussage hat bis heute nichts an seiner Aktualität verloren: «Für viele von uns ist die Tatsache, dass Jesus Christus unsere Rettung ist, und dass die Befreiung des Lebens und des Menschen hier und im Jenseits an die ständige Begegnung mit Ihm gebunden ist, nur noch ein „spiritueller“ Aufruf. Das Konkrete stellt dann etwas anderes dar: [...] die Organisation, die Einheiten bei der Arbeit und damit die Versammlungen; sie sind aber nicht mehr Ausdruck eines lebendigen Verlangens, sondern eher einer Abtötung des Lebens, eine Last oder eine Gebühr für eine Mitgliedschaft, in der man sich auf unerklärliche Wiese wiederfindet.»
Was eine ständige Begegnung mit Ihm sein sollte, eben wegen der Notwendigkeit, ständig neu hervorgebracht zu werden, verkümmert zu einem spirituellen Aufruf. Aber ein spiritueller, abstrakter Aufruf ist nicht in der Lage, das Subjekt anzusprechen. Im Gegenteil, gerade weil es die spirituelle Voraussetzung gibt, kann es viel leichter zu einem Missverständnis führen. Man glaubt dann nämlich, diese Voraussetzung in Verbindung mit den guten Absichten, etwas in einer bestimmten Art und Weise zu machen, könne das Christentum als gelebte Erfahrung ersetzen. Aber eine gute Theorie über die Liebe, zusammen mit der guten Absicht, sich zu verlieben, hat als Ergebnis noch nie das Verlieben mit sich gebracht. Den Unterschied sieht man in der Tat: Wie bewegt sich jemand, der verliebt ist? Wenn Ihr wissen wollt, welche Art und Weise der Erfahrung Ihr macht, beobachtet, wie Ihr euch innerhalb der Wirklichkeit bewegt, beobachtet Euch im Handeln. All unser guter Wille befreit uns nicht davon, in vielen Situationen der allgemeinen Mentalität zu unterliegen. Vor allem in der Art und Weise, wie wir uns wirklich bewegen, indem wir gemäß eines Kalküls und Vorteils wie alle urteilen und handeln.
Kardinal Camillo Ruini betont: «Es ist ein offensichtliches Bedürfniss, den Glauben so vorzuschlagen, dass sich zeigt, wie der Glaube selbst kein simpler und am Ende illusorischer Wunsch des menschlichen Herzens und auch keine rein innere Erfahrung ist, sondern dass er vielmehr in jedem seiner existentiellen Kerne eine eindeutige und sichere Beziehung mit der Wirklichkeit darstellt.»
Die Konsequenzen dieser Veränderung der Methode oder einer Haltung, die diese als selbstverständlich voraussetzt, haben wir alle vor Augen: Man legt keinen wirklichen Wert mehr auf das Ich, obgleich alle zugeben, dass eine Erziehung nötig ist. Dies ist nichts anderes als das offensichtliche Zeichen der geschichtlichen Niederlage des aufklärerischen Anspruchs, die Früchte des Christentums ohne Christus herzustellen. Was kann uns helfen, die Methode nicht zu wechseln? Auch hier zeigt die Kirche ihren Wirklichkeitssinn, indem sie uns hilft, uns aller wichtiger Faktoren bewusst zu werden.
1.) An erster Stelle steht die Anerkennung, dass der Mensch immer bedürftig ist, denn seine Offenheit und sein ursprünglicher Antrieb nehmen unweigerlich ab. Das Bewusstsein seiner Bedürftigkeit spornt den Menschen an, nach diesem Ursprung zu suchen, ohne den er nicht aufrecht stehen kann. Indem die Kirche uns daran erinnert, dass wir Sünder und damit bedürftig sind, bietet sie uns einen entscheidenderen Beitrag an, als wir denken. Die Tatsache, dass ihr wichtigster Gestus zu Beginn der Messe das Sündenbekenntnis ist, stellt keinen frommen Anfang dar. Vielmehr ist es eine realistische Hilfe. Denn indem wir uns als Sünder bekennen, versetzt die Kirche uns in die angemessene Haltung, jegliche Sache zu beginnen.
2) An zweiter Stelle ist die Natur des Christentums ein Ereignis des Staunens aufgrund der Schönheit Christi. Wenn wir Ihm anhängen, erleichtert diese Schönheit unsere Zugehörigkeit und verhindert, dass sich unser Ich verliert. Dies würde auch kein Erfolg verhindern können, gerade weil er nicht in der Lage ist, das Bedürfnis nach Ganzheit, das unser Ich kennzeichnet, zu befriedigen. Nur wenn wir ständig von der Anziehungskraft des Wahren bewegt werden, können wir auf etwas hoffen.
Ja, eine Weggemeinschaft wie die eure hat tagtäglich mit Macht und mit Geld zu tun. Ist es realistisch anzunehmen, dass jemand diese auf eine Weise nutzt, dass er dabei sich selbst und andere aufbaut? Anders gesagt: Ist es möglich, dass sich Unternehmen und Werke auf ganz neue, anders geartete Weise zusammenschließen? Meiner Meinung nach kann dies unter einer Bedingung geschehen. Ich hatte meine Zweifel, ob es angemessen und opportun wäre, das hier in diesem Rahmen zu sagen, wo Personen aus unterschiedlichen Richtungen zusammengekommen sind. Es beruhigte mich allerdings, als mir jemand von euch sagte, dass die Färberzunft von Piacenca – also Leute wie ihr, die mitten im Leben stehen und genauso auf Erfolg angewiesen sind – folgendes an die Kathedrale geschrieben haben: «Wenn wir der Wirklichkeit einen neuen Sinn geben wollen, müssen wir zur Jungfräulichkeit zurückkehren». Don Giussani kommentierte das folgendermaßen: «Die Jungfräulichkeit ist die Suche nach der Bestimmung in allem, was man tut. Durch diese Haltung gewinnt jeder Umstand seine Bedeutung und Gestalt an und verwirklicht sich so in wahrer, aufrichtiger und nützlicher Art und Weise. Und so wird das Leben des Menschen wahrer, aufrichtiger und hat einen größeren Nutzen. Es wird besser. Das Leben des Menschen, das als Leidenschaft für Christus entsteht […], konkretisiert sich im leidenschaftlichen Willen, das Leben des Menschen wahrer und aufrichtiger zu gestalten und ihm einen wirklichen Nutzen beizumessen».
Nur diese Leidenschaft für Christus, nur dieser «direkte Blick auf Etwas, das größer ist» , ermöglicht die Jungfräulichkeit, die uns zur richtigen Haltung verhilft, mit Macht und Geld umzugehen, ohne am Ende davon bestimmt zu werden. Das heißt die Jungfräulichkeit ist die Möglichkeit zu einem neuen Umgang mit den Dingen, zu deren wahrem Besitz. Das ist nicht das Ergebnis einer moralischen Anstrengung. Es geht nur darum, der Anziehungskraft der Schönheit nachzugeben, von der Jacopone da Todi sprach: «Christus ergreift mich ganz in seiner Schönheit!» .
Er ist es, der die Dankbarkeit, die Gratuität ermöglicht, die ihr als Titel dieses Treffens gewählt habt. «Wenn Gott […] nicht Mensch geworden wäre – so erinnert uns Don Giussani –, hätte keiner sein eigenes Leben nach dieser Dankbarkeit ausrichten können.» .

5. Die Herausforderung einer solchen Begleitung
Sicherlich ist es auch ein Risiko, das was ihr tun wollt, in die Tat umzusetzen. Die ganze Neuheit, die Christus hervorzubringen vermag, ist eurer Freiheit und Verantwortung anvertraut. Zu dem Ereignis, das euch hervorgebracht hat, gehört auch die Fähigkeit zum Risiko, indem ihr mit diesem Ideal in die Wirklichkeit hineingeht (auch ich gehe übrigens Risiken in dem Werk der Bewegung als solcher ein). Wir wissen wohl, dass sich dieses Ideal in der Geschichte nicht vollkommen verwirklichen kann. Aber deswegen sind wir nicht weniger darauf hin ausgerichtet.
Für dieses Ausgespanntsein hat Eliot eine wunderbare Beschreibung gefunden, die uns sehr entspricht:«Tierhaft, wie seit eh und je, sinnlich, selbstsüchtig wie eh und je, verblendet und selbstisch wie alleweg,/ Doch immer strebend, immer aufs neu bezeugend, immer aufs neue einfallend in den Marsch auf dem Wege, den das Licht ihm erhellte; / Oftmals einhaltend, schweifend, zaudernd, säumig, umkehrend, schlug er doch nie einen anderen Weg ein» .
Wir sind tierhaft wie eh und je, aber immer im Kampf und kommen nie vom Weg ab.
Deswegen müsst ihr angesichts möglicher Fehler nicht erschrecken. Sie sind in jedem Werk des Menschen unvermeidlich. Aber rechtfertigt sie auch nicht. Wir können sie anerkennen, weil wir nicht von ihnen definiert werden. Ansonsten wären wir wie alle gezwungen, sie überheblich zu leugnen, um uns selbst zu behaupten.
In der Erfahrung, der wir begegnet sind, ist uns alles Nötige an die Hand gegeben, um uns zu korrigieren und immer wieder von neuem anzufangen. Eben: immer im Kampf. Der erste Kampf findet in uns selbst statt: Wir sollen ein Gut behaupten, das größer ist als es unser Maß und unsere eigenen Pläne.

6. Tiefe Gründe meiner Sympathie
Ich sehe, dass ihr versucht, das christliche Ereignis genauso wie ich wahrzunehmen: als Ereignis der neuen Schöpfung, von der der heilige Paulus spricht, als neues Subjekt auf der Bühne der Welt, als neuer Protagonist in der Gesellschaft.
Mir scheint es besonders dringlich, sich dessen bewusst zu werden. Denn nur ein Christentum, das Ereignis ist, kann auf die aktuelle Situation antworten. Denn wir sehen, dass sich das Subjekt verliert und die Trägheit wächst. Ohne ein Subjekt, das «Ich», ist weder eine Neuheit möglich, noch kann ein Land wachsen. Versteht ihr, warum wir seit Jahren von einem «erzieherischen Notstand» sprechen?
Deswegen ist euer Handeln entscheidend, wenn man die Natur des Christentums verstehen will. Wen interessiert schon ein Christentum, das unfähig ist, ein Subjekt hervorzubringen, das in die Wirklichkeit hinein wirkt? Ein solches Christentum würde das Leben nur unnötig verwickeln; und Probleme gibt es schon genug. Deswegen bringt das Christentum für den, der er euch bei welcher Gelegenheit auch immer begegnet, ein neues Interesse hervor, nämlich als Antwort auf das Problem des Lebens. Denn darin liegen der Ursprung und die Methode eurer Originalität. So kann man das Risiko umgehen, von dem Kardinal Ruini spricht: «Es liegt in einer Vorstellung von unserem Glauben, die „rein“ sein will, die aber Gefahr läuft, kein „Fleisch“ mehr zu haben, da der Glaube sich nicht für die sozio-kulturellen und institutionellen Gegebenheiten interessiert (zumindest nimmt er sich ihrer nicht an); diese gilt es aber ins Auge zu nehmen, wenn man möchte, dass der Glaube weiterhin im Volk verwurzelt ist und die Fähigkeit behält oder auch neu erlangt, eine führende Rolle in der Geschichte auszuüben […]. Wir müssen diese Formen von Spiritualismus überwinden, die eine Art Selbstentfremdung gegenüber uns selbst verbergen können. Die soziokulturellen Faktoren sind sicher nicht die entscheidende Antriebskraft des Christentums – diese liegt im Geheimnis unserer Beziehung zu Gott, der uns rettet –, aber sie stellen doch auch ein unumgängliches Element im konkreten Geflecht der Geschichte dar, wie die Ereignisse der letzten zwei Jahrtausende wiederholt gezeigt haben.» .
Die Werke, die ihr ins Leben gerufen habt, scheinen mir ein «ironischer Versuch»– um es mit Don Giussanis Worten zu sagen –, der Neuheit Ausdruck zu verleihen, die sich in vielen von euch durch die Taufe ereignet hat: Eine neue Schöpfung, eine neue Art und Weise «ich» zu sagen, nicht eine Entfremdung von uns selbst! Ein neues Subjekt, das fähig ist, etwas zu riskieren. Das ist die Frucht einer christlichen Erziehung. Ihr beweist ganz schön Mut, wenn ihr in diesen Zeiten etwas riskiert! Es wäre viel leichter, ihr würdet euch nicht für euch und für andere interessieren. Aber ihr lasst euch auf dieses Risiko ein. Und ich bin euch für dieses Zeugnis dankbar, weil eure kreativen Versuche ein Beitrag zum Wohl und Wohlstand der Gesellschaft sind.
Wenn man in der Gesellschaft Protagonist ist, verhindert man eine «Aushöhlung» des Ichs, die sich einstellt, wenn man alles vom Staat erwartet. Angesichts dieser neuen Form von Protagonismus erhält der Staat den ihm zukommenden Platz. Er ist in der Lage seiner Hauptaufgabe nachzukommen, nämlich Personen zu unterstützen, die ihrer Freiheit Ausdruck verleihen oder sich zusammenschließen wollen; er kann den Raum gewährleisten, in dem der Mensch seinen Weg geht, indem er die Herausforderungen angeht und Antworten sucht, die das Leben jedes Einzelnen menschlicher und würdiger machen. Je nachdem, ob ein Staat die Initiative der Bürger mehr oder weniger begünstigt, entscheidet er damit, was für Bürger er will: Protagonisten oder Untergebene.
Die Enzyklika von Benedikt XVI. ist in diesem Sinn eine Magna charta einer richtigen Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft: «Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden …»
Das ist sowohl für die Gesellschaft als auch für den Staat gut. Darin liegt meiner Meinung nach der Grund, warum jemand – auch ein Laie – ein Interesse hat, einer solchen Weggemeinschaft anzugehören.

L. Ferry „Tenemos miede de todo, del tabaco, del sexo, del alcohol, de la mundilizacion...“ in ABC, 1.4.2006, S.27.
U. Galimberti, „La generazione del nulla“, in la Repubblica, 5.10.2007, S.47.
P. Citati, „Gli eterni adolescenti“, in la Repubblica, 2.8.1999, S.1
A. Schiavone, „La destra non sa piu spiegare li mondo“, in la Repubblica, 16.10, 2007, S.26.
L.Giussani, L’io, il potere, le opere, Marietti, Genua 2000, S. 159.
ebd. S. 99.
ebd. S.168.
ebd. S. 165.
L. Giussani, „Viterbo 1977“, in Il rischio educativo, Sei, Turin, 1995, S. 61.
C. Ruini, Chiesa del nostro tempo III. Piemme, Casale Monferrato 2007, S. 135.
L. Giussani, «Presentazione», in E. Manfredini, La conoscenza di Gesù, Marietti, Genua-Mailand 2004, S. 24.
L. Giussani, Warum die Kirche, Rizzoli, Milano 2003, S. 203.
Jacopone da Todi, «Como l’anima se lamenta con Dio de la carità superardente in lei infusa», Lauda XC, in Le Laude, Libreria Editrice Fiorentina, Firenze 1989, S. 313.
L. Giussani, L’io, il potere, le opere, op. cit., S. 132.
T.S. Eliot, Chöre aus «The Rock», in: Gedichte, Frankfurt 1964.
C. Ruini, Chiesa del nostro tempo III, op. cit., pp. 56-57.
Benedikt XVI., Deus caritas est, II, 28.