Logo Tracce


Kultur / Alessandro Manzoni
Von den Fakten lernen, ist das wahre Abenteuer
Pigi Colognesi

Die Grundthemen von Manzonis „Die Verlobten“ sind Realismus, Vorsehung und Freiheit sowie die Rolle des Volk. Ein Antwortversuch auf die Frage, warum dieser Schlüsselroman trotz aller Kritik und Vorurteilen unersetzlich bleibt, auch für den heutigen Leser.

Seit mindestens vier Jahrzehnten, seit der «Kulturrevolution» der 68er, versucht man, ihn aus der Schule zu drängen und durch andere Romane zu ersetzen. Aber Alessandro Manzonis Meisterwerk, Die Verlobten, hat dem bislang widerstanden. Viele würden die Lesebücher gerne entrümpeln und von ihm befreien, weil er angeblich zu sperrig ist. Aber auf der Suche nach einem angemessenen Ersatz kommt man schließlich doch immer wieder auf ihn zurück. Wo findet man noch eine solche Fähigkeit zur Beschreibung, so weite Landschaften des Geistes, eine auch nur entfernt vergleichbare Einfühlsamkeit? In welchem anderen Roman leben so authentische Figuren? Wo werden Situationen so konkret und daher plausibel dargestellt, und sind doch zugleich ganz allgemeingültig, weil sie den Leser mit einbeziehen können? Wer außer Manzoni hat das Italienische so fügsam und neuartig zu gebrauchen verstanden?
Den Verlobten wird von unbarmherzigen Kritikern vorgeworfen, ein Roman aus lauter Konzepten zu sein (zumeist veraltete Konzepte). Man hält das Buch für verknöchert-katholisch und bigott. Auch soll es der ungewohnten Sprache wegen unlesbar sein. Und trotz alledem beweist es eine unerwartete Lebendigkeit. Hier soll nun versucht werden, den Grund dafür zu klären, durch ein Gespräch mit drei Liebhabern von Manzonis Meisterwerk: dem Dichter und Literaturkritiker Maurizio Cucchi, dem Lehrer Dado Peluso und dem Universitätsprofessor Giorgio Vittadini.
Cucchi: Der Vorwurf, Manzonis Roman sei überholt, beruht darauf, dass seine einheitliche Geschichtssicht von der Vorsehung bestimmt ist, und daher, im fließenden und fragmentierten heute, angeblich unverständlich sei. Hierauf erwidere ich, dass ein Kunstwerk wie Die Verlobten zuerst einmal als Kunstwerk zu bewerten ist. Es ist verfehlt, bei weltanschaulichen Gesichtspunkten zu verharren und nur über diese zu diskutieren, also ob der Roman eine soziologischer Analyse wäre. Nehmen wir etwa den Abschnitt, wo die von der Nonne von Monza irregeführte Lucia die Kutsche ihrer Entführer bemerkt. Der Autor beweist hier seine Fähigkeit, den Leser außergewöhnlich stark in das Geschehen und die Gefühle der jungen Frau einzubinden. Es scheint, als befände man sich selbst dort.
Vittadini: Man muss verstehen, woher Manzoni diese herausragende Gewandtheit im Erzählen erwächst. Ich glaube, dass sie hauptsächlich von seiner großen Fähigkeit kommt, den Tatsachen treu zu bleiben, wie sie sich darbieten. Das ist der berühmte Realismus Manzonis. Er beobachtet staunend die Tatsachen, geht von ihnen aus, und erst ganz am Ende zieht er Schlussfolgerungen. Deswegen erscheint es mir grundfalsch zu behaupten, sein Roman sei «aus lauter Konzepten» gemacht. Blättern wir zur letzten Seite vor. Als Renzo zu beschreiben versucht, was er aus seinen Abenteuern gelernt hat, tut er nichts anderes, als eine Liste von Tatsachen aufzuzählen, eine Art Zusammenfassung des Romans: «Ich habe gelernt, mich in keinen Tumult hinein zu begeben, auf offener Straße nicht zu predigen, nicht über den Durst zu trinken», und so weiter. Hier tritt nun Lucia auf. Diese Figur ist von manchen Kritikern zu Unrecht schlecht behandelt worden. Sie bringt den Gedankengang ein entscheidendes Stück voran. Anders als ihr Ehemann kann sie sagen: «Ich habe die Leiden nicht aufgesucht, sie haben mich aufgesucht». Es gibt also Tatsachen, die nicht von unseren Entscheidungen abhängen. Aber eine realistische Herangehensweise akzeptiert auch sie und versucht sie zu verstehen, gerade ihre geheimnisvollen Seiten. So regiert für Manzoni wie genau wie für jeden Christen die Vorsehung das menschliche Leben. Sie ist kein vorgefertigter Stempel zum Aufdrücken auf die Wirklichkeit, sondern wird mit Staunen von dem, der die Tatsachen mit einfachem Herzen betrachtet, entdeckt. Ich als Statistiker würde sagen, dass viele Indizien einen Beweis ergeben. Und nur wer wahrheitsgetreu die Indizien beobachtet, findet den Kern der Sache. Dieser Standpunkt besiegt jeden Gedanken an ein fragmentiertes Leben, und darin liegt die außerordentliche Modernität Manzonis.
Peluso: Es wäre noch hinzuzufügen, dass es einen Punkt gibt, in dem sich alle Geschehnisse eines Lebens treffen, und das ist das Herz des Menschen, der sie erlebt. Manzoni weiß um diese Grundrichtung des Daseins, und das Herz, von dem er schreibt, ist keine im Vorhinein aufgestellte Theorie, keine Ideologie. Er beschreibt es vielmehr mit einem Begriff, der sprichwörtlich geworden ist: guazzabuglio – Wirrwarr. Im Herzen des Menschen rühren sich widersprüchliche Gefühle, aber es treten auch evidente Einsichten hervor. Schon immer hat mich die Episode des tumulto dei forni («Ofenunruhen», A.d.R.) beeindruckt, in der Renzo auftritt. Gerade er, der ungebildete Dörfler, wendet das grundlegende Kriterium der menschlichen Vernunft an: Aber halt, wenn sie die Öfen zerstören, so fragt er sich, wie kann man dann noch Brot backen? Es hat seine Bedeutung, wenn Manzoni diese Weisheit gerade einer Figur aus dem Volke eingibt. Er will wohl damit sagen, dass es kein Vorrecht der Gebildeten, sondern der Einfachen ist, das Herz als Kriterium anzuwenden. Wohl eine Erinnerung an das Evangelium. Die Gebildeten, die wir heute die «Ideologen» nennen würden, sind es im Gegenteil, die die Wirklichkeit nicht unvoreingenommen anschauen können, so wie Don Ferrante. Er ist fest von seiner Theorie überzeugt, dass es die Pest nicht gibt, und gerade er stirbt an der Pest.

Ist dieser „realistische„ Blick auf das Dasein für die Jugendlichen von heute noch zu verstehen?
Peluso: Sicherlich. Mehr noch, ich sehe in meinen Klassen, dass die Schüler den Roman «suchen». Denn sie ahnen instinktiv, dass das Leben ein Roman ist, und zwar nicht im oberflächlichen, äußerlichen Wortsinne. Sie verstehen – vielleicht sollte man besser sagen, sie ersehnen –, dass ihr Dasein so etwas wie eine große Theateraufführung ist, wo jeder seinen Platz, also seinen Sinn hat. Das Leben als Roman ist keineswegs eine «romantische», versüßende Vorstellung. Im Gegenteil, es ist die Möglichkeit, den Ablauf der Zeit und all dessen, was sich darin abspielt, als einen sinnvollen Plan zu betrachten. Dass es die Vorsehung gibt, ist in diesem Sinne genau die Sehnsucht eines jeden Herzens.
Cucchi: Ich denke, in den gleichen Gedankengang muss man das starke Bedürfnis nach «Ästhetik» einordnen, das ich in den Jugendlichen sehe. Natürlich benutze ich diesen Begriff in seinem starken, reichen Sinne. Da ist es erschütternd festzustellen, wie sowohl die Schule als auch der Kulturmarkt diesem Bedürfnis nichts als billigste Surrogate anbieten. Ich will keine Namen nennen, um nicht polemisch zu sein, aber es ist wirklich traurig zu sehen, dass man an Stelle von Die Verlobten irgendwelche zweitklassigen Romane plattester Machart ohne die geringste Tiefe setzt. Aber bleiben wir bei der Frage des Realismus, von der wir gerade gesprochen haben. Allzu viele der Erzählprodukte, die man die Schüler heute lesen lässt, haben nicht einen Funken jener äußersten Aufmerksamkeit, mit der Manzoni seine Personen aufbaut. Wenn ich lese, wie Lucia, so verängstigt sie auch war, sich durch die Aufmerksamkeit des Herrn Rodrigo auch ein wenig geschmeichelt fühlte, entdecke ich vor mir einen Autor mit einer seltenen Fähigkeit, in die Menschen hinein zu blicken. Mit einer Aufmerksamkeit, einer Zuneigung zu allem, was menschlich ist. Deshalb sind seine Personen glaubwürdig und lebendig.
Vittadini: Was die Glaubwürdigkeit der Personen angeht, so habe ich Renzo immer außergewöhnlich gefunden. Sein Gespräch mit Fra Cristoforo im Lazarett ist ein Meisterwerk des Realismus. Als das Gespräch auf Don Rodrigo fällt – und Renzo noch nicht weiß, dass der Urheber all seiner Widrigkeiten nebenan mit dem Tode ringt – brechen all sein Zorn und seine Rachsucht aus ihm heraus. Dann bringt ihn Fra Cristoforo dazu, Don Rodrigo zu vergeben. Es ist eine absolut menschliche Dynamik.

«Vergebung» ist ein typisch christliches Wort. Manche sind der Auffassung, dass das heutige säkularisierte Umfeld gerade das Christliche der Verlobten nicht verdauen kann.
Vittadini: Das sagen die, die eine ideologische Vorstellung vom Christentum haben, als handele es sich um eine vorgefertigte Theorie, die es auf die Realität anzuwenden gilt und aus der eine rein organisatorische Vorstellung von Kirche erwächst. Das Christliche an Manzoni ist hingegen ein Christentum des Ichs, nicht bloß der kirchlichen Struktur. Deshalb finden wir in der Kirche, wie er sie beschreibt, alle Aspekte des Menschlichen, ohne irgendetwas zu verstecken. Da ist die Nonne von Monza und der Kardinal Federigo, der furchtsame Don Abbondio und der mutige Fra Cristoforo. Donna Prassede, die die Güte mit ihren eigenen Vorstellungen verwechselt, und die arme Witwe, die immer jedem zur Hilfe eilt. Also keine rein institutionelle Kirche, sondern eine Kirche, die aus echten Menschen besteht. Das ist das Faszinierende, denn eine Kirche, die nur aus Strukturen oder moralischen Gesetzen besteht, kann einen jungen Menschen nicht interessieren. Hingegen ist er unweigerlich fasziniert von einem Volk, wo jedes «Ich„ ganz und gar beteiligt ist, und zwar durch das, was ein jeder ist und durch den Weg, den er zu gehen hat. In diesem Zusammenhang können wir nicht umhin, das große Thema der Freiheit anzusprechen. Es ist einer der faszinierendsten Aspekte des Katholizismus: kein äußerer Umstand, keine Begrenzung kann dem Menschen den höchsten, unantastbaren Schatz der Freiheit rauben. Das furchtbare Schicksal der Nonne von Monza ist einer der Höhepunkte, an denen Manzoni sich als zäher Verteidiger der Freiheit erweist: aller Druck der eigenen Familie hat Gertrud nicht «gezwungen» zu tun, was sie getan hat; sie konnte immer noch wählen. Heute wird den Jugendlichen die Freiheit als – unmögliches – Fehlen von Bindungen gepredigt, und sie fühlen sich von jeder Begrenzung gleich erstickt. Ich denke, da ist Manzonis katholische Verteidigung der Freiheit als Heiligtum des Ichs von grundlegender Bedeutung.
Peluso: Manzoni liebt die Freiheit so sehr, dass seine Personen nie ein für alle Mal festgelegt sind, es sind lebendige Menschen und nicht vorgestanzte Typen. Niemand kann sich einbilden, endgültig auf der sicheren Seite zu sein, aber ebenso muss niemand an der Möglichkeit der eigenen Veränderung verzweifeln. Es wird schon sichtbar, dass hier Manzonis persönliche Erfahrung durchscheint. Vergessen wir nicht, dass er selber ein Konvertit war und mithin sehr genau wusste, dass die Freiheit jederzeit in Erscheinung treten und die Ausrichtung eines Lebens ändern kann. Mehr noch, das Leben selbst ist nichts anderes als eine ständig neue Entscheidung der Freiheit. Der Roman beginnt mit Don Abbondio auf einem Weg, der sich irgendwann gabelt. Das ist ein Symbol: so wie man an einer Weggabelung eine der beiden Richtungen einschlagen muss, so öffnet jede Begegnung im Leben die Notwendigkeit einer Antwort und zwingt uns, Stellung zu beziehen. Die Freiheit ist immer im Spiel.
Vittadini: Mithin gibt es immer die Möglichkeit der Veränderung, wie auf spektakuläre Weise die Geschichte des Ungenannten zeigt. Wir sind an die Logik der Talkshows gewöhnt, wo die Hauptdarsteller einer bestimmten Angelegenheit manichäisch in Gute und Böse eingeteilt werden. Analog zeichnet die Boulevardpresse bei tragischen Ereignissen ein durch und durch schlechtes Bild des jeweiligen «Monsters». Manzoni handelt anders: Er bleibt an der Schwelle der geheimnisvollen Freiheit des Menschen stehen.
Cucchi: Wir müssen noch einen weiteren Gesichtspunkt beachten: die Sprache. Manzoni hat buchstäblich, ganz allein, eine Sprache erfunden. Das grenzt an ein Wunder. Das war kein rein formales Problem. Seine Leidenschaft für die Einheit Italiens hat ihn dazu gebracht, gerade in der Sprache den entscheidenden Baustein für das Ideal, das er verfolgte, zu entdecken. Hieran sehen wir, wie seine künstlerischen Entscheidungen von einem starken moralischen Antrieb bestimmt sind.
Vittadini: So kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Manzonis Wahl der Sprache ist Ausdruck einer bestimmten Haltung: ihn interessiert nicht das Wort an sich, sondern die Realität. Er ist kein Geschichtenerzähler, der mit den Worten spielt, sondern ein Mensch, der von der Realität fasziniert ist und unermüdlich das geeignetste Wort sucht, um sie zu beschreiben. Die lange stilistische Überarbeitung des Romans ist die Anstrengung, das Wort immer mehr an das Faktum zu heften.

Die Unterhaltung hat noch viele andere Gesichtspunkte gestreift: Manzonis politische Ideen und seine typisch lombardische Aufklärung, seine Vorstellung von Gerechtigkeit und die Wertschätzung des Volkes, den theatralischen Wert des Erzählens und die stilistische Brillanz des Schreibens. Aber der Platz reicht nicht, um auf diesen Seiten davon zu berichten. Wir überlassen die weitere Vertiefung dem geneigten Leser, in der Hoffnung, mit dem soweit Geschriebenen sein Interesse am Roman geweckt zu haben. «Sollten wir euch hingegen nur Langweile bereitet haben, so glaubt es uns, dass es nicht mit Absicht geschah».


Das Leben Manzonis

Alessandro Manzoni kam 1785 als Sohn von Giulia Beccaria in Mailand zur Welt. Sein Ziehvater war Graf Pietro Manzoni; sein leiblicher Vater war Giovanni Verri, der Liebhaber der Mutter. Wenige Jahre nach seiner Geburt trennten sich die Eltern und Giulia zog nach Paris. Manzoni verbrachte seine Jugend in einem Internat. Mit 16 Jahren schloß er sich nach dem Schulabschluss den Mailänder Kulturkreisen an. Er knüpfte Kontakte mit Dichtern wie Foscolo und Monti. 1805 zog er zur Mutter nach Paris. Hier lernte er Claude Fauriel kennen, den Philologen, der die Romantik in Frankreich verbreitete. Dieser wurde für ihn zu einer wichtigen Bezugsperson. Er kehrte nach Mailand zurück und heiratete 1808 Enrichetta Blondel nach calvinistischem Ritus. Am 12. April 1810 nahm er mit seiner Frau in Paris an den Feierlichkeiten aus Anlass der Hochzeit Napoleons teil. Die beiden wurden von der ungeheuren Massenmenge getrennt. Manzoni geriet in Panik und fand in der Kirche von Sankt Rochus Zuflucht. Er betrachtete diesen Zwischenfall als Meilenstein seiner Bekehrung zum katholischen Glauben. Ab 1812 verfasst er die ersten vier Inni Sacri (Heilige Hymnen). Ein Jahr später veröffentlichte er seine erste Tragödie Il conte di Carmagnola. In den darauffolgenden zwanzig Jahren schrieb er unter anderem Pentecoste, die Osservazioni sulla morale cattolica, Adelchi, Le odi Marzo 1821 und Cinque Maggio, die Postille al vocabolario della crusca und die erste Fassung des Romans Fermo e Lucia, der später, im Jahr 1827, unter dem Titel I promessi sposi (Die Verlobten) erschien. Die zweite und endgültige Fassung veröffentlichte er 1840. Diese Jahre wurden von vielen persönlichen Verlusten überschattet. Dem Tod seiner Frau folgte der von mehreren seiner Kinder sowie seiner Mutter. Zwischen1848 und 1850 knüpfte er eine Freundschaft mit Antonio Rosmini, dem katholischen Philosophen, der zu seinem Seelenvater wurde. 1856 zog er in die Toskana. Dort wurde er zum Senator des neuen Königreiches ernannt. Zwei Jahre später bot man ihm die Mitgliedschaft in der Kommission für die Vereinheitlichung der italienischen Sprache an. 1866 hielt er den berühmten Vortrag De l’unità della lingua e dei mezzi per diffonderla (Über die Einheit der Sprache und die Mittel, sie zu verbreiten). Er starb 1873 in Mailand.