Logo Tracce


CLU - Exerzitien
Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert?
Julián Carrón

Exerzitien der Studenten von Gemeinschaft und Befreiung. Rimini, 8. - 10. Dezember

8. Dezember 2006 Abend
Einleitung
Julián Carrón

Wir alle sind hier, weil in uns ein großes Bedürfnis drängt. Obwohl wir von verschiedenen Orten kommen, sind wir darin eins, dass wir mit dem gleichen Bedürfnis hierher gekommen sind. Wenn wir mit einem Wort die Situation beschreiben sollten, in der wir uns befinden, und zwar aus welchem Land auch immer wir kommen, so würde ich das Wort «Verwirrung» verwenden. Um die Lage dessen zu beschreiben, der in unserem Land und unserer Gesellschaft lebt, der in ein Volk geboren wurde und aufwächst und sich nach dem Sinn des Lebens fragt, können wir nur das Wort «Verwirrung» gebrauchen. Sowohl in der Presse wie im Fernsehen stehen wir vor einer wirren Unzahl an Botschaften. Eure Beiträge bestätigen, dass sich unsere Lage so beschreiben lässt, und dass in uns allen die Sehnsucht nach Gewissheit drängt. Diese Sehnsucht ist so groß, dass wir von ihr aus Rückschlüsse auf den Grad an Verwirrung schließen können, in dem wir uns befinden. Wir haben das Bedürfnis nach Klarheit über den Weg: So wie wir das Bedürfnis nach Essen haben, verlangen wir nach der Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.
Aber beginnen wir diesen Weg gemeinsam, indem wir nicht vor der Verwirrung zurückschrecken, sondern ihr ins Gesicht schauen: Gibt es etwas, was dieser Verwirrung standhält? Gibt es etwas, das mit einer so großen Evidenz standhält, so dass selbst die größte Verwirrung nicht siegen kann? Die Verwirrung kann das Bedürfnis, das wir in uns vorfinden, nicht verhindern. Im Gegenteil, sie lässt unser es sogar mit einer noch größeren Deutlichkeit hervortreten: Unser Bedürfnis nach Glück, danach den richtigen Weg zu finden, nach Wahrheit, danach, den Sinn der Zeit zu verstehen, den Sinn des Leides, des Lebens zu verstehen. Die ganze Verwirrung kann nicht verhindern, dass unser Herz hervortritt. «Das Herz», sagte Don Giussani in Padua, wie wir in Spuren lesen konnten, «ist der Ort der großen Fragen: der Frage nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, der Frage nach der Liebe, der Frage - und diese schließt alle anderen mit ein - nach Glück. Wenn die Bibel vom Herz spricht, dann meint sie genau diesen Ort der großen Fragen, in dem sich letzten Endes das Kürzeste und Wichtigste aller Worte zusammenfassen lässt: das Wort Ich»1. «Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert? »2; das eigene Ich verliert, das eigene Herz verliert?
Jeder von uns hat vielleicht verschiedene Vorstellungen über alles Mögliche im Kopf. Aber wenn es etwas gibt, das niemand verlieren will, dann sich selbst. Keine Verwirrung kann dies auslöschen. Im Gegenteil, je verwirrter alles wird und je mehr wir uns dieser Verwirrung bewusst werden, umso mehr tritt das Bedürfnis mit Deutlichkeit hervor und zwar durch die Traurigkeit, Unzufriedenheit und Unruhe oder auch durch die Überfülle, die wir manchmal erleben.
In der bereits erwähnten Ansprache von Padua erinnert uns Don Giussani an das Kapitel im Buch von Pater Gemelli über die Franziskaner (Die franziskanische Bewegung), in dem jedes Kapitel mit einer ausgeschmückten Initiale begann. Ein Kapitel davon begann mit dem Buchstaben «Q» und in das Oval dieses Buchstaben war die «Silhouette des heiligen Franz von Assisi gezeichnet: Er hatte die Arme weit ausgebreitet und den Kopf nach hinten geneigt. Davor waren Berge in größerer Entfernung angedeutet, hinter denen die Sonne aufging, und an Stelle des kleinen Strichs am Q war ein kleiner Vogel abgebildet. Das «Q», mit dem das Kapitel begann, leitete auch die Frage ein [...]:«Quid animo satis?» - was genügt dem Herzen des Menschen, was kann dem Herzen des Menschen genügen? Was diese Zeichnung zum Ausdruck bringen wollte, war klar: [Der heilige Franz von Assisi], der Mensch, der sich von allen anderen Menschen am meisten unterschied, der Mensch, der die größte Sensibilität überhaupt gehabt hat, stand diesem wunderschönen Panorama der Natur und der aufgehenden Sonne ganz offen gegenüber. Er war ganz auf diese hin ausgerichtet. Die Arme wollten es dem Herzen gleichtun: ganz offen sein. In dem Augenblick scheint nichts zu fehlen und doch fehlte noch alles. «Was kann dem Herzen des Menschen genügen?» Das Herz der Menschen ist in der Tat jener Ort unseres persönlichen Seins, an dem man versteht, dass wir die Ebene der Natur sind, in der sich die Natur der Beziehung mit dem Unendlichen, dem Bedürfnis nach Beziehung zu Gott bewusst wird. [...] Wenn es diesen ewigen, unendlichen Horizont nicht gibt, fehlt das entscheidende Fundament. Auch das Antlitz des Menschen, der einem am teuersten ist, hat keinen Bestand, auch die Dinge, die man am meisten zu besitzen glaubt, entgleiten uns und «mehr noch das, was mir am meisten gefiel», wie es eine Dichterfreundin von Giosuè Carducci sagte: «Und mehr noch das, was mir am meisten gefiel»»3.
Diese Natur, die zum Bedürfnis wird, dieses Bedürfnis, das wir «Herz» nennen, ist in unserer Menschlichkeit so tief verwurzelt, dass wir es nicht besiegen können (Und zum Glück ist es bis in unsere Eingeweide hinein verwurzelt, denn sonst würden wir versuchen, es auszulöschen!). Die ganze Verwirrung stößt sich immer und immer wieder an diesem Faktum, das in unserer Menschlichkeit, in unseren Knochen, in unseren Eingeweiden verwurzelt ist und aus diesem Grund unausrottbar ist. Es ist etwas Gegebenes. Die Natur - unser Fleisch, unsere Knochen, unsere Eingeweiden, unsere Zellen - wird im Menschen zum Bedürfnis nach Unendlichkeit. Im Unterschied zu den Tieren sind wir auch physiologisch so konstituiert, dass alles auf das Unendliche hin geöffnet ist. Diese Offenheit ist in unserer Menschlichkeit verwurzelt und genau aus diesem Grund unausrottbar. Alle müssen dies anerkennen. So schreibt Pasolini: «Von einer Frage bin ich erfüllt, auf die ich keine Antwort weiß»4. Und kein Nihilismus der Welt kann dies besiegen. Wir können versuchen, diese Frage zu verdrängen, wir können versuchen, sie zu vergessen, wir können - wie der «verlorene Sohn» - von zuhause weggehen, alles mögliche tun. Aber selbst wenn wir - wie im Gleichnis - dort zusammen mit den Schweinen essen müssten, fänden wir diese Frage wieder in uns vor. Und nicht nur der verlorene Sohn, sondern die gesamte «Philosophie ist eigentlich Heimweh - Trieb überall zu Hause zu sein», wie Novalis beschreibt.5
Weil es sich um etwas handelt, das von nichts ausgelöscht werden kann, sehen wir uns vor die Alternative gestellt: Entweder folgen wir diesem «Herzen», diesem Bedürfnis, das wir in uns vorfinden und das angesichts einer jeden Verwirrung in uns Widerstand leistet, oder wir versuchen es auszulöschen. Entweder wir folgen ihm oder es siegt die Lüge. Da wir es nicht auslöschen können, ist das Einzige, was wir ihm entgegenhalten können, die Lüge, unsere andauernde Lüge, weil wir es fortwährend verleugnen müssen. Die Lüge gipfelt im Hass auf sich selbst, im Hass auf diese gegebene Sehnsucht, die so objektiv und in meiner Menschlichkeit verwurzelt ist, dass ich sie nicht ausrotten, nur hassen kann. So schreibt Nietzsche: «Eines Tages warf der Wanderer eine Tür hinter sich zu, blieb stehen und weinte. Dann sagte er: "Dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen! Wie ich es hasse!»»6 Das Herz kann tatsächlich zum Feind werden, den es zu besiegen gilt. Aber dies ist nicht die einzige Möglichkeit: Wir können diesem Herzen auch nachfolgen, wir können ausgehend von diesem Herzen neu beginnen, in welcher Situation auch immer wir uns gerade befinden, wie auch immer der Gemütszustand sein mag, mit dem wir hier her gekommen sind. Nichts, keine Macht dieser Welt kann dies verhindern. Wir können neu anfangen, und dieses Zusammensein mit einem Akt der Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber beginnen. Auch wenn wir uns selbst den ganzen Tag oder den ganzen Monat lang vergessen haben sollten, kann uns keiner daran hindern, nun diesen Akt der Aufrichtigkeit zu vollziehen, zu beginnen «mit Anteilnahme unser Menschsein wahrzunehmen. Wir müssen betrachten, was wir wirklich sind. Betrachten will sagen, all das ernst zu nehmen, was uns widerfährt, indem man jeden einzelnen Aspekt erfasst und seine ganze Bedeutung sucht»7.
Um neu zu beginnen, reicht ein Blick der Anteilnahme, der Sympathie, auf unsere Menschlichkeit, ein Augenblick der Sympathie genügt, um neu zu beginnen. Und anstatt uns von mehr oder weniger bruchstückhaften Eindrücken mitreißen zu lassen, versetzt uns dies in eine Haltung der Erwartung, die uns auch hierher geführt hat. Denn warum sind wir alle hier? Aufgrund dieser Erwartung, die wir in uns tragen. «Je mehr wir unsere Bedürfnisse entdecken, desto mehr bemerken wir unser Unvermögen, sie aus uns heraus zu lösen. [...] Das Empfinden der Hilflosigkeit begleitet jede ernsthafte Erfahrung des Menschseins [Sobald wir auf die Erfahrung schauen, beginnen wir aus der Verwirrung heraus zu kommen]. Dieses Empfinden des Unvermögens ruft nun die Einsamkeit hervor. [Die Einsamkeit ist daher nicht das, was wir uns gewöhnlich darunter vorstellen, wenn wir sie auf bloßen Sentimentalität verkürzen]. Wirklich einsam zu sein bedeutet nicht, dass wir physisch allein sind. Es ist vielmehr die Entdeckung, dass ein für uns grundlegendes Problem weder durch uns selbst noch durch andere eine Antwort finden kann. Man kann mit vollem Recht sagen, dass das Empfinden der Einsamkeit im Kern einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschsein verwurzelt ist. [...] Darin ähneln wir einem Menschen, der einsam in der Wüste ist: Das einzige, was er tun kann, ist abzuwarten, dass jemand kommt»8.
Aus diesem Grund erwächst dieser Gestus, unser Zusammensein, aus einem - womöglich noch ängstlichen und verwirrten - Urteil über unser Leben als Bedürfnis. Dieser Gestus ist eine Öffnung unseres Herzens auf das, für was sich zu leben lohnt. Beginnen wir daher damit, dass wir darum bitten, mit unserer ganzen Menschlichkeit hier sein zu können, so wie wir sind: Ohne etwas von unserer Menschlichkeit zu verdrängen, sondern indem wir mit Sympathie auf all das, was in uns brodelt. Und vermeiden wir dabei jeden Anflug von Formalität, so wie Kinder, die das Brot «Brot» und den Wein «Wein» nennen.
Aber um diese Menschlichkeit anschauen zu können, ohne vor ihr zu erschrecken, brauchen wir eine Gegenwart. «Ohne eine Gegenwart ist auch ein Kind nur ein verzweifeltes Nichts. Es unterscheidet sich nur durch seine Verzweiflung vom Nichts. Ohne diese Gegenwart unterscheidet sich der Mensch vom Nichts nur durch seine Verzweiflung», sagte Don Giussani vor einigen Jahren. Aus diesem Grund erschreckt uns unsere Menschlichkeit oftmals und wir suchen einen Ausweg in der Zerstreuung, in der Ausschweifung, wenn wir unseren Kopf und unser Herz zuhause lassen. Aber um diese Gegenwart zu erkennen, bedarf es einer Kraft, einer moralischen Kraft. Denn wir leisten dieser Gegenwart oftmals Widerstand.
Um uns darin zu helfen, brauchen wir etwas Anderes. Wir brauchen eine liebevolle Gegenwart. Denn ohne eine gute Gegenwart ist unsere Sehnsucht - wie Don Giussani vor vielen Jahren einmal sagte - wie «toll» geworden: Eine Sehnsucht, die nicht weiß, wohin sie gehen soll, die uns noch mehr verwirrt, uns hierhin und dorthin zieht, so dass wir zu einem wandelnden Pulverfass werden. Wie es Gide beschreibt: «Sehnsucht, ich habe dich durch die Straßen geschleppt, ich habe dich einsam in den Feldern zurückgelassen, ich habe dich in den Städten betrunken gemacht, ich habe dich betrunken gemacht ohne deinen Durst zu stillen, ich habe dich in mondhellen Nächten durchfeuchtet, ich habe dich überall hin gebracht, ich habe dich auf den Wellen gewiegt, ich versuchte dich auf den Wogen einzuschläfern, Sehnsucht, Sehnsucht, was willst du also? Wann wirst du endlich müde werden?»
Oftmals wissen wir nicht, was wir mit unserer Sehnsucht machen sollen. Sie trägt uns überall hin, schleppt uns mit sich, ist wie «toll» geworden. Wir sehen uns mit unserer eigenen Hilflosigkeit konfrontiert und uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.
Aber es gibt jemanden, der dieser Hilflosigkeit entgegen gekommen ist. Uns allen, die wir hier sind, ist dies geschehen. Jemand ist uns entgegen gekommen. Aber wie oft denken wir, dass auch Er gescheitert ist, dass nicht einmal Er unsere Sehnsucht erfüllen kann, uns nicht anziehen kann, die Verwirrung nicht besiegen kann! Aber der Papst hat uns gesagt: «Gott scheitert nicht. Oder genauer gesagt: Gott scheitert zunächst immer, er lässt die Freiheit des Menschen stehen, und die sagt immer wieder Nein. Aber Gottes Phantasie, die schöpferische Kraft seiner Liebe, ist größer als das menschliche Nein. Durch jedes menschliche Nein wird eine neue Dimension seiner Liebe entbunden und findet er einen neuen, größeren Weg, sein Ja zum Menschen, zu seiner Geschichte und zur Schöpfung zu verwirklichen. [Bereits zu Beginn, bei Adam, hat diese Geschichte begonnen:] Adam war mit der Freundschaft Gottes nicht zufrieden; es war ihm zu wenig, er wollte selbst ein Gott sein. Er sah Freundschaft als Abhängigkeit an und hielt sich für einen Gott, wenn er nur in sich selber stand. Darum sagte er Nein, um selber ein Gott zu werden, und stürzte sich gerade so aus seiner Höhe hinab. Gott «scheitert" an Adam - und so scheinbar für die ganze Geschichte. Aber Gott scheitert nicht, denn nun wird er selbst ein Mensch und beginnt das Menschsein neu; pflanzt das Gottsein ins Menschsein unwiderruflich ein und steigt hinunter bis in die letzten Abgründe und Tiefen des Menschseins; erniedrigt sich bis ans Kreuz. [...] Was bedeutet dies alles für uns? Zuerst einmal die Gewissheit: Gott scheitert nicht. Er «scheitert" ständig, aber gerade darum scheitert er nicht, denn er macht daraus neue Möglichkeiten größeren Erbarmens, und seine Phantasie ist unerschöpflich. Er scheitert nicht, weil er immer neue Weisen findet, zu den Menschen zu gehen und sein großes Haus weiter zu öffnen, dass es ganz voll werde. Er scheitert nicht, weil er nicht davor zurückschreckt, die Menschen zu drängen, dass sie kommen und sich an seinen Tisch setzen sollen. [...] Gott scheitert nicht, auch heute nicht. Selbst, wenn wir so viel Nein erleben, dürfen wir es wissen. Aus dieser ganzen Gottesgeschichte, von Adam an, können wir erkennen: Er scheitert nicht»9.
Wir alle können dies sehen, wir alle sind Zeugen dafür, dass Er noch nicht gescheitert ist. Denn wir alle sind voller Neins aufgrund der vielen Male, in denen wir in unserem Leben Nein zu Ihm gesagt haben. Aber wir alle sind Zeugen dafür, wie Er einen anderen Weg gefunden hat, um uns zu erreichen. Auch heute hat Er gemäß Seiner Phantasie eine Modalität gefunden, um uns zu erreichen. In diesen Tagen wird Er mit seiner einzigartigen Phantasie einen Weg suchen, um unser Herz zu erreichen. Bitten wir darum, uns dieser Initiative des Geheimnisses, das um unser Herz bettelt, nicht zu entziehen.



9. Dezember 2006 Vormittag
Lektion
Julián Carrón

1. Das Problem der Gewissheit
Welche Frage drängt sich uns nun in dieser Situation der Verwirrung in unserem Leben am meisten auf? Es ist die Frage nach der Gewissheit: die Gewissheit über den Weg und für uns, die wir hier sind, die Gewissheit über diesen Weg, d.h. die Gewissheit über Christus!
Was bedeutet es, sich Christi gewiss zu sein? Wie erreicht man diese Gewissheit? Aus was besteht sie? Eine von euch schreibt: «Am meisten interessiert es mich, von Dir darin unterstützt zu werden, dass meine Erfahrung innerhalb der Gemeinschaft wahrhaft zu einer Vertiefung meiner Gewissheit werde». Das ist einer von vielen Beiträgen, die diesen Punkt thematisieren.
Im Seminar der Gemeinschaft haben wir gelesen: «»Wie kann ich, der ich am Tag nach Jesu Fortgang komme, wissen, ob es sich wirklich um etwas handelt, das mich in höchstem Maße angeht und wie kann ich es mit begründeter Gewissheit wissen?» Wir haben bereits angemerkt, dass man sich kein für den Menschen schwerwiegenderes Problem vorstellen kann als dieses, welche Antwort man auch immer auf diese Frage gibt. Für jedweden Menschen, der mit der christlichen Botschaft in Berührung kommt, ist es ein Pflichtgebot, zu versuchen, über ein für das eigene Leben und das Leben der Welt so entscheidendes Problem Gewissheit zu erlangen»10.
Die Frage nach der Gewissheit wird nicht zuletzt aufgrund der Charakteristika unserer Zeit drängend und dramatisch: angesichts des Nihilismus, den wir atmen, der Unfähigkeit, mit den ursprünglichsten Evidenzen unserer Erfahrung umzugehen und somit überhaupt Gewissheit in einem jeden Bereich der menschlichen Existenz zu erlangen. Wir begegnen dieser schweren Erblast und dieser Leere, zu der eine tiefe affektive Schwäche und eine seltsame Faulheit der Vernunft hinzukommen. Und wo das Urteil schwach wird, verringert sich auch die Fähigkeit, im Leben Gewissheiten zu erlangen.
Don Giussani lag die Vernünftigkeit des Glaubens immer am Herzen: Er war überzeugt, dass der Glaube in der heutigen Welt ohne diese Vernünftigkeit nicht überleben könne. Es gibt daher im Leben nichts Wichtigeres, als diese Gewissheit zu erlangen.
Aber wir müssen mit einer Schwierigkeit rechnen, die wir in uns vorfinden und die unsere Möglichkeit, Gewissheiten zu erlangen erschwert. Denn sowohl in der Schule, in der Universität, wie auch in unserem gesamten Lebensumfeld sind wir daran gewöhnt, dass nur eine spezielle Verwendung der Vernunft zur Gewissheit führt. Unsere Schwierigkeit hat daher mit der Beziehung zwischen Erkenntnis und Gewissheit zu tun, oder anders gesagt, mit einer Auffassung von Vernunft und einem bestimmten Gebrauch von ihr, mit einem Verständnis von Erkenntnis, von dem wir ohne uns dessen bewusst zu sein bestimmt sind. Wir sind Kinder jener «modernen Selbstbeschränkung der Vernunft», von der Benedikt XVI. in Regensburg gesprochen hat, die das Feld und den Aufgabenbereich der Vernunft auf das verkürzt hat, was wissenschaftlich fassbar ist. Die wissenschaftliche Vernunft wurde nach dieser Auffassung zur einzigen erklärt und ihr Aktionsrahmen ausschließlich mit jener Wirklichkeit identifiziert, die in mathematische Begrifflichkeit übersetzt und der Kontrolle durch das Experiment unterstellt werden kann: Alles was nicht in mathematische Sprache übersetzt und übertragen, und nicht der experimentellen Beweisführung unterstellt werden kann, ist nicht erkennbar, wird dem Bereich des rein Subjektiven zugerechnet.
Das Dogma des wissenschaftlichen Rationalismus ist die Luft, die wir atmen. Deswegen haben wir Mühe damit, dass es andere Arten der Erkenntnis gibt, mit denen wir eine Gewissheit erlangen können. Wie der Papst sagt: «Nur die im Zusammenspiel von Mathematik und Empirie sich ergebende Form von Gewissheit gestattet es, von Wissenschaftlichkeit zu sprechen. Was Wissenschaft sein will, muss sich diesem Maßstab stellen»11. Und auch Don Giussani hatte bereits im Religiösen Sinn geschrieben: Gemäß dieser Mentalität kann «Wahrheit über etwas nur auf naturwissenschaftlich-mathematischem Gebiet erfasst und ausgesagt werden. Bei Erkenntnissen anderer Art, wie bei dem Problem unserer Bestimmung, unseres affektiven Lebens, des Politischen werde man nie zu einer objektiven Gewissheit, zu einer wahren Erkenntnis des Gegenstandes gelangen»12.
«Gewiss» ist für uns nur das, was durch Berechnung bewiesen und durch das Experiment bestätigt werden kann. Die Sphäre der wirklichen Erkenntnis wird so auf einen kleinen Bereich an abstrakten und formalen Wahrheiten, zusammen mit ihren wissenschaftlich-technischen Anwendungsmöglichkeiten verkürzt. Das Ergebnis einer solchen Beschränkung, einer solchen Dominanz des wissenschaftlichen Rationalismus aber ist, dass die Vernunft und die Erkenntnis keinen Bezug mehr zum Leben haben, nichts mehr mit den Fragen des Lebens zu tun haben.
Die Vernunft wird so von der Existenz abgekoppelt. Aber können wir mit diesem Gebrauch der Vernunft, an den wir uns gewöhnt haben, eine Gewissheit in einem Problem wie dem, das wir hier angehen wollen, das Problem Christi, erlangen? Nein, mit einem solchen Gebrauch der Vernunft ist es unmöglich. Darin besteht die Herausforderung des Papsts in Regensburg: Wenn wir, die wir in dieser kulturellen Situation leben, zu einer wahren Erkenntnis kommen wollen, müssen wir die Vernunft erweitern, weil die Wirklichkeit größer als der Maßstab unserer Vernunft und die Vernunft kein Mechanismus, sondern «Leben» ist, wie sie Don Giussani im Religiösen Sinn nennt, und gemäß der Art der Objekte verschiedene Methoden impliziert: Es wäre irrational angesichts «der Komplexität und Vielfalt, der Fülle alles Wirklichen»13 nur eine Methode für das Wirkliche zu verwenden, das sich uns jeweils anders darstellt.
Es gibt eine ursprünglichere und wesentlichere Methode, die der wissenschaftlichen vorausgeht und diese überhaupt erst ermöglicht: Sie besteht in der Intelligenz des Zeichens, d.h. in der Fähigkeit, die Zusammenhänge zwischen den Dingen zu erfassen, über das was erscheint hinauszugehen und den Verweisen der Zeichen bis zu deren Ursprung, bis zu ihrer Bedeutung zu folgen. Nur so können wir wahrhaft erkennen. Nur wenn wir uns von der Wirklichkeit treffen lassen und ihr folgen, ihrer Herausforderung gegenüber verfügbar sind und ihr folgen, können wir wahrhaft die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit erkennen.

2. Der Glaube: eine Methode der Erkenntnis
Die erste Frage, die wir daher angehen müssen, ist die, ob der Glaube eine Methode der Erkenntnis ist. Auch in der Situation, in der wir uns befinden, gibt es Fakten, die uns herausfordern.
«Die Hölle der Lebenden», schreibt Italo Calvino, «ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir täglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, da man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und erfordert dauernde Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben»14.
Auch wir können inmitten der Verwirrung aufmerksam darauf sein, das zu suchen und zu erkennen, was sich von ihr unterscheidet. So beginnt der Glaube: Mitten im Dunkel, mitten in der Hölle, mitten in der Verwirrung, sehe ich mich plötzlich vor ein Faktum gestellt, das nicht zur Hölle, nicht zum Dunkel, nicht zur Verwirrung gehört. «Die erste Charakteristik des christlichen Glaubens», hat uns Don Giussani immer wieder erinnert, «ist, dass er bei einem Faktum beginnt»15, bei einem Faktum, das die Vernunft und die Freiheit in Bewegung setzt. Lassen wir uns, um dies zu verstehen, von einer der schönsten Erzählungen des Evangeliums helfen, die ich schon öfters angesprochen habe und die wir nun gemeinsam vertiefen können: die Erzählung vom Blindgeborenen.
Im neunten Kapitel des Johannesevangeliums heißt es: «Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: «Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde?» Jesus antwortete: «Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden [...]». [Wir beginnen immer bei dem Vorurteil: «Wer hat gesündigt?» Niemand, sondern er ist so, damit das Wirken Gottes, die Herrlichkeit Gottes an ihm offenbar werde, d.h., dass an ihm die Wahrheit offenbar werde, Seine Wahrheit, Seine Herrlichkeit erstrahle]. Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: «Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach!» [...] Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. [Ein einfaches Faktum, ein Faktum, das Staunen und eine Frage wachruft]. Die Nachbarn und andere, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sagten: «Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte?» [Es handelt sich um ein Faktum, dass die Vernunft dessen, der sich davon treffen lässt, in Bewegung setzt; hier beginnt der Glaube als Weg der Erkenntnis: ein Faktum, das Vernunft und Freiheit in Bewegung setzt; erst danach setzen die verschiedenen Interpretationen dieses Faktums ein]: Einige sagten: «Er ist es.» Andere meinten: «Nein, er sieht ihm nur ähnlich.» Er selbst aber sagte: «Ich bin es.» Da fragten sie ihn: «Wie sind deine Augen geöffnet worden?» [Dieses Faktum verlangt nach einer Erklärung, verlangt nach einem Grund]. Er antwortete: «Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Teig, bestrich damit meine Augen und sagte zu mir: Geh zum Schiloach und wasch dich! Ich ging hin, wusch mich und konnte wieder sehen». Sie fragten ihn: «Wo ist er?» Er sagte: «Ich weiß es nicht». Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern. Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Teig gemacht und ihm die Augen geöffnet hatte. Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei [auch in den Pharisäern ruft dieses Faktum eine Frage wach; alle sind von dem Faktum beeindruckt, wie auch immer die Haltung ist, die sie ihm gegenüber annehmen]. Der Mann antwortete ihnen: «Er legte mir einen Teig auf die Augen; dann wusch ich mich und jetzt kann ich sehen.» Einige der Pharisäer meinten [wir sehen nun, wie die Vernunft, dieses «Leben», das in uns drängt, sich angesichts dieses Faktums zu bewegen beginnt]: «Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält». Andere aber sagten: «Wie kann ein Sünder solche Zeichen tun?» [Die Wirklichkeit war einfach zu offensichtlich] So entstand eine Spaltung unter ihnen. Da fragten sie den Blinden noch einmal: «Was sagst du selbst über ihn? Er hat doch deine Augen geöffnet». Der Mann antwortete [der Blinde beginnt nun selbst den Weg der Erkenntnis]: «Er ist ein Prophet!» [Also jemand, der anders ist, als die, die wir gewöhnlich kennen]. Die Juden aber wollten nicht glauben, dass er blind gewesen und sehend geworden war [weil sie nicht bereit waren, dieses Faktum anzuerkennen, versuchten sie es zu verneinen]. Daher riefen sie die Eltern des Geheilten und fragten sie: «Ist das euer Sohn, von dem ihr behauptet, dass er blind geboren wurde? Wie kommt es, dass er jetzt sehen kann?» Seine Eltern antworteten: «Wir wissen, dass er unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. Wie es kommt, dass er jetzt sehen kann, das wissen wir nicht. Und wer seine Augen geöffnet hat, das wissen wir auch nicht. Fragt doch ihn selbst, er ist alt genug und kann selbst für sich sprechen». [Die Freiheit ist ein seltenes Gut, wie ihr seht]: Das sagten seine Eltern, weil sie sich vor den Juden fürchteten; denn die Juden hatten schon beschlossen, jeden, der ihn als den Messias bekenne, aus der Synagoge auszustoßen [aufgrund dieser Angst taten die Eltern beinahe so, als würden sie ihren Sohn und das, was ihm zugestoßen war, nicht kennen]. Deswegen sagten seine Eltern: «Er ist alt genug, fragt doch ihn selbst.» Da riefen die Pharisäer den Mann, der blind gewesen war, zum zweiten Mal und sagten zu ihm [wir sehen nun wie das Vorurteil, unser Maß, unser bereits von vorneherein feststehende Haltung die Erkenntnis behindert]: «Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist». [Man redet nicht mehr vom Blinden, sondern geht direkt dazu über, Jesus anzuklagen: Er ist ein Sünder! Aber worin besteht die Stärke des Blinden gegenüber diesen in Dialektik geschulten Experten? In dem einfachen Anhängen an die Wirklichkeit, an das Faktum. Seine Stärke besteht in dieser moralischen Kraft, von der wir gestern gesprochen haben, die eine Einfachheit ist. Welch Einfachheit bedarf es, um zu erkennen! Schauen wir, wie der Blindgeborene antwortet]. Er antwortete: «Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht [Ich mache bei euren Interpretationen nicht mit]. Nur das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehen kann». [Aber die Pharisäer versuchen weiterhin ihn in die Falle zu führen]. Sie fragten ihn: «Was hat er mit dir gemacht? Wie hat er deine Augen geöffnet?». Er antwortete ihnen: «Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Wollt auch ihr seine Jünger werden?» Da beschimpften sie ihn: «Du bist ein Jünger dieses Menschen; wir aber sind Jünger des Mose. Wir wissen, dass zu Mose Gott gesprochen hat; aber von dem da wissen wir nicht, woher er kommt». Der Mann antwortete ihnen [in der Einfachheit des Anhängens an ein Faktum liegt die Größe der Intelligenz]: «Darin liegt ja das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er kommt; dabei hat er doch meine Augen geöffnet. Wir wissen, dass Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er. Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiss nichts ausrichten können». [Das ist die Erkenntnis: sie beginnt bei einem Faktum; und, wenn man diesem Faktum gegenüber aufrichtig ist und sich bis zu dessen Ursprung mitnehmen lässt, dann wird man sich all seiner Faktoren bewusst: «Noch nie hat man gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser Mensch nicht von Gott wäre, dann hätte er gewiss nichts ausrichten können»]. Die Pharisäer entgegneten ihm: «Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren?» Und sie stießen ihn hinaus [dies bedeutet, dass wir nicht unseren Augen glauben sollen, sondern dass es immer jemand anders gibt - wie die Pharisäer - der uns sagen muss, worin die Wirklichkeit besteht, als ob wir das nicht selbst sagen könnten! Entscheidend ist hingegen die Einfachheit im Anhängen an das Faktum. Der Glaube ist dieser Weg der Erkenntnis, der ausgehend von einem einzigartigen, außergewöhnlichen Faktum, in dem Anerkennen des Ursprungs, in dem Anerkennen einer außergewöhnlichen Gegenwart besteht]. Jesus hörte, dass sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: «Glaubst du an den Menschensohn?» Der Mann antwortete: «Wer ist das, Herr? Sag es mir, damit ich an ihn glaube». Jesus sagte zu ihm: «Du siehst ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es». Er aber sagte: «Ich glaube, Herr!». Und er warf sich vor ihm nieder. [Jesus, dieses Faktum, Seine Gegenwart, Sein Wirken, Seine Handlungen führen zu einer Neuheit, die unsere Haltung gegenüber der Wirklichkeit zum Vorschein kommen lässt]. Da sprach Jesus: «Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden [die, die denken, dass sie Sehend sind] blind werden». Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: «Sind etwa auch wir blind?». Jesus antwortete ihnen: «Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen [und wir können hinzufügen: und erkennt das, was ihr zu sehen behauptet nicht]. Darum bleibt eure Sünde»»16.
Es ist beeindruckend zu sehen, was ein so mächtiges Faktum in der Vernunft anstößt. Unser Ausgangspunkt ist keine «Vision». Der Ausgangspunkt des Glaubens ist ein Faktum und genau weil es sich um ein reales Faktum handelt, das sich da ereignet, stößt es einen Weg der Erkenntnis an. «Der Glaube ist ein menschlicher Gestus, daher entsteht er auf menschliche Art und Weise, er wäre nicht menschlich, wenn er ohne Vernunft entstünde: er wäre unvernünftig, d.h. nicht menschlich»17. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Faktum der Vergangenheit, sondern mit derselben Methode geschieht dasselbe auch heute: mitten im Dunkel, mitten in der Hölle taucht ein Faktum auf, das nicht zur Hölle gehört.
Eine von euch schreibt: «Wenn Gott die, die er liebt, dazu bringt, nach der christlichen Religion zu glauben, warum ist mir dann nicht das Gleiche geschehen? Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, Gott zu suchen und habe all meine Kräfte dafür eingesetzt, aber ich verstehe nicht, warum Er sich mir nicht gezeigt hat. Nach unzähligen Versuchen hatte ich für mich die Schlussfolgerung gezogen, dass Gott nicht existiert, dass er nur eine Erfindung von uns ist, dass die Religion von einem einfallsreichen Herrscher erfunden wurde, der, um zu vermeiden, dass die Menschen die Gesetze brechen, die Figur Gottes gebraucht hatte, um seine Untertanen in Angst zu versetzen. Ich habe die, die glauben, immer für dumm gehalten, aber gleichzeitig habe ich sie darum beneidet, dass sie es im Gegenteil zu mir geschafft hatten, Antworten zu finden. Mein Kampf gegen die Kirche hat so begonnen und hat sich mit der Zeit in wahren Hass verwandelt. Ich habe begonnen, mich gegen jeden Vorschlag der Kirche aufzulehnen und je mehr Zeit verging, umso überzeugter war ich von der Richtigkeit meiner Behauptung. Ich gefiel mir sogar darin, weil ich endlich einen Sinn in meinem Leben gefunden hatte. [Aber es geschieht das Unerwartete: Gott scheitert nie]. Die Begegnung mit euch von Comunione e Liberazione in der Universität hat meine Unzufriedenheiten wieder ans Tageslicht gebracht, eben jene, die ich geglaubt hatte, hinter einer aggressiven Haltung verstecken zu können. Zu sehen, wie ihr das Christentum lebt, hat in mir den Verdacht geweckt, dass all das, für was ich gekämpft hatte, vielleicht falsch wäre. Auf dem Weg von der Universität nach Hause hatte ich fast Angst, meinen Freunden, meinen «Kumpeln», von der Erfahrung, die ich erlebte, mitzuteilen: ich hatte Angst, dass sie es nicht verstünden, und noch schlimmer, dass sie mich auslachen würden. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte Angst zuzugeben, dass sich nach der Begegnung mit euch etwas verändert hatte und diese Hoffnung wieder auftauchen würde, die ich verloren zu haben glaubte. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich euch beneide, wie sehr ich die ruhige Art beneide, mit der ihr euch gegenüber der Wirklichkeit verhaltet, aber vor allem aber beneide ich euch darum, dass ihr aufgrund eures Glaubens stark seid, während ich mich schwach fühle. Ich habe versucht, vor dem, was mir geschah, zu fliehen, aber ich habe es nicht geschafft. Es war eine wahre Flucht vor euch. Ich wollte zu meinen alten Freunden zurückkehren, zu denen mit denen ich alles geteilt hatte. Ich habe in ihnen eine Antwort gesucht und hoffte, dass ein Wiedersehen mit ihnen mir helfen würde, wieder zu mir selbst zu kommen. Aber das Undenkbare ist geschehen: Genau diese Reise hat mich verstehen lassen, dass ich umsonst auf der Flucht war, weil ich mich früher oder später dem, was mir geschehen war, stellen müsste. Die Antworten habe ich gefunden. Im Zusammensein mit meinen alten Freunden habe ich verstanden, dass diese Art des Zusammenseins, die mir früher gefallen hatte, mich jetzt einengte. Daher bin ich jetzt wirklich überzeugt davon, mit euch zu den Exerzitien zu kommen». Eine Freundin von ihr [von der Gemeinschaft an der Universität], die das alles miterlebt hat, schreibt: «Angesichts ihres Staunens wurde ich mir bewusst, wie blind ich bin, weil ich, die ich diese Wirklichkeit jeden Tag erlebe, sie für selbstverständlich ansehe und nicht einmal mehr bemerke. In erster Linie ich selbst habe das Bedürfnis, andauernd diese Größe anzuerkennen, die ich tagtäglich erfahren darf».
Inmitten der Dunkelheit die Begegnung mit einer außergewöhnlichen Gegenwart: «Die zweite Charakteristik», schreibt Don Giussani, «ist die, dass wir uns vor ein außergewöhnliches Faktum gestellt sehen, eine außergewöhnliche Begegnung. Eine Begegnung im eigentlichen Sinne, das heißt sie trägt dieses Merkmal der Außergewöhnlichkeit, aufgrund dessen sie von uns ernst genommen wird. [...] Wann kann man etwas Außergewöhnlich nennen? […] Wenn es eine Antwort auf die tiefsten Bedürfnisse, für die wir leben und aufgrund derer wir uns bewegen, darstellt»18.
Das Gleiche schreibt auch eine von euch: «Im Mai diesen Jahres habe ich mit einigen von euch an einer von der Universität organisierten Reise nach Griechenland teilgenommen. Zu Beginn war ich nicht mit euch zusammen. Dann ist mir aufgefallen, dass die Dinge sich anders als gedacht verhielten: Ich habe in euch eine größere Freiheit gesehen, ich habe gesehen, dass ihr jeden Moment intensiver und froher gelebt habt, als ich, die ich - um mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen und meine Ideen äußern zu müssen - mit Leuten meine Zeit verbrachte, deren Gedanken ich in der Tat nicht teilte. Auf der Rückreise hat mir eine von euch vorgeschlagen, in der Universität zusammen zu lernen. Ich war ein bisschen unsicher, habe aber am Ende das Angebot angenommen und mich dabei wohl gefühlt. Schritt für Schritt hat sie begonnen, mir die Messe vorzuschlagen, ein Abendessen und vor nicht allzu langer Zeit das Seminar der Gemeinschaft. Am Anfang wollte ich nicht zusagen, weil ich nicht einbezogen werden wollte. In Wirklichkeit aber hatte ich Angst, von den Anderen beurteilt zu werden [immer wieder taucht diese Angst auf], aber dann habe ich bemerkt, dass diese Vorschläge die Antwort auf eine Frage von mir darstellten, auf ein Bedürfnis, das ich seit langer Zeit empfand, eine unerwartete aber wunderbare Antwort, die dem, was mein Herz sich ersehnte, entsprach [daher ist die Begegnung ein außergewöhnliches Faktum, weil sie entspricht: «Das, was das Phänomen der Begegnung charakterisiert, ist eine qualitative Andersartigkeit, eine Andersartigkeit, die entspricht»19]. Die Alternative vor der ich stand war: entweder diese Einladung anzunehmen oder aber mich vor etwas zurückzuziehen, das mich mit Freude erfüllte, und nicht dazu bereit zu sein, etwas in meinem Leben zu ändern? Ich habe die Einladung dieser Freundin bei diesen Exerzitien teilzunehmen angenommen, weil ich glaube, in den Ereignissen dieser Monate mehr als nur bloße und einfache Zufälle erkennen zu können und ich das, was sich mir als evident gezeigt hat, nicht ignorieren kann.» Handelt es sich hier um eine Visionärin oder spricht sie so, weil ein Weg der Erkenntnis hinter ihr liegt?
Aber wo liegt also unser Problem? Es ist vor allem ein Problem unseres Gebrauchs der Vernunft und des Herzens angesichts dessen, was wir sehen, angesichts dieser Andersartigkeit, auf die wir stoßen. Dort beginnt jene Einseitigkeit, die wir «Irrationalität» oder «Rationalismus» nennen können. Letztlich ist dies das Gleiche: wir verkürzen das, was wir mit unseren Augen sehen, obwohl es uns beeindruckt; wir bremsen die Herausforderung, die das, was wir sehen, für unsere Intelligenz und unser Herz darstellt. Das Problem des Glaubens betrifft nicht das, was wir nicht sehen, sondern unsere Beziehung zu dem, was wir sehen, was uns herausfordert, was uns öffnet, und uns zwingt, unsere Vernunft zu erweitern, weil wir sonst diese Andersartigkeit zensurieren müssten. Genauso wie die Pharisäer: um ihre Haltung beizubehalten, mussten sie die Tatsachen leugnen, mussten sie leugnen, dass dieser Mann blind war. In der Tat war dies die einzige Möglichkeit für sie, ihre Position aufrecht zu erhalten. Es geht also nicht um ein Problem des Glaubens in dem Sinne, wie wir normalerweise davon sprechen, sondern das Problem besteht darin, dass wir, um der Herausforderung der Wirklichkeit nicht zu folgen, diese leugnen. Aber wenn wir die Herausforderung der Wirklichkeit, die unsere Vernunft anstößt, nicht annehmen und ihr soweit folgen bis wir ihren Ursprung erkennen, dann reden wir auf unvernünftige Art vom Glauben: Es ist dann nicht mehr länger der Glaube, der von einem Faktum erzeugt wird, der ausgehend von einem Faktum wächst und erblüht, sondern der Glaube selbst, der das Faktum hervorbringt. Also genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich ist. Weil wir diesen vernünftigen Weg der Erkenntnis nicht annehmen, kommt uns oftmals der Zweifel, Visionäre zu sein. Es scheint uns, dass wir das, was wir sagen, selbst hervorbringen. Aber es ist exakt das Gegenteil: Weil uns ein Faktum berührt und unsere ganze Vernunft in Bewegung gesetzt hat, sind wir herausgefordert, dessen Ursprung zu erkennen.
So schreibt Tresmontant: «Jesus appelliert kontinuierlich an unsere Intelligenz. Er fordert sie heraus. Seine ständige Ermahnung besteht darin zu sagen: versteh ihr denn nicht, was ist mit eurer Intelligenz? Und er fügt auch hinzu: Glaubt ihr immer noch nicht? Der Glaube, den er herausfordert, hat nichts mit Leichtgläubigkeit zu tun. Dieser Glaube ist genau der Zugang der Intelligenz zu einer Wahrheit, das Anerkennen dieser Wahrheit, das 'Ja' der überzeugten Intelligenz und kein Verzicht auf die Intelligenz»20. Der Glaube ist nicht die Abwesenheit der Vernunft, sondern die Fülle der Vernunft, er erblüht am äußersten Rand der Vernunft. Für uns ist der Glaube diese Erkenntnis, zu der wir gelangen, ausgehend von den Tatsachen, die sonst ohne Erklärung blieben. Wie der Blindgeborene: Die Tatsache, sehen zu können, bliebe für ihn ohne Erklärung, wenn er den Ursprung, der dieses Faktum ermöglicht hat, nicht erkennen würde.
Aber wie kann man sehen, ob es sich bei dem, was uns in der Begegnung geschehen ist, um wahre Erkenntnis handelt? Woher wissen wir, ob wir das, was sich uns ereignet hat, für wahre Erkenntnis halten können? Man sieht es an der Art und Weise, mit der wir uns zur Wirklichkeit verhalten. Wer sich verliebt, wird durch den Widerhall, den die Dinge am darauf folgenden Tag bereits nach dem Aufwachen in ihm erzeugen, unmittelbar an das erinnert, was ihm geschehen ist. Wenn ich wirklich einem Ereignis begegnet bin und es erkannt habe, dann merke ich das an der Art und Weise, mit der ich alles angehe, an der Art und Weise, mit der ich den Widerhall in allem erfahre. Wenn der Glaube von einem Faktum hervorgebracht ist, von einem Ereignis, das ich erkennen kann, dann bemerke ich das in der Beziehung zu allem. Jede Handlung enthüllt daher die Bedeutung des Glaubens für mich, ob er wahre Erkenntnis oder aber nichts ist, ein bloßes Gefühl bleibt. Der Glaube ist dann wahre Erkenntnis, wenn wir in all dem, was wir tun, von einer realen Gegenwart ergriffen sind, die so wirkmächtig real ist, dass jeder Widerhall uns dieser Gegenwart, die uns ergriffen hat, bewusster werden lässt.
«Dieses Jahr», schreibt eine von euch, «hat die Universität mit der außergewöhnlichen Erfahrung der Equipe vom September begonnen, zu der ich zum ersten Mal eingeladen war. Dies hat mir eine ungeheure Sicherheit gegeben, weil mir von den Personen, die ich dort gesehen habe, in jedem Augenblick bezeugt wurde, wie es möglich ist, angesichts des Dramas des Lebens gewiss und froh zu sein. Und zwar so sehr, dass man dieses Drama ersehnt, um hundertprozentig leben zu können. Das war der Ausgangspunkt, um alles und alle mit einer viel interessanteren Perspektive zu betrachten und dies zeigt seine Früchte. Angesichts des Schmerzes über die Kleinheit meines Herzens kann ich nicht anders als mich an das, was ich gesehen habe, zu erinnern und mit dem, der bei mir ist, wieder zu beginnen: Ich habe das Hundertfache in Fleisch und Knochen gesehen [das ist eine Erkenntnis] und auch ich habe es berührt. Zur Zeit ist alles für mich sehr dramatisch (angefangen bei meinem universitären Werdegang, in der Beziehung zu meinem Freund, bis hin zur Frage nach der Berufung), und trotzdem bin ich gewiss, dass dies alles eine mühevolle Gnade ist, die mir gegeben ist, um meine Bestimmung zu verstehen und das Leben tatsächlich zu genießen».
Wenn mein Leben von einer Gegenwart ergriffen ist, sieht man das an der Art, mit der ich alles angehe. Wenn euch jemand sagen würde: «Ich habe mich verliebt», und dieses Faktum danach keine Auswirkungen auf alles andere in seinem Leben hätte, würdet ihr ihm sagen: «Du nimmst mich auf den Arm». In der Tat wäre es keine wahre Erkenntnis, ihm wäre nichts geschehen! Wenn der Glaube nicht das Anerkennen einer Gegenwart ist, die uns ergreift und zu einem neuen Ausgangspunkt wird, um alles anzugehen, über was reden wir dann? Wir sind bis ins Mark hinein Rationalisten, wie wir dieses Jahr im Seminar der Gemeinschaft gelesen haben, denn anstatt von einer Gegenwart auszugehen, gehen wir von einer Abwesenheit aus. «Die rationalistische Haltung operiert mit der Hypothese der Abwesenheit». Oftmals verkürzen wir dies auf ein Problem, das nur diejenigen betrifft, die sich mit historischen Forschungen beschäftigen; aber diese Haltung betrifft auch uns und wirkt sich auf unser ganzes Leben aus. «Die rationalistische Haltung […] kann die Haltung eines jeden von uns sein. Sie neigt dazu, unser Denken auf eine Art von Anschauung zurückzuführen, die uns sehr vertraut ist. Die Tatsache, dass Gott menschliche Gegenwart wird, bleibt für uns ein Geheimnis. Wir kommen daher angesichts der christlichen Verkündigung stets in Versuchung, den immer gegenwärtigen Gott auf die Vorstellung zu reduzieren, die wir von Anwesenheit und Abwesenheit haben. [...] Was ist das Neue an der christlichen Offenbarung? Dass Gott nicht ein fernes Wesen ist, zu dem der Mensch mit äußerster Anstrengung zu gelangen versucht, sondern ein Jemand, der sich an die Seite des Menschen gestellt hat und ihn auf seinem Weg begleitet»21. Ich kann daher daran erkennen, dass der Glaube eine wahre Erkenntnis ist, wenn ich in all dem, was ich lebe, in meiner Beziehung zum Geld, zu meiner Freizeit, in meinen Vorlieben und Zuneigungen, in der Haltung zu meiner Arbeit etc. mich selbst dabei entdecke, diese Gegenwart als Ausgangspunkt zu haben. Dort sieht man, ob der Weg des Glaubens mich in eine wahre Erkenntnis eingeführt hat.
Wenn der Glaube nicht eine solche Erkenntnis ist, bemerken wir oft, dass wir gewissermaßen mit einem anachronistischen Blick auf die Wirklichkeit leben: Wenn wir eine Landkarte sehen würden, auf der Amerika nicht verzeichnet wäre, würden wir sofort merken, dass etwas fehlt. Aber oftmals reden wir über die Wirklichkeit so, als ob Christus nie gekommen wäre, als ob sich die Auferstehung nie ereignet hätte, als ob der Glaube nicht zu einer wahren Erkenntnis der Wirklichkeit führe. Das sieht man an der Tatsache, dass wir die Wirklichkeit so wie alle anschauen, wie alle als hässlich betrachten und dann weil wir Christen sind, versuchen, ein bisschen «moralischer» zu leben: Das Christentum wird so auf eine Ethik verkürzt, auf den Versuch, die Wirklichkeit zu meistern, in einer Situation, die so angeschaut wird, wie sie alle anschauen. Das was heute als Christentum gilt, ist nur dieser ethische Versuch. Wir alle sind Erben Kants: weil wir die Wirklichkeit an sich nicht erkennen können, bleibt uns einzig und allein die Ethik. Wenn ich daher von der «Arbeit» spreche, zu der wir berufen sind, wird diese sofort auf das, was wir «machen» müssen, verkürzt, auf einen Versuch, die Wirklichkeit so zu leben, dass man versucht, sich darin zurecht zu finden. Dagegen besteht die Arbeit darin, - wie Italo Calvino sagt - dem Faktum Raum zu geben, diesem Punkt, der inmitten der Hölle nicht zur Hölle gehört, Raum zu geben, das anzunehmen, was sich ereignet hat. Was hat der Blindgeborene gemacht? Er hat einfach das angenommen, was ihm geschehen ist. Von Balthasar schreibt: «Um objektiv sehen zu können, müssen wir in erster Linie das, was sich zeigt, was sich ereignet hat, sein lassen; uns dessen, was sich ereignet nicht bemächtigen», sondern es anerkennen, es anbeten, weil die Neuheit darin besteht, diesem Ereignis, das sich in unserem Leben gezeigt hat, Einlass zu verschaffen. Ein Freund von uns aus Trient schreibt: «Mehr als zu sehen, wie ich in dem Versuch, die Welt zu gewinnen, mich selbst verlieren kann, durfte ich in den letzten Tagen daran teilhaben, wie es möglich ist, dass man sich selbst und auch den ganzen Rest wiedergewinnen kann, wenn man den Blick fest auf Christus gerichtet hält. Ich konnte das in den letzten Monaten an Nicola sehen, einem Freund von uns, der Freitagmorgen an einem Tumor gestorben ist. Ich hatte das Glück, unmittelbar nach dem Tod zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im Krankenhaus sein zu dürfen. Nur die Auferstehung Christi kann das, was sich an diesem Morgen ereignet hat, erschöpfend erklären: diese Freude in den Gesichtern seiner nächsten Angehörigen, trotz des unendlichen Schmerzes. Ohne große Reden führen zu müssen war es ausreichend für mich dies zu sehen; das allein hat es mir erlaubt, gewiss sein zu können. In den darauf folgenden Tagen war ich ständig in der Versuchung, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was mir durch den Kopf ging, aber ich wurde mir bewusst, dass es hundertmal interessanter und besser für mich war, auf das zu schauen, was sich dort ereignete: die Freude und die Gewissheit seiner Verwandten. Dieses Faktum hat meine Vernunft neu geweitet und ich sehne mich danach, ebenfalls diesen Blick zu haben, den auch Nicola hatte».
Es geht darum, sich von dem, was sich ereignet, berühren zu lassen, ihm Raum zu geben, anstatt sich seiner in einem Diskurs zu bemächtigen oder in einen ethischen Versuch abzurutschen. Nur dies lässt uns frei werden und atmen. All unsere Versuche reichen nicht aus, sie geben uns keinen Augenblick lang etwas von dieser Neuheit, die durch ein Faktum in unser Leben getreten ist.

3. Christus: Gottes Begleitung des Menschen
Aber wie können wir vermeiden, dass die Verkürzung des Christentums auf eine Ethik oder auf ein bloßes Gefühl siegt? Wie können wir diesem Ereignis Einlass verschaffen? Hier spielt unser Bedürfnis nach einer Weggemeinschaft eine wichtige Rolle. Die Tatsache, dass wir dieses Bedürfnis haben, rührt nicht daher, dass bei uns irgendetwas im Argen liegt: Sondern es gehört zum Weg der Gewissheit, wie wir im Sommer in La Thuile gesagt haben. Ich denke immer an jene Seite des Seminars der Gemeinschaft, wo Don Giussani den Weg der Gewissheit beschreibt: Es ist notwendig, dass das, was in unser Leben eingetreten ist, dass uns diese Gegenwart, jeden Tag vertrauter wird.
Nach der Hochzeit von Kanaan «beschließt der Evangelist seinen Bericht mit den Worten: «Und seine Jünger glaubten an ihn». Diese Feststellung erscheint uns vielleicht merkwürdig. Haben wir nicht bereits [...] gehört, dass die Jünger bereits 'an ihn glaubten'? Und doch ist dies die treffende und genaue Beschreibung eines uns allen bekannten psychologischen Phänomens. Trifft man einen Menschen, der für das eigene Leben wichtig ist, gibt es meist ein erstes Vorgefühl, irgend etwas drängt uns zu der Einsicht: Das ist er! Das ist sie! Doch nur wenn wir dieser Person häufiger begegnen, bekommt dieser erste Eindruck nach und nach Gewicht für unser Leben [..]. Erst wenn wir das Leben mit diesem Menschen teilen [ihm Raum geben, wie Calvino sagt], kann dieser Eindruck tiefer in uns Wurzel fassen, bis er schließlich zu einer Gewissheit wird.[...] Für dieses stufenweise «Erkennen» werden wir im Evangelium noch manchen Beleg finden, es wird ihm noch viel «nachgeholfen» werden müssen, so dass uns die Wendung: «Und seine Jünger glaubten an ihn» bis zum Schluss immer wieder begegnen wird. Diese Einsicht wird langsam zu einer Überzeugung werden, was nicht bedeutet, dass sie nicht auch vorher «an ihn geglaubt» hätten». Es ist nicht so, dass wir irgendetwas falsch machen, sondern wir brauchen die Begleitung Christi tatsächlich, wir haben es nötig, Seine Gegenwart wirklich erkennen zu können, so dass wir die Wirklichkeit nicht länger anschauen können, ohne Ihn dabei ständig im Blick zu haben. «Im Zusammensein mit Jesus bestätigt sich immer mehr, dass er dieses ganz Außergewöhnliche und so ganz Andersartige ist, das sie vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hatte. Indem sie mit ihm das Leben teilen, verstärkt sich nach und nach diese Gewissheit. Im Evangelium wird also [...] gezeigt, dass der Glaube auf dem Weg zur Überzeugung aufeinander folgende, wiederholte Akte des Erkennens verlangt, denen man zu ihrem Vollzug Raum und Zeit gewähren muss»22.
Die Gewissheit ist ein Weg. Als ich in Brasilien war, hat mir eine Studentin gesagt: «Ich will diese Gewissheit, aber komm mir nicht mit einem Weg». Sie verteidigte sich noch vor dem eigentlichen Beginn. Ich habe ihr geantwortet: «Dieser Weg ist entscheidender Bestandteil der Gewissheit. Wenn du jemand triffst, der dir gefällt, dann ist dir in diesem Augenblick völlig klar, welches die nun anstehenden Schritte sind: Du würdest ihn gern wieder treffen, am nächsten Tag einen Kaffee mit ihm trinken. Aber wenn er dir sagen würde, dass er dich heiraten wolle, dann würdest du davonrennen. Wenn du dagegen mit ihm einen Kaffee trinkst und der anfängliche Eindruck bestätigt wird, wird dir selbst klar, welches der folgende Schritt ist. Und so weiter. Schritt für Schritt wirst du ein jedes Mal gewisser, so dass nur eine Naturkatastrophe diese Gewissheit in Frage stellen könnte. Wenn es sich dagegen nur um ein einziges Mal gehandelt hätte, wäre es leichter gewesen, zu denken: «Ich war vielleicht eine Visionärin?» Wann also wirst du gewisser? Wenn du viele Bestätigungen erfahren hast, oder wenn du alles in einem einzigen Augenblick gesehen hättest?»
Der Weg, den Don Giussani hier beschreibt, ist Teil der Gewissheit, lässt dieses Ereignis, das uns begegnet ist, immer mehr zu dem unseren werden. Aber dafür ist es unerlässlich, dass Jesus wahrhaft zum gewohnten Begleiter wird, dass das, was wir getroffen haben, ohne Verkürzung zu einer Begleitung im Leben wird, dass Seine Gegenwart alltäglich wird, zu der Gegenwart desjenigen wird, der das ganze Leben mit der ständigen Frage anschaut, die wir zum Thema der diesjährigen Exerzitien gewählt haben. «Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert?»23
Gegenüber einem, der dich so liebt, so dass du jedes Mal, wenn er dich anschaut und dir diese Frage stellt, dein ganzes Leben umarmt und von einer Welle der Zärtlichkeit überflutet siehst, die von einer anderen Welt ist, kannst du nicht anders als zu fragen: «Aber wer interessiert sich so sehr für mein Leben?» Er ist es, es ist diese Gegenwart, die in der Geschichte ist und die niemand aus der Geschichte heraus nehmen kann, die keiner verkürzen kann. Es ist eine Gegenwart, ohne die ich nicht ich selbst sein kann, ohne die ich mich mit meiner ganzen Fähigkeit zu lieben, zu leben, zu errichten, mich zu freuen, nicht entfalten könnte; es ist eine Gegenwart, die uns zu uns selbst werden lässt.
Wo lebt diese Gegenwart? Damit sie alltäglich werden kann, muss sie heute leben. Diese Gegenwart lebt in unserer Gemeinschaft, in unserer Freundschaft. Die Gegenwart Christi muss physisch sein, um zur Begleitung zu werden. Wo finden wir andauernd diese Gegenwart, die unser Leben so sehr liebt? «An einem Ort der wahren Freundschaft», sagte Don Giussani. «Die Gegenwart Christi ist innerhalb eines Zeichens, ist in einem Zeichen verborgen. Man stellt sich Christus nicht, wenn man sich nicht diesem Zeichen stellt. Wir alle sind eins: die Wahrheit ist die Gegenwart Christi, dem man an einem Ort begegnen kann, an dem eine wahre Freundschaft lebt». Als Möglichkeit, um Christus wahrhaft zu erkennen, eröffnet sich uns die Teilnahme an einem Ort, an dem Er uns ständig berührt, uns ergreift, an dem Er es nicht zulässt, auf eine Ethik oder einen Moralismus verkürzt zu werden. «Die Moralität - sagte Don Giussani - ist etwas Lebendiges, etwas an dem man teilhaben kann. Für die ersten Jünger bestand die Moral darin, Ihm zu folgen». Zu folgen, dem zu folgen, was inmitten der Hölle nicht zu Hölle gehört: darin besteht die Moralität, darin besteht die Liebe zu uns selbst. «Zu folgen bedeutet nicht, einen Diskurs zu verinnerlichen, sondern existenziell eine Haltung zu lernen, und zwar sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber denjenigen, die uns begegnen». Daher gilt in unserer Freundschaft als große Regel, diejenigen Personen zu suchen, die uns hier einführen, die uns dies mehr wahrnehmen lassen. So schreibt der heilige Augustinus: «Was tröstet uns in diesem menschlichen Zusammenleben, das so reich an Fehlern und Leid ist, wenn nicht ein gewisser Glaube, eine wahre Liebe und gute Freunde?»24

4. Die Verifikation des Glaubens
Ein Glaube, der gewiss ist, der an einem Ort der Freundschaft lebt. In all dem, was uns begegnet, in all dem, was uns im Leben passiert, verifizieren wir den Glauben. Eine von euch schreibt: «Oftmals herrscht unter uns die Angst, das, was wahr ist, auf die Probe zu stellen. Wir haben Angst, weil wir letzten Endes glauben, selbst die Wahrheit hervorzubringen, von einer Wirklichkeit sprechen, die wir selbst hervorbringen. Ich dagegen habe Menschen gesehen, die wirklich frei sind, die ihr Leben vor einem Faktum leben, das sie ergreift und die daher auch mich, ohne jedes Schema betrachten». Wir müssen keine Angst haben, das, was wir in unserer Beziehung zur Wirklichkeit getroffen haben, zu verspielen, denn nur wenn wir es einsetzen, können wir das, was uns geschehen ist, bis auf den Grund anschauen, wahrhaft Gewissheit erlangen. Der Weg zur Wahrheit ist eine Erfahrung, die wir in der Beziehung zu allem machen.
Seht, was eine Freundin von uns, die in einer wirklich fürchterlichen Stadt wohnt, aus der Mission schreibt: «Als ich durch die Trostlosigkeit, die Gewalt und Hässlichkeit, die schon zur tagtäglichen Begleitung geworden sind, ging, habe ich einen Augenblick lang gedacht: Aber ist es nicht naiv zu sagen, dass die wahre Wirklichkeit nicht in dieser so erdrückenden Erscheinungswelt liegt?» Darin liegt die Herausforderung: Sind wir Visionäre oder ist es tatsächlich die Wirklichkeit, die nicht auf diese Hässlichkeit reduziert werden kann? Das, was wir leben, überprüft fortwährend, ob das, was wir erlangt haben, tatsächlich eine Erkenntnis ist. «Zusammen mit dieser Frage», fährt der Brief fort, «hat sich mir ein «Nein» aufgedrängt, weil ich Dir die Male aufzählen könnte, in denen ich - indem ich dem auf den Grund gegangen bin, was vor mir war - mit Staunen bemerkt habe, dass meinem Herz nichts zum Leben fehlt und dass Jesus sich in jedem Augenblick als der Herr über alles zeigen kann. So habe ich durch die Herausforderung der Tatsachen neu bemerkt, dass mein einziges Werk darin besteht, mit meinem Ja an dem großen Ja Gottes zu meiner Menschlichkeit und zu der, der ich jeden Tag begegne, teilzuhaben, so wie sie ist. Er braucht ein Nichts wie mich, das Ihn anerkennt, Ihn bevorzugt und Ihn liebt. Meine Verantwortlichkeit besteht darin, in jedem Augenblick meine Freiheit daraufhin zu öffnen, dass Er auf geheimnisvolle aber tatsächlich siegreiche Weise schon da ist, auf Sein Werk, das mich und die Wirklichkeit bereits verändert. Und so erblüht alles. Mit Sicherheit liegt darin ein Opfer, aber dieser Aspekt dominiert nicht, sondern inmitten der Hässlichkeit überwiegt die Erfahrung der Fülle [das ist der Punkt: keine Hässlichkeit kann eine wahre Erkenntnis, sobald man sie einmal erlangt hat, besiegen], überwiegt die Gewissheit einer Liebe, die mich in jedem Augenblick begleitet und daher alles verlangen kann. So kann auch ich einmal mehr und mit größerer Wahrheit sagen, dass die Wirklichkeit auf jungfräuliche Weise zu lieben wahrhaft der Beginn des Paradieses hier auf Erden ist».
Und das schreibt auch eine andere Freundin von uns, die bemerkt, wie in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit deutlich wird, wer Jesus ist: «Zur Zeit funktionieren viele Dinge nicht so, wie ich es mir gedacht habe, aber sie fordern mich heraus, den Blick auf das zu richten, was mir schon geschehen ist, auf diesen Felsen, der da ist. Ich sage das und sehe die Bevorzugung Christi für mein Leben, nicht aufgrund von Unterweisung oder mystischer Erhellung, sondern weil ich mit meinen Augen, fleischlich und konkret, wenngleich geheimnisvoll, das Erblühen von etwas Gutem gesehen habe [darum sind wir keine Visionäre: Christus ist eine so reale Gegenwart, dass sie das Gute erblühen lässt] und eine Positivität in den mühevollsten Umständen, die es mir ermöglicht hat, auszurufen: Das ist er, der Ruhm Christi, die Wahrheit Christi, die Kraft Christi! Ich habe die Herrlichkeit Christi in der Unbequemlichkeit und Absurdität der Wirklichkeit erblühen sehen. Weil die Herrlichkeit Christi nicht darin besteht, dass sich die Dinge in Wohlgefallen auflösen, nicht darin, dass die Familie perfekt oder wohlhabend ist, nicht darin, dass der Freund immer zur Hand ist, nicht darin, dass die Freunde immer kohärent sind und meinem Projekt über sie entsprechen, sondern dass wenngleich in der Begrenzung, in der Mühe und in der Nichtentsprechung der Wirklichkeit ein Gut erblüht und triumphiert, eine Wiedergeburt, die mich nicht umhin kommen lässt, letztendlich eine Positivität im Leben anzuerkennen. Das ist die Auferstehung, die über alles siegt, sogar über den Tod, der uns scheinbar alles entreißt. Die Herrlichkeit Christi besteht darin, den geheimnisvollen Blick meiner Mutter auf meinen Vater zu sehen, der nach 27 Jahren Ehe weggegangen ist, genauso wie die Umarmung meines Freundes trotz meiner Grenzen, oder die Verfügbarkeit und die Menschlichkeit eines Professors, der mir eine interessante Arbeit vorschlägt. Ich kann nicht länger denken, dass meine Umstände gegen mich und ungünstig sind, weil mich genau durch ihre scheinbare Widersprüchlichkeit Christus jeden Tag sucht».
Was für ein Unterschied besteht zwischen dieser Haltung und dem Bild von Entsprechung, das wir oftmals haben, dem gemäß wir nur dann von Entsprechung reden, wenn die Dinge sich in Wohlgefallen auflösen. Die Entsprechung kommt hingegen von Dem, der unser Herz ergriffen hat, daher kann man sie in einer jeden Situation wieder finden, wie eine Freundin von uns, die an der Universität Cattolica [in Mailand] studiert und nun gerade in Uganda ist: «Ich schreibe aus einem kleinen Dorf in Uganda, wo ich gerade ein Praktikum bei Avsi mache. Hier kann ich bestätigen, dass das Problem nicht darin besteht, was ich mache oder was ich habe, sondern in Dem, der mein Leben erfüllt und mich mehr Frau sein lässt; und dies gilt in der ganzen Welt, die ich gerade als sehr groß und in Erwartung auf Ihn erfahre. Beispielhaft dafür ist mein zweimal wöchentlicher Besuch bei Aidskranken, die sich im Endstadium ihrer Krankheit befinden, die ich in ihren dreckigen und stickenden Hütten besuche, um ihnen Medizin zu bringen (da sie nicht mehr ins Krankenhaus kommen können) und um mit ihnen einen Teil ihrer Zeit und ihres Leids zu teilen. Zu glauben, dass zwei Tabletten und ein Gruß ausreichten, um sie glücklich zu machen, wäre Anmaßung und Lüge; ich würde bei der Freude, die in ihren Gesichtern leuchtet, wenn ich dort bin, ihrem ständigen Danke Sagen, ihrem Wunsch, mir unbedingt etwas vor meiner Abreise zu schenken, stehen bleiben. Aber woher kommt diese Freude? Jeden Tag entdecke ich immer mehr, dass sie von der Begegnung mit dem Herrn kommt, der sich eines Nichts wie mir bedient, um sie zu besuchen und ihnen die Wärme Seiner Umarmung zu bringen. Diese Kranken haben wirklich nichts: sie haben kein Geld, keine Gesundheit, kein Essen, kein anständiges Haus, und doch verändert sich ihr Gesicht sobald du bei ihnen eintrittst. Ihr Gesicht ändert sich aufgrund einer Liebe, die sie auf sich spüren. Und genau deshalb überhäufen sie mich mit Geschenken, für die sie alles, was sie haben, hingeben. Dies macht mich immer sprachlos. Ich ahne, dass man tatsächlich alles haben kann, aber wenn man Christus nicht hat, wenn man Seine Umarmung nicht spürt, dann genügt einem nichts; wenn einer dagegen wenig hat, aber Ihm begegnet, wird das Leben schöner, menschlicher und voller Luft zum Atmen». Und das schreibt eine, die sich in einer solchen Situation befindet.
«Aber wer bist Du, oh Christus, dass wenn Du fehlst nichts mehr Geschmack hat?» Je mehr das Leben zum Leben wird, desto stärker tut sich mir diese Frage jeden Tag im Herzen auf und ich will nicht aufhören sie zu vertiefen. Dies fordert den Weg der Erkenntnis immer wieder heraus, lässt uns auf dem Weg nie innehalten, weil wir immer noch am Anfang der wahren Erkenntnis Christi stehen. Wie konnte sich dieses Mädchen vor ihrer Reise nach Uganda vorstellen, dass Christus auch diesen Ort verändern könnte?
Diese Tatsachen machen den Glauben vernünftig. «Das Gedächtnis», schreibt Don Giussani, «setzt sich aus Tatsachen zusammen. Im Unterschied zum Zeichen setzt sich das Gedächtnis aus Tatsachen zusammen, aus Bausteinen, die im Augenblick selbst zusammengesetzt werden. Die Gegenwart ist das Ergebnis vieler Tatsachen, die sich ereignet haben», die wir in uns vorfinden, die wir jetzt vor unseren Augen haben. Wie erklären wir dies? Diese Tatsachen stellen die wahre Herausforderung für unsere Vernunft dar. Es sind Tatsachen, «die mit dem Herzen gelesen werden, d.h. mit der affektiv eingesetzten Vernunft», also Tatsachen, die uns genauso herausfordern, wie ein Blindgeborener, der auf einmal sehen kann.
Aber warum haben wir so große Mühe, Ihn anzuerkennen? Warum entflieht uns Seine Gegenwart so häufig? Warum werden wir nicht gewiss? Ich lese euch zum Abschluss einen Beitrag von Don Giussani vor. Einem Jungen, der ihm sagte, dass er seit zwei Jahren am Leben der Bewegung teilnehme, ohne jedoch das entdeckt zu haben, «was dahinter steckt» - wie man seinem Beitrag entnehmen kann so deshalb, weil es ihn letzten Endes nicht interessiert - antwortete Don Giussani: «Perfekt! Dies ist die Aufhebung der Hypothese. Du tust so, als würdest du die Hypothese in Betracht ziehen, aber du machst es nicht wirklich. Denn die Hypothese in Betracht zu ziehen bedeutet, sich die notwendigen Hilfsmittel zu besorgen, die Arbeit, die man macht, zu wechseln, oder den Studiengang, oder überhaupt etwas zu ändern. [Aber] was hast du geändert, um zu prüfen? Wenn du nichts änderst dann deshalb, weil du nie vorhattest etwas zu ändern! Du bist gekommen um zu sehen, wie's ist, wie einer, der einmal Karaoke singen geht. Aber einfach zu sehen «wie's ist», ist bestimmt durch einen Haltung der Gleichgültigkeit. Daher ist wahrscheinlich das, was uns trennt [achtet auf das was Giussani hier sagt, es nicht der Glaube, der uns trennt sondern] eine Leidenschaft für das Seiende und für das Leben, für Dinge und Personen, und für das, was jetzt da ist [...]. [Daher] fordere ich auch dich heraus mir zu sagen, ob nicht auch du in deinem Alter verstehen kannst, dass du, du, dich in diesem Augenblick, nicht selbst machst [dass du dir das Leben nicht selbst gibst], all das was du bist, gibst du dir nicht selbst! Nicht einmal einen Funken von dem, was du bist, gibst du dir selbst! Unsere größte Evidenz besteht darin, dass du und ich in diesem Augenblick, in unserem reifen Alter, in dem wir schon bewusst bewusstseiend [...] sind, dass wir uns nicht selbst erschaffen. Wir entstehen aus etwas, dass nicht wir sind. Und was soll ich dem, von dem ich in diesem Augenblick komme sagen? Wenn ich beginne: «Du» zu sagen, dann beginne ich es tatsächlich ernst zu nehmen»25.
Alle Dinge, die wir vor uns sehen, können wir mit dieser Haltung der Gleichgültigkeit leben, wir können sie leben ohne uns, wie einer von euch schreibt, «wahrhaft einzubringen». So aber sehen wir das, was geschieht nicht und sind uns daher auch nicht gewiss; wir können uns aber auch von ihnen berühren lassen. Dies meint Pasolini wenn er schreibt: «Das Auge schaut. Darum ist es wesentlich. Es ist das einzige, das der Schönheit gewahr wird. Die Schönheit kann seltsame Wege begehen, auch solche, die vom Gemeinsinn nicht als solche kodifiziert sind. Die Schönheit sieht man, weil sie lebendig ist, das heißt wirklich. Man müsste vielleicht eher sagen, es sieht mitunter die Schönheit. Denn das hängt davon ab, wo die Schönheit sich enthüllt. Das eigentliche Problem besteht aber darin, Augen zu haben und doch nicht auf das zu schauen, was vor ihr geschieht. Die Augen zu verschließen. Augen zu haben, die nicht mehr sehen, die nicht mehr neugierig sind, die nicht mehr auf ein Ereignis hoffen. Vielleicht weil sie zweifeln, dass es die Schönheit überhaupt gibt. Doch sie durchwandert die Wüste unserer Wege, durchbricht unsere Grenzen und erfüllt unsere Augen mit unendlicher Sehnsucht». Er geht durch unsere Straßen, unsere Augen mit unendlicher Sehnsucht erfüllend. Weil uns auf unseren Wegen Einer begegnet ist, der unsere Augen mit unendlicher Sehnsucht erfüllt, erwarten wir Ihn heute zusammen mit der ganzen Kirche, erwarten wir seine Ankunft sehnsuchtsvoll. Diese unendliche Sehnsucht ist die Zeit des Advents, die uns rufen lässt: «Komm, Herr Jesus!».


9. Dezember 2006 Nachmittag
Versammlung

Ich heiße Matilde und studiere Architektur in Mailand. Gestern Abend hast du gesagt, dass wir unser Herz ernst nehmen und von diesem unseren Zusammensein neu beginnen können. Mit einem einfachen Gestus der Aufrichtigkeit könnten wir beginnen, mit Sympathie auf das Menschliche in uns zu schauen. Du sagtest, ein Augenblick der Sympathie reiche aus, um neu anzufangen. In mir ist diese Frage entstanden: was bringt diesen Akt der Sympathie mir selbst gegenüber hervor? Was ich mich frage ist, ob dieser Akt der Sympathie das Ergebnis einer persönlichen Arbeit ist, die an das, was du «moralische Kraft» nennst gebunden ist, oder ob ich diesen Akt der Sympathie mir selbst gegenüber ausgehend von einem liebevollen Blick eines anderen auf mich lerne.
Julián Carrón. Sich selbst mit Zärtlichkeit anzuschauen sollte das Normalste überhaupt sein. Und doch wie seltsam und ungewöhnlich ist es, jemanden mit Sympathie von der eigenen Menschlichkeit reden zu hören! Gewöhnlich überwiegt die Beschwerde: ich bin so, oder aber so. In der Tat wenn man jemand mit Sympathie vom Menschlichen sprechen hört ist es etwas Außergewöhnliches.
Ich erinnere mich immer an den Satz von Giussani: «Wie menschlich ist meine Menschlichkeit!» Welche Art menschliche Sympathie hatte er für sich selbst, für das, was in ihm vibrierte! Und diese Vibration ist beeindruckend, dieses Herz, das er bereits im Alter von 14 Jahren in sich vibrieren hörte, war so intensiv, dass er Leopardi als Wegbegleiter entdeckt hat. Über welch eine menschliche Intensität verfügte ein Mensch wie Giussani, dass er niemand geringerem als Leopardi einen Wegbegleiter fand! Dies sollte die normale Art sein, in der wir uns selbst anschauen, aber wenn es geschieht, ist es außergewöhnlich. Es ist, als ob wir, um uns so anzuschauen, um uns so zu umarmen, um diesen Augenblick der Zärtlichkeit uns selbst gegenüber haben zu können, einen Anderen bräuchten, der uns mit wahrer Sympathie anschaut und uns hilft. Ich denke immer an den Satz des Propheten Jeremias: «Du hast mich mit ewiger Liebe geliebt, und hast dich meiner Nichtigkeit erbarmt»26. Um zu beginnen, unsere Menschlichkeit ernst zu nehmen, brauchen wir Einen, der unser Ich mit dieser Intensität anschaut, mit dieser Zärtlichkeit, mit dieser Tiefe. Wir alle haben das Bedürfnis, geliebt zu werden, mit dieser totalen Sympathie angeschaut zu werden. Wenn jemand so angeschaut wird, wie Zachäus, dann beginnt alles neu. Viele hatten ihn aufgrund des Bösen, was er tat, getadelt, nur Einer hat ihn angeschaut auf eine so andere Art und Weise, so einzigartig, so mächtig, dass er dadurch verändert wurde27. Also hatte er keine Angst mehr, sich selbst anzuschauen, sich selbst zu umarmen. Wir können uns glücklich schätzen, weil wir uns an einem Ort befinden, an dem unsere Menschlichkeit, unser Nichts, so angeschaut ist und wir daher ständig neu beginnen können, wir befreit sind, und so zu uns selbst werden können.

Ich bin Valentina und studiere Medizin in Mailand. Ich wollte dich fragen, ob du besser erklären kannst, was es bedeutet, dass die Gewissheit in einem Weg besteht, denn ich will jetzt gewiss sein, und weiß aber, dass ich noch nicht am Ende meines Weges bin. Was fügt dieser Weg der Gewissheit hinzu?
Carrón. Die Gewissheit ist ein Urteil und ein Urteil ist nichts Intellektuelles, sondern besteht darin, den Widerhall des Seins zu benennen. Angesichts der Berge sagen wir: «Welch Schönheit!», und sind uns dessen was wir sagen gewiss. Das ist ein Urteil. Wenn wir es mit einer schönen Person zu tun haben, rufen wir aus: «Wie schön ist dieses Mädchen!» Dies ist ein Urteil, wir sind uns gewiss. Wenn wir uns so wie Zachäus angeschaut und geliebt fühlen nehmen wir diesen Widerhall sofort wahr, daher stellt sich eine Gewissheit ein. Je schöner die Berge sind, umso leichter fällt uns diese Gewissheit. Je außergewöhnlicher die Begegnung, umso leichter, dies anzuerkennen. Sobald die Jünger Ihm begegnet waren, haben sie gesagt: «Nie haben wir etwas Ähnliches gesehen».
Die Gewissheit als Urteil vollzieht sich im ersten Augenblick, vollzieht sich jetzt. Wenn du einen Jungen nicht magst, beginnst du keinen Weg mit ihm, wenn du ihn dagegen magst, beginnst du diesen Weg. Nehmen wir an du magst diesen Jungen. Du bist gerne mit ihm zusammen, dir gefällt sein Blick: das ist ein Urteil, darüber hast du eine Gewissheit. Gleichzeitig jedoch muss sich daraus erst noch alles entwickeln. Umso mehr, als dass du, wenn er dir sagen würde: «Valentina, willst du mich heiraten? », davon laufen würdest. Bedeutet dies vielleicht, dass du ihn nicht magst? Nein! Ihr tut euch schwer damit, diesen Punkt zu verstehen: dass du ihn magst ist ein Urteil, du bist dir gewiss, ihn zu mögen; aber diese Gewissheit muss sich erst noch weiter entwickeln, und sie entwickelt sich durch einen Weg. So bestätigt sich diese anfängliche Gewissheit und wächst. Wie für die Apostel. Darum wiederholt das Evangelium so oft (und uns erscheint dies als Widerspruch): «Und sie glaubten an Ihn». Hatten sie etwa noch nicht an Ihn geglaubt? Doch, aber die Gewissheit, das anfängliche Urteil, muss ein um das andere Mal eine Bestätigung erfahren. Die Gewissheit enthält demzufolge sowohl den Anfang als auch den Weg. Die beiden stehen in keinen Widerspruch zueinander. Das gilt um so mehr, dass wenn sich dieser Anfang nicht ereignet, wenn du diesen Jungen nicht magst, du dich nicht danach sehnst, diesen Weg zu gehen. Aber ohne diesen Weg wächst die Gewissheit nicht, reift nicht soweit, dass du ganz auf diese Beziehung setzen kannst. Oftmals erkennen wir, dass wir eine Begegnung gemacht haben, und dass diese Begegnung wahr und schön ist, dass sie etwas Neues ins Leben einführt, aber wir gehen diesen Weg der Gewissheit nicht weiter; und sobald die Dinge nicht mehr funktionieren, beginnen wir zu zweifeln: «Aber war diese Begegnung wahr?» Darum brauchen wir einen Weg, der den anfänglichen Eindruck immer wieder bestätigt, ihn mit - wie Don Giussani sagt - existenziellem Gewicht anreichert. Wir müssen die Dinge nicht in Widerspruch zueinander setzen. Du hast jetzt die Gewissheit, hier zu sein, und in der Tat bist du gekommen. Daher bist du dir gewiss, hast alle notwendige Gewissheit. Aber gleichzeitig sehnst du dich danach, dass diese Gewissheit immer tiefer werde. Und das ereignet sich jetzt in dir.

Ich heiße Marisa und studiere Italianistik in Florenz. Ich würde gerne diese Beobachtung wiedergeben: heute morgen habe ich von der Vernünftigkeit des Glaubens reden hören, aber für mich sind Glaube und Vernunft zwei absolut verschiedene Dinge, sie gehören zu zwei völlig verschiedenen Bereichen. Und dann denke ich auch, dass der Glaube nicht nur etwas absolut anderes als die Vernunft ist, sondern, so wie ich das sehe, auch etwas absolut Subjektives ist, das man nicht vereinheitlichen kann.
Carrón. Moment. Beginnen wir von vorne. Die ganze Schwierigkeit liegt in der Schwierigkeit, den Ausgangspunkt im Blick zu behalten, der in der eigenen Erfahrung liegt. Anstatt von der Erfahrung auszugehen, in der alle Faktoren vereint sind, trennt ihr diese und versucht sie dann wieder mühsam zusammenzubringen, ohne zu wissen wie.
Gehen wir von der Erfahrung aus. Als ich noch Lehrer war, habe ich einmal meine Schüler in das Planetarium in Madrid mitgenommen, um den Sternenhimmel zu sehen. Zurück in der Schule - zufälligerweise war unmittelbar danach Religionsunterricht - habe ich die Stunde mit der Frage begonnen: «Was hat euch an dem, was ihr gesehen habt, beeindruckt?» Und sofort haben sie die Tafel mit Fragen gefüllt in der Art: «Wer hat dies alles gemacht?», «Was ist der Sinn all dessen?», «Wer ist der Herr darüber?» Die Wirklichkeit hatte ihre Vernunft viel mehr als ich gedacht hätte herausgefordert. Keiner von ihnen hat Fragen gestellt wie: «Wie viele Sterne gibt es?», oder ähnliche. Die Vernunft hat sich in ihnen als Bedürfnis gezeigt, das mit der Gesamtheit zu tun hat: «Wer hat dies alles gemacht?» Wie hättest du auf diese Fragen geantwortet?

Ich denke, dass Glaube und Vernunft zwei verschiedene Dinge sind, weil beispielsweise angesichts der Frage: «Warum existiert die Welt?», «Wie sind wir in diese Welt gekommen?» die Vernunft die wissenschaftliche Antwort gibt und daher sagt: «Alles hat beim Big Bang begonnen», während der Glaube dich überlegen und sagen lässt: «Aber es ist unmöglich, dass alles so begonnen hat: es muss etwas Größeres dahinter geben». Für mich sind dies zwei getrennte Dinge.
Carrón. Das genau ist der Punkt: wir haben ein Verständnis von Vernunft demgemäss wir mit dem Gebrauch «dieser» Vernunft bis zu einem gewissen Punkt kommen und uns danach an den Glauben «klammern». Ich mache dir ein anderes Beispiel. Hat das Verhalten deiner Mutter dir gegenüber eine Bedeutung? Und welche Bedeutung hat es?

Auf jeden Fall hat es eine Bedeutung.
Carrón. Liebt dich deine Mutter?
Ja.
Carrón. Nun: ist die Aussage, dass deine Mutter dich liebt, ein Akt der Vernunft?

Nein, in der Tat nicht.
Carrón. Seht, darin besteht die Schwierigkeit! Dagegen bist du gerade durch den Gebrauch der Vernunft - einer Vernunft, die nicht auf die wissenschaftliche Methode verkürzt ist - dazu genötigt zu sagen, oder zumindest genötigt, nicht leugnen zu können, dass deine Mutter dich liebt. Deine Vernunft nötigt dich anzuerkennen, dass deine Mutter dich liebt. Ist es vernünftig für dich dies zu sagen oder nicht?

Ja, es ist vernünftig.
Carrón. Also handelt es sich nicht um zwei verschiedene Dinge. Aber es ist notwenig, dass du dem gegenüber aufrichtig bist, dich dieser Evidenz gegenüber öffnest: ohne die Annahme ihrer Liebe gäbe es keine Erklärung für Verhalten deiner Mutter dir gegenüber. Dies ist ein Beispiel dafür, wie unsere Vernunft durch das, was geschieht, herausgefordert ist, etwas Größeres anzuerkennen. Sonst wärest du gezwungen zu sagen, dass es einerseits ein Verhalten deiner Mutter gibt, das du wissenschaftlich analysieren kannst, und andererseits zur Visionärin wirst, sobald du sagst, dass deine Mutter dich liebt. Entspricht das etwa deiner Erfahrung?
Nein, aber es war eben ein Gedanke, den ich immer hatte...
Carrón. Genau, weil du nicht von der Erfahrung ausgehst. Also, wenn du nun behauptest, dass deine Mutter dich liebt, sagst du dann etwas rein Subjektives oder bist du dir gewiss?
Ich bin mir gewiss.
Carrón. Das heißt, diese Behauptung, die du aufstellst ist zwar persönlich, aber objektiv. Oder?
Stimmt.
Carrón. Danke. In der Wirklichkeit, in der Erfahrung erscheinen alle Dinge vereint. Daher kann unser Ausgangspunkt kein anderer sein, als auf diese Erfahrung zu schauen. Was die Wirklichkeit ist, was die Vernunft ist, dies alles wird in der Erfahrung durchsichtig. Und dort, in der Erfahrung lernen wir, dass die Wirklichkeit viel größer ist, viel geheimnisvoller, als das, was wir uns vorstellen, und dass die Vernunft genau deshalb, weil sie Bedürfnis nach Totalität ist, weil sie Bedürfnis danach ist, die Wirklichkeit in der Gesamtheit ihrer Faktoren zu verstehen, genötigt ist - wenn sie ihrer Sehnsucht nachgeht - sich dem Geheimnis zu öffnen. Sonst sind wir weder der Wirklichkeit noch der Vernunft gegenüber aufrichtig. Genau wie ich heute Morgen gesagt habe, weil wir nicht daran gewöhnt sind, zu denken. Es bedarf einer Aufrichtigkeit gegenüber der Modalität, in der uns die Wirklichkeit berührt und uns öffnet, um dann unsere Vorstellungen von Vernunft oder Wirklichkeit der gemachten Erfahrung unterzuordnen.

Ich heiße Marta und studiere an der Technischen Universität in Mailand. Wenn du von Außergewöhnlichkeit sprichst, verstehe ich das gut. Aber wie kommt man von dieser Außergewöhnlichkeit dazu zu sagen: «Dies ist Jesus»? Warum ausgerechnet Er? Es scheint fast so als würde man sagen: «Das ist Jesus», aber nur weil etwas außergewöhnlich ist und wir nicht genau wissen, was es ist. Dagegen verwendest du diesen Namen mit einer Bedeutung: du sagst mit Gewissheit, dass Er es ist und erkennst an, dass Er in dieser bestimmten Wirklichkeit am Werk ist. Wie kann man sagen, dass Er es ist?
Carrón. Ausgehend von der Außergewöhnlichkeit. Es ist wieder das gleiche. Schauen wir auf die Erfahrung, die wir machen. Diese Freundin, deren Brief wir heute Morgen gelesen haben, hat sich vor etwas Außergewöhnliches gestellt gesehen, das in ihr alles aufgewühlt hat und daher hat sie einen Weg begonnen. Am Anfang hat sie diese Außergewöhnlichkeit überrascht und sie wusste nicht warum, aber sie hat nicht gesagt: «Es ist Christus»; sondern sie hat einen Weg begonnen. Wenn jemand wirklich den Weg der Vernunft beschreitet, und versucht, das, was sich ereignet, zu verstehen, wenn man zumindest versucht, sich diese sichtbare Außergewöhnlichkeit irgendwie zu erklären. Es ist notwendig diesen Weg der Vernunft einzuschlagen. Das gleiche gilt für dich. Sag nicht sofort «Christus», sondern versuche die Gründe für das, was du siehst du finden. Wie der Mutter gegenüber: warum behandelt sie dich so? Etwa damit du dich, wenn sie einmal alt ist, um sie kümmerst? Ist das eine hinreichende Erklärung für all die Dinge, die sie für dich tut? Versucht euch das, was ihr seht, zu erklären, gebt eine Erklärung, versucht es zumindest, sagt nicht sofort «Christus», indem ihr ihn ohne Gründe der Wirklichkeit überstülpt. Sondern versucht, für das, was euch geschieht, eine Erklärung zu geben.
Das erste, was den Jüngern angesichts der Außergewöhnlichkeit, die sie sahen und die in ihnen die Frage wachgerufen hatte: «Aber wer ist er?», «Was ist diese Außergewöhnlichkeit?», ihrer Geschichte gemäß in den Sinn kam, war: das ist ein Prophet! Die naheliegendste Antwort, für das was sie mit ihren Augen sahen war etwas, von was sie schon reden gehört hatten: die Propheten. Aber sofort wurden sie sich bewusst: «Dieser Mann ist mehr als ein Prophet, er ist viel mehr als das, was wir über unsere Propheten gehört haben, viel mehr als das, was uns über sie erzählt wurde». Diese Außergewöhnlichkeit fand keine Erklärung in dem was sie sagten, diese Antwort reichte nicht aus, befriedigte ihre Frage nicht und nötigte sie, weiter zu gehen.
Wenn sich einer nicht auf diese Abenteuer einlässt, die Schritte überspringt und sofort: «Christus» sagt, tut er das genauso, wie ein anderer «Nichts» sagen könnte. Wenn einer hingegen wie die Jünger darin einwilligt, mit seiner ganzen Vernunft an diesem Abenteuer teilzunehmen, dann findet er sich am Ende in der gleichen Situation wie sie, nämlich sagen zu müssen: «Wenn wir weg von dir gehen, wohin gehen wir dann?»28 Sie standen vor einer absolut außergewöhnlichen Sache, die sich ihren Augen aufdrängte, und wussten auf die Frage, die in ihnen entstand keine angemessene Antwort: «Aber wer ist der?!» sie suchten eine Antwort und Jesus ersparte ihnen diesen Weg nicht. In der Tat, als Jesus anfängt, Antworten zu geben, so geschieht es, wie Don Giussani beschreibt, weil sich in ihnen schon geklärt hatte, dass «Wenn wir diesem Mann nicht trauen, dann können wir nicht einmal mehr unseren Augen trauen». Es ist als würdest du sagen: «Wenn ich nach so vielen Zeichen nicht an die Liebe meiner Mutter glaube, dann kann ich nicht einmal meinen eigenen Augen mehr trauen». Und als Jesus ihnen sagt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben», waren sie schon so erfüllt von dieser Außergewöhnlichkeit, dass sie das, was er von sich sagte, nicht in Zweifel zu ziehen konnten, es wäre einfach nicht vernünftig gewesen. Wie wenn einer angesichts einer Lawine an Zeichen von der geliebten Person, die sich Tag um Tag angehäuft haben, irgendwann sagt: «Willst du mich heiraten?» Warum sagst du nun, dass diese Person dich liebt? Bist du dir gewiss, dass sie dich liebt? Ist das vernünftig? Es ist vernünftig aufgrund der Lawine an Zeichen, die vor deinen Augen stehen. Und du hast nicht den geringsten Verdacht angesichts dieser Behauptung, du brauchst nichts anderes: du bist dir gewiss, dass sie dich liebt.
Aber man gelangt nicht im Laufe eines Tages zu dieser Erkenntnis. Es bedarf eines Weges. Wenn es daher zur expliziten Erklärung Jesu kommt, bin ich bereits so reich an Gründen, dass es das Unvernünftigste überhaupt wäre, das, was dieser Mann über sich aussagt, in Zweifel zu ziehen. Daher erwächst der Glaube, wie Don Giussani sagt, auf dem äußersten Rand, auf der Spitze der Vernunft, erblüht als Blume dieser Lawine an Zeichen, die die Vernunft anerkennt29. Keine andere Antwort, als die, die dieser Mann gegeben hatte, war dieser ganzen Lawine an Zeichen angemessen, die diejenigen gesehen hatten, die sich auf ein Zusammenleben mit ihm eingelassen hatten; keine andere Haltung war vernünftig, als die, das, was dieser Mensch von sich sagte, anzuerkennen.
Außerhalb einer Erfahrung ist es schwierig diese Dinge zu verstehen. So wie es außerhalb der Erfahrung einer Beziehung schwierig ist zu verstehen, dass einer eines Tages dazu kommt zu sagen: «Die Liebe ist die einzige Erklärung für all diese Zeichen». Man muss sie erfahren. Ich verstehe, dass einer, der diese Erfahrung nicht macht, «Christus» sagen kann, wie etwas Aufgesetztes, als ob wir der Wirklichkeit einen Hut überstülpen. Oftmals leben wir so, aber wir wissen sehr gut, dass es etwas ganz anderes ist, wenn wir uns einlassen, uns einbringen in einen wahren Weg. Daher ist es nicht das gleiche, ob wir einfach nur in der Gemeinschaft sind, um unseren Platz anzuwärmen, oder aber um uns auf dieses Zusammenleben einzulassen. Es ist nicht das gleiche. Wenn es daher soweit kommt, hat man bereits alle Gründe, alle Fakten und ein anderer nicht. Wenn wir uns nicht auf diesen Weg einlassen, erscheint alles aufgesetzt. Hingegen wenn wir eine Erfahrung machen, kommt genau aus ihr heraus diese Evidenz, die es uns erlaubt und erleichtert, Ihn anzuerkennen.

Ich bin Linda und studiere ebenfalls an der Technischen Universität in Mailand. Heute Morgen hast du von der Verifizierung des Glaubens gesprochen und hast dabei gesagt, dass die Entsprechung nicht nur das betrifft, was uns gefällt. Ich wollte verstehen: wie kann dir etwas, das dir nicht gefällt, entsprechen?
Carrón. Oftmals verwenden wir das Wort Entsprechung wie eine leere Schachtel, in die ein jeder seine Idee hineinlegen kann. Daraufhin entstehen dann die Widersprüche. Die Entsprechung, liebe Freunde, fällt nicht mit dem zusammen, was uns gefällt: sondern die Entsprechung antwortet auf das Bedürfnis nach Gesamtheit, nach Wahrheit, auf das Bedürfnis nach dem Unendlichen. Was meinen wir wenn wir Entsprechung sagen? Welche Art von Entsprechung haben die Jünger erfahren, so dass diese nicht einmal durch die schlimmsten Ereignisse in Zweifel gezogen werden konnte? Diese Dinge versteht man nicht mit den Begriffen der Logik, durch Überlegungen. Man lernt sie nur, indem man sie lebt. Ich habe begonnen sie zu verstehen, als ich, in einem schwierigen Moment meines Lebens gemäß einer bestimmten Sicht der Dinge alle Gründe dafür hatte, traurig zu sein. Aber mit großem Staunen entdecken konnte, dass ich glücklich war. Ich war nicht über diese schlimmen Dinge glücklich, sondern weil ich etwas Großes getroffen hatte und lebte: es war die Beziehung zu Christus, die mich glücklich machte. Ich habe entdeckt, dass nicht einmal die schlimmste Sache in der Lage war, mich anzugreifen, diese Erfahrung der Fülle, die ich in mir vorfand zu berühren. Dies ist die christliche Erfahrung. Diesen Sommer hat mir ein holländischer Freund mit apokalyptischen Bildern die Entwicklung seines Landes beschrieben und hat mich dann gefragt: «Wie ist es möglich, dort glücklich zu sein? Wie kann man das Christentum dort leben?» Aber es hat gereicht ihm eine Gegenfrage zu stellen: «Aber kannst du dich in dieser schlimmen Situation noch verlieben? Kann diese ganze Hässlichkeit verhindern, dass du dich verliebst und dass dich dieses Ereignis mit einer Freude erfüllt, die durch nichts in Zweifel gezogen werden kann? Kann dies geschehen oder nicht?» Ist es möglich, dass die Jünger an dem Tag, an dem sie Jesus begegnet waren, froh nach Hause zurückgekehrt sind, egal wie die Situation zuvor bei ihnen ausgesehen hatte? Und ist es möglich, dass Zachäus, von dem alle schlecht redeten, an dem Tag, an dem er sich von Jesus angeschaut gefühlt hat, voller Freude nach Hause gegangen ist, um ihn zu empfangen («Zachäus, steig eilends herab, ich will heute dein Gast sein»)30? Ist es möglich, dass Paulus der Gemeinschaft in Korinth, einer Stadt mit allen möglichen Problemen, die wir kennen und uns vorstellen können, gesagt hat: «Denn das Zeugnis über Christus wurde bei euch gefestigt, sodass euch keine Gnadengabe fehlt, während ihr auf die Offenbarung Jesu Christi, unseres Herrn, wartet»31. War der heilige Paulus vielleicht ein Visionär? Musste er vielleicht erst einmal das römische Reich in Ordnung bringen, um froh sein zu können? Das Christentum ist genau diese Neuheit, die Jesus in das Leben hineinbringt, wie ein Same, an dem wir teilhaben. Und wir, fast ungläubig angesichts dessen, was unsere Augen sehen, müssen anerkennen, dass es so ist: Wir sind von dieser Gegenwart, die unser Herz erfüllt, ergriffen.
Das Christentum ist dieses Faktum, dass durch nichts aufgehalten werden kann (wie die ganze Dunkelheit, die ganze Macht, all das Böse, die Sünde nicht die Schönheit der Berge verhindern kann, oder dass sie dem, der sie sieht, gefallen). Das Christentum heißt Einer, der inmitten des Haufens an Problemen der Welt, eine Positivität ohne gleichen eingeführt hat. Diese Positivität entspricht der Erwartung des Herzens so sehr, dass die Jünger Ihn am nächsten Tag aufsuchten, und am Tag darauf nochmals, weil sie dies nicht verlieren wollten. Sie waren keine Visionäre. Wenn es sich nicht wirklich so verhalten hätte, hätte sich keiner von ihnen bewegt. Hingegen war diese Entsprechung so offensichtlich, dass sie sich dafür in Bewegung gesetzt haben. Und ihr, warum seid ihr hier? Ein jeder, auch wenn er anders über den Glauben, die Vernunft, etc. gedacht hatte, ist hier, weil er eine Vorahnung des Wahren hatte, die ihn nicht mehr loslässt. Ein Faktum: das ist das Christentum. Nicht eine Überlegung, sondern ein Faktum, das von uns Besitz ergreift und unser Leben mehr bestimmt, als alles andere, das uns inmitten von allen Problemen entspricht: dies entspricht uns, nicht der ganze Rest. Das, was uns entspricht ist diese Positivität, die Christus eingeführt hat. Und warum sagen wir, dass es Christus ist? Zachäus war von den Pharisäern nie so angeschaut worden, oder von irgendjemand anderem. Der, der ihn angeschaut hatte, hatte einen ganz bestimmten Namen: Jesus von Nazareth! Auch für uns ist dies das gleiche: dieser Blick, diese Positivität, haben wir in bestimmten Beziehungen erlebt, an einem bestimmten Ort, nicht überall, nicht mit allen Personen unserer Stadt. Wenn es nicht so wäre, wäre keiner von uns nun hier. Unterwerfen wir daher die Vernunft der Erfahrung: wir finden uns vor eine Positivität gestellt, die uns ergriffen hat, die in uns Platz genommen hat und die an die christliche Gemeinschaft gebunden ist: diese Positivität ist mächtiger, entspricht uns mehr, bestimmt uns mehr, als alle Hässlichkeit.

Ich heiße Chiara und studiere Erziehungswissenschaften in Mailand. Ich bemerke, dass sich in meinem Alltag das vollzieht, von dem du in der Lektion gesprochen hast: ich gehe von einer Abwesenheit aus. Ich wollte fragen, was bedeutet es, sich aufgrund eines Faktums, das jetzt gegenwärtig ist, in Bewegung zu setzen? Inwiefern ist diese Gewissheit nicht einfach nur ein Trost für eine Wirklichkeit, die uns anekelt, in der aber eben zumindest Christus siegt?
Carrón. Warum setzt du dich in Bewegung, wenn dich, wie du sagst, die Wirklichkeit «anekelt»? Wenn du dich in Bewegung setzt, dann für etwas, das dich anzieht! Wenn ich sage, dass der Glaube eine Erkenntnis ist, meine ich dies. Wir hingegen verkürzen das Christentum auf eine Ethik, weil wir die Wirklichkeit so wie alle anderen anschauen, - wir sagen wie sie, die Wirklichkeit «ekelt uns an», und stülpen dann Christus wie einen Hut darüber. Darin sind wir einerseits Rationalisten (weil wir die Wirklichkeit wie alle betrachten) und gleichzeitig frömmlerisch: so zeigt sich, dass der Glaube für uns keine Erkenntnis ist. Wenn ich von der Positivität Seiner Gegenwart ergriffen bin, dann kann ich mit Blick auf die Wirklichkeit nicht sagen: «Sie ekelt mich an». Wenn wir in der Tat die Wirklichkeit gemäß all ihrer Faktoren betrachten, dann können wir das Faktum, dass Er darin gegenwärtig ist, dass sich in dieser Wirklichkeit die Auferstehung Christi ereignet hat, nicht daraus streichen. Uns allen fällt sofort auf, wenn auf einer Landkarte Amerika fehlt. Aber wir fahren ruhig fort auf verschiedene Art zu sagen: «Die Wirklichkeit ekelt uns an», auch wenn sich gewisse Dinge ereignet haben, die zeigen, dass es nicht so ist. Die Positivität, die in unser Leben gekommen ist, hat sich uns in einem bestimmten Moment der Geschichte gezeigt, wir haben es in einem bestimmten Moment erkannt - so wie Christopher Kolumbus, der Amerika zu einem gewissen Zeitpunkt in der Geschichte entdeckt hat. Aber handelt es sich bei uns um eine wirkliche Erkenntnis, um eine wahre Erkenntnis? Wenn wir die Wirklichkeit nicht in ihrer Gesamtheit betrachten, das, was sich ereignet hat, nicht berücksichtigen und daher so wie alle urteilen, wird der Glaube, unsere Verwendung des Worts «Glaube», zur bloßen «Ethik», zu einem ethischen Versuch, den wir anstellen, um die «ekelhafte» Wirklichkeit zu ertragen. Dies geschieht, weil wir das, was sich ereignet hat nicht in unser Leben eintreten lassen. Man ist mitten in dieser Hässlichkeit: «Aber ist das alles?», frage ich. Wenn du sagst: «Die Wirklichkeit ist dunkel», fordere ich dich heraus und sage dir: «Schau!», wie ich es gestern gesagt habe, als wir über die Verwirrung gesprochen haben: «Schaut bis auf den Grund und ihr müsst anerkennen, dass auch in dieser Verwirrung das Bedürfnis unseres Herzens zum Vorschein kommt!» So sage ich dir jetzt: «Schau das ganze Dunkel an, all die Hässlichkeit und sag mir: «Ist das was du siehst nur dunkel? Ist das alles?»» Ich habe noch niemanden gefunden, der den Mut gehabt hat mir zu sagen: «Alles ist dunkel». Warum also sagen wir dies weiterhin? Weil wir die Vernunft nicht gebrauchen, weil wir diese Arbeit nicht machen. So haben wir Angst, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. Ich dagegen will «wissen» - daher stellt der Glaube für mich eine Erkenntnis dar - ob die Wirklichkeit nur dunkel ist oder nicht! Ich will keinen Trost, das interessiert mich nicht. Ich will wissen, ob die Wirklichkeit nur dunkel ist, oder ob es etwas anderes gibt, das sich ereignet hat und sich meinen Augen, meiner Vernunft aufgedrängt hat, so dass ich nicht mehr wie zuvor sagen kann: «Die Wirklichkeit ist dunkel». Ich will dies wissen. Daher gehen Glaube und Vernunft einher: wenn sich nichts Wirkliches ereignet und sich unserer Vernunft aufgedrängt hätte, dann wäre es nicht vernünftig, diese Positivität zu behaupten. Aber wenn wir diese Arbeit nicht beginnen, wenn die Erfahrung der Vernünftigkeit fehlt, dann fliegt alles in die Luft, sobald nur das Geringste geschieht.

Ich heiße Baptiste, bin französischer Student an der Universität Bocconi in Mailand. Mich hat der Zusammenhang zwischen «Blick», «Wahrheit» und «Erziehung, die Wahrheit anzuschauen» sehr beeindruckt. Ich bin Franzose, man hat mir immer beigebracht, dass Gott nicht existiert. Hier nun habe ich Personen gesehen, die ihr Leben für Christus leben. Ich sehe den Kontrast zwischen dem, was ich sehe und der Erziehung, die mir zuteil wurde. Ich habe immer für mich selbst gelebt und sehe nun Personen, die für einen anderen leben. Wer kann mir beibringen, diese Wahrheit zu sehen und wie kann ich sie erkennen? Brauche ich jemand, der mir beibringt die Augen zu öffnen?
Carrón. Das, über was wir sprechen kann durch keine Erziehung verhindert werden. Ich erzähle in diesem Zusammenhang immer gerne etwas, das mich sehr beeindruckt hat. Ein Schriftsteller, ebenfalls Franzose, er heißt Olivier Clément, wurde wie du von atheistischen Eltern erzogen. Die erste Erziehung in der Familie war die: «Gott existiert nicht». Aber dies konnte nicht verhindern, dass die Wirklichkeit diesen Jungen weiterhin berührt hat. Im Alter von zehn Jahren stand er mit seinem Vater vor dem Leichnam eines Freundes, der hieß Antoine. «Papa, wo ist Antoine?» Und der Vater, Atheist, antwortet: «Antoine ist nirgendwo, er ist gestorben.» Bei einer anderen Gelegenheit, bei einem Spaziergang mit seinem Vater unter Sternenhimmel, fragt er ihn: «Papa, was ist hinter den Sternen?» «Hinter den Sternen gibt es nichts.» Keine Macht dieser Welt, nicht einmal die Erziehung, die uns zuteil wird, kann die Begegnung mit etwas verhindern, das die Frage wieder erweckt. Keine Macht kann verhindern, dass die Berge schön sind und dass alles neu beginnt. Angesichts des Sternenhimmels, oder der Schönheit der Berge, oder mehr noch angesichts des menschlichen Zeugnisses von einigen, angesichts der Schönheit eines Lebens - wie es für dich war, Baptiste -, entsteht neu die Frage: «Aber woher kommt dieses Leben, das ich sehe?» Also, Mut! Auch für dich ist dies der Beginn eines Weges, du kannst nicht einfach wieder zurück. Du kannst dich entscheiden, ob du das was du gesehen hast, die Schönheit dessen, was du gesehen hast, diese Art, das Leben zu leben, wie du es gesehen hast, ernst nehmen willst oder nicht, und ob du überprüfen willst, ob dir das, was du gesehen hast, mehr entspricht, als das, was sie dir gesagt haben. Das ist ein Punkt, hinter den es kein Zurück mehr gibt: du hast es gesehen! Und das Leben ist nun dramatisch geworden, weil deine ganze Vernunft und deine Freiheit durch das, was du gesehen hast, herausgefordert sind. Das ist der Beginn. Das, was du, so wie wir alle, brauchtest, war ein Zeuge für ein Leben, das du nicht kanntest. Nun hast du es gesehen. Wir warten gespannt darauf, den Weg zu sehen, den du gehen wirst: dies ist die Herausforderung, vor der wir alle stehen. Viele von uns hatten bereits entschieden, dass das Christentum sie nicht interessiere, auch wenn sie davon reden gehört hatten, und alles hat bei dieser Begegnung, die sie gemacht haben, wieder neu begonnen.

Ich bin Agnese von der Universität Statale in Mailand. Meine Frage, auf die du teilweise schon geantwortet hast, betrifft diese Positivität, die man auch in negativen Umständen sehen kann. Mir erscheint es, in der Situation, in der ich mich befinde, etwas wie du es nanntest, Aufgesetztes, das a posteriori kommt, als Trost oder Trostpflästerchen, um zu sagen, dass im Grunde genommen alles gut ist, dass die Umstände nur scheinbar widersprüchlich und negativ sind, während es ein Gutes in allen Dingen gibt.
Carrón. Aber kommst du umhin, Personen vor dir zu haben, die in ihrem Leben diese Positivität als etwas leben, das nicht aufgesetzt ist? Und beneidest du sie nicht um diese Intensität, hast du nicht die Sehnsucht, auch selbst so ein Leben wie sie zu führen? Also, sieh zu, wie du zurechtkommst, setzt dich in Bewegung: es geht um deine Freiheit. Das sage ich nicht, weil du mich nicht interessierst. Sondern ich will dir deutlich machen, dass du nun alle Faktoren des Dramas kennst. Wenn einer, der die liebt, in die von dir beklagte Hässlichkeit und Mühe einbricht, und du dich geliebt und gewollt entdeckst, dann können all deine Gedanken schön und gut sein, aber du musst dich dieser Person, die dich von Herzen liebt, stellen und deine ganze Vernunft, deine Freiheit, deine Zuneigung sind wie nie zuvor herausgefordert: keine Hässlichkeit dieser Welt kann dies verhindern. Und du wirst nicht wollen, dass jemand anders dir dieses Drama abnimmt, du wirst selbst wissen wollen, an diesem Abenteuer in erster Person teilhaben wollen. Dieses Gefühl der Schönheit, dieses Sich-geliebt-wissen, entspricht dir so sehr, ist deiner Sehnsucht so gemäß, dass du es für immer willst und nicht mehr verlieren willst.

Ich bin Marianna und komme aus Neapel. Es wurde von der Vernunft als Öffnung auf alle Dinge; aber wie können wir diese Öffnung der Vernunft beibehalten, ohne sie - sobald die Wirklichkeit bedrängend wird - auf ein Maß zu verkürzen?
Carrón. Dies ist wirklich eine Arbeit, weil wir alle in unseren Sorgen verschlossen bleiben können - der Sorge wegen der Prüfungen, des Studiums, wegen dem, was wir zu tun haben. Wenn wir in all dem, nicht das Fenster öffnen, dann wird unser Leben früher oder später zu unserem Grab. Aber wie könnt ihr euch selbst so anschauen, wie könnt ihr euch selbst ertragen, wenn ihr diesen Blick, von dem wir vorher gesprochen haben, nicht auf euch spürt? Sagt es mir! Ich schaffe es nicht. Das Problem ist nicht, dass das Leben bedrängend wird, dass man Vieles tun muss, dass man von etwas eingenommen ist, dass man sich irrt, dass man traurig ist. Man kann in dem, was einem geschieht, eingeschlossen sein, oder aber etwas anderes geschieht uns, eine Begegnung, die sich in all das, was man tut, hineindrängt und einschleicht und uns zu öffnen und unser Maß zu durchbrechen beginnt. Man muss diesem Anderen Platz machen. Kein Umstand kann verhindern, dass sich etwas ereignet, das mich atmen lässt. Oftmals, wenn wir in den Dingen, die wir leben eingeschlossen sind, geschieht etwas, das uns anders nach Hause gehen lässt, weil wir dem, was in unser Leben eingetreten ist, Raum gegeben haben. Ich sage euch, ohne immer wieder neu den Blick Seiner Gegenwart herein zu lassen, würde auch ich es nicht schaffen. Daher habe ich diesen Blick ständig gesucht. Als ich in Madrid war, sagte ich oftmals zu den anderen: «Aber wie könnt ihr leben, ohne Don Giussani zu lesen?» Ich selbst hatte in der Tat nicht die Gelegenheit, jeden Tag mit ihm Mittagzuessen; über viele Jahre hinweg habe ich ihn einmal pro Jahr gesehen, wie ich immer wieder erzähle, aber diesen Blick, der durch die Begegnung mit ihm in mein Leben eingebrochen ist, konnte ich immer herein lassen, und zwar dort, wo ich war.
Die Jünger konnten am Tag nach der Begegnung mit ihm nicht umhin, sich selbst beim Erwachen mit dieser Gegenwart in den Augen zu entdecken; und dies bestimmte ihren Tag mehr als all das, was sie zu tun hatten. Wenn wir diesen Blick herein lassen, einen Tag auf den anderen, indem wir zusammen sind, indem wir etwas lesen, uns daran erinnern, seine Gegenwart jetzt anzuerkennen - weil Er jetzt hier ist-, wenn wir diesem Blick Raum geben, werden wir nicht durch unser Maß bestimmt sein. Jeder kann dies sehen. Wie bist du gestern hierher gekommen? Hat sich etwas in dem Zusammensein hier ereignet? Wer verbietet dir, wenn du nach Hause gehst, dem Raum zu geben, was dir geschehen ist? All euere Verwirrung konnte nicht verhindern, dass gestern Abend etwas Neues in unser Leben getreten ist, eine frische Luft, ein neuer Atem. Dem Blick Seiner Gegenwart Raum zu geben bedeutet, unser Maß zu durchbrechen: es gibt Jemanden, es gibt ein Ereignis, das dieses Maß fortwährend durchbricht. Und indem wir an diesem Ort bleiben, in dieser Freundschaft unter uns, beginnt das Leben zu atmen, egal wie auch immer die Umstände aussehen. Je vertrauter uns diese Gegenwart wird, genauso wie uns auch die geliebte Person vertrauter wird, umso mehr wird dies zum Ort des Friedens.
Also überwiegt nicht länger das Maß. Aber dies, liebe Freunde, ist eine Arbeit, man kann sie machen oder aber auch nicht, man kann diesen Blick herein lassen oder aber sich ihm gegenüber verschließen und uns von dem, was wir zu tun haben bestimmen lassen. Wir haben für alles Zeit, aber nie für dies, und am Ende leben wir den Alltag ohne Frieden. Aber wir sind nicht dazu verurteilt, wir können beginnen, eine neue Art zu lernen, um in der Wirklichkeit mit dieser Offenheit zu leben.

Ich bin Davide und studiere Medizin in Bologna. Ich bemerke, dass im Zusammenprall mit der Wirklichkeit das, was in mir unmittelbar überwiegt mein Idee ist. Ich habe den Eindruck, schon zu wissen, was ich vor mir habe: ich gehe in die Vorlesung, und weiß schon, wer meine Kommilitonen sind, ich komme zurück in die WG und weiß schon, was ich dort vorfinden werde; bis hin zu Jesus: ich weiß schon wer Jesus ist und kann über ihn reden. Aber das Ergebnis von all dem ist eine Langeweile, weil sobald man schon alles weiß, nichts mehr geschehen kann. Ich bemerke, dass die Haltung eines Verliebten im Vergleich dazu sehr anders ist. Ein Verliebter sieht in all dem Gewöhnlichen etwas absolut Neues: er kommt nach Hause, in das gleiche Haus, sieht die gleichen Dinge, aber alles spricht ihm von ihr und ist daher absolut anders. Gleichzeitig bemerke ich, dass ich mich als Mensch nur in etwas physisch Gegenwärtiges verlieben kann, ich kann mich nicht in etwas Abstraktes verlieben. Du sagtest heute Morgen: Jesus Christus wird in einer Gemeinschaft physisch gegenwärtig. Daher wollte ich dich fragen: wie ist es möglich für mich, mich in Jesus Christus in der Gemeinschaft zu verlieben?

Carrón. Das erste, was wir uns aus dem Kopf schlagen müssen ist, dass wir bereits wissen; weil wir de facto nichts wissen. Neulich hat mir einer von einem Mädchen erzählt, das für sich entdeckt hat, dass die Tatsache, immer nur unvollkommen zu wissen, was sie bis dahin immer als Ärgernis betrachtet hatte, es ihr in Wirklichkeit ermögliche, immer etwas zu lernen. Sie wurde wirklich froh bei dem Gedanken, dass sie auch einmal verheiratet, immer etwas Neues an ihrem Mann entdecken könnte, so dass sie nie sagen könnte: «Ich kenne ihn», wonach nur noch Langeweile übrig bliebe, sondern: «Ich werde ihn immer mehr kennen». Wenn es nicht so wäre, wäre auch das ewige Leben eine einzige Langeweile.
Wir müssen uns in die Tatsche ergeben, dass wir viele Dinge, die wir zu kennen glaubten, nicht kennen. Für mich war es genauso: Das, was mir das Leben gerettet hat, war, dass ich irgendwann, das, was ich zu wissen glaubte, tatsächlich zu lernen begann. Ich hatte bestimmte Dinge studiert, aber ich habe erst dann begonnen sie zu verstehen, als ich sie erfahren habe. Es hat mich sehr beruhigt zu entdecken, dass Don Giussani in der Vorstellung des Religiösen Sinnes das gleiche sagt. Er sagte mehr oder weniger: «Ich hatte diese Dinge im Priesterseminar studiert und habe daraufhin dort auch als Professor unterrichtet, aber ich habe sie erst gelernt, als ich gezwungen war, sie zu begründen, als ich sie im «Kampf» mit meinen Schülern im Gymnasium Berchet begründen musste. Ich habe sie gelernt, als sie in Fleisch und Blut zutage getreten sind». Wir lernen die Dinge nur in der Erfahrung. Dort beginnen wir zu verstehen, dass wir nichts verstanden hatten. Unsere Freundin, die nach Uganda gegangen ist und dort gesehen hat, dass man auch in dieser Situation glücklich sein kann, dachte bereits zu wissen, wer Jesus ist; aber sie hat gesehen, dass sie es noch nicht verstanden hatte, weil sich Jesus dort mit einer viel größeren Kraft gezeigt hat, als sie sich hätte vorstellen können.
Das Leben ist schön, ist ein leidenschaftliches Abenteuer, daher sage ich immer: «Das Beste muss erst noch kommen», weil das, was es noch zu entdecken gilt, das Unendliche ist. Und je mehr wir es entdecken, umso mehr hängen wir uns an Christus. Nichts widerspricht unsrer Erfahrung mehr, als zu sagen, dass wir schon alles wissen. Das Leben ist uns gegeben, damit sich uns enthüllt, wer Christus ist. Und dies geschieht durch alles hindurch: An diesem Ort, an dem wir begleitet sind, an dem Ort dieser Freundschaft, wo Er gegenwärtig wird, aber dann in der Begegnung mit allem. Hier in dieser Gemeinschaft zeigt Er sich so mächtig, dass Er uns dabei hilft, uns in die ganze Wirklichkeit zu stürzen, alles so zu leben, wie es dieses Mädchen lebt, uns ein jedes Mal mehr an Seine Gegenwart klammern, Seiner Gegenwart immer vertrauter zu werden. Und dies können wir nicht alleine schaffen (wie oft haben wir Freunde gesehen, die weggegangen sind, weil sie dachten, dass sie es auch allein schaffen, und dann, Jahre später feststellen müssen, dass dem nicht so ist). Er hat uns Seine Gegenwart an einem Ort kundgemacht. Aber dies geschieht nicht automatisch, sondern erfordert unsere Teilnahme, unsere Freiheit, unsere Arbeit; es ist etwas, das uns andauernd durch das Zeugnis der anderen herausfordert: «Schau, wie dieser lebt, schau welche Erfahrung der Fülle, welche Freiheit er erfährt!» Seine Gegenwart beeindruckt uns, drängt uns, lässt unsere Sehnsucht, Ihn zu kennen, immer größer werden, an einem Ort wie diesem, an dem Er uns Seine Wahrheit zeigt und uns auf die Gesamtheit der Wirklichkeit öffnet.

Ich bin Magdalena aus Wien, ich studiere Medizin. Wir sind in Wien ungefähr zwanzig Studenten, von denen der Großteil die Bewegung erst vor kurzem kennen gelernt hat, d.h. höchstens vor einem Jahr, größtenteils aber vor ein, zwei Monaten. Wir sind noch am Anfang. Unter uns herrscht ein großer Enthusiasmus, aber wir wissen nichts, wir haben nicht die geringste Vorstellung von den Dinge und sind sehr unreif, verstehen oft nicht mal den Text des Seminars der Gemeinschaft. Was da ist, ist die Schönheit des Anfangs, aber gleichzeitig die Schwierigkeit und Unreife. Wir haben diese Frage: was ist das Wichtigste, auf das wir in unserer Situation achten müssen?

Carrón. «Dabei bleiben». Vergangene Woche hat mir eine Freundin, die in Shanghai lebt erzählt, dass sie einen Arbeitskollegen, einen Amerikaner, zum ersten Mal zum Seminar der Gemeinschaft eingeladen haben. Dann irgendwann sieht diese Freundin von uns, dass ein Chinese mit dem Amerikaner spricht und ihm sagt: «Schau, mach dir keine Sorgen, du musst nicht erschrecken, wenn du am Anfang nichts verstehst: Bleibe mit ihnen zusammen und mit der Zeit wirst du alles verstehen. Bleibe dabei, bleib hier, weil man mit ihnen alles versteht.» Jesus hat keine Universität gegründet: er hat die Kirche gegründet, eine Gemeinschaft. Und was ist das wichtigste wozu Er uns eingeladen hat? Zu folgen: «Kommt mit mir». Und mit Ihm lernt man alles, mit Ihm, im Zusammenleben mit Ihm werden wir in die Wirklichkeit eingeführt. Daher ist das erste: «Dabei bleiben», mit unserem ganzen Selbst, mit offenen Augen, indem wir uns mit unserer Vernunft und unserer Freiheit ins Spiel bringen und so zu verstehen versuchen, das heißt nicht einfach wie ein flaches Enzephalogramm, sondern indem wir uns berühren lassen. Mit der Zeit, verändert sich das Leben langsam, Schritt für Schritt. Wenn wir mit unserer ganzen Person dabei sind, dann verändert sich das Leben.

Ich bin Rossella aus Florenz. Die Exerzitien haben mit der Frage nach der Gewissheit begonnen, der Gewissheit über Christus. Mir fällt es zur Zeit besonders leicht, die Außergewöhnlichkeit der Begegnung, die ich gemacht habe, zu sehen, und es ist wahr, dass ich durch das Zusammenleben eine größere Gewissheit über das, was ich gesehen habe, erlangt habe. Gleichzeitig muss ich mir zur Zeit sehr viele Gedanken über meine Zukunft machen und verliere mich dabei in den verschiedensten Hypothesen. Auch heute Morgen ist in mir die Frage entstanden: hat die Gewissheit über Christus etwas mit der Gewissheit über meine Zukunft zu tun, mit gewissen Entscheidungen meines Lebens und dem was mich drängt?

Carrón. Bist du dir der Liebe deiner Mutter gewiss?
Ja.
Carrón. Hat dies mit deiner Zukunft zu tun? Kannst du dir vorstellen, dass sie dich in der Zukunft irgendwann nicht mehr lieben wird?
Nein.
Carrón. Die Gewissheit, die du über Christus hast, betrifft die Zukunft so, wie auch die Gewissheit, die du über deine Mutter hast deine Zukunft betrifft: Du kannst dir keinen Umstand denken, so unerwartet er auch käme, in dem dich deine Mutter nicht mehr liebt. Du denkst nicht einmal daran. Darum ist die Gewissheit über die Gegenwart genau deshalb eine Gewissheit, weil sie die Zukunft betrifft. Danke!


10. Dezember 2006 Morgen
Zusammenfassung
Julián Carrón

Seid ihr euch der Gnade bewusst, die uns bereits heute Morgen ergriffen hat? Um sie zu bemerken, reicht ein Augenblick, in dem man sich bewusst macht, was wir heute Morgen bereits zusammen gelebt haben. Allein durch die Tatsache, hier sein zu dürfen, in dieser konkreten, physischen Wirklichkeit, die aus diesen Gesichtern besteht, ist unsere Menschlichkeit, so wie sie ist, mit ihrer ganzen Sehnsucht, ihrem ganzen Drama bereits umarmt, von einem neuen, intensiven Blick durchdrungen. Bereits als wir die Musik vor Beginn gehört haben, als wir den Angelus gebetet haben, als wir im Psalm gebetet haben: «Deine Huld [deine Gegenwart] besteht für immer und ewig; / deine Treue steht fest im Himmel»32, für dich und für mich. Sind wir uns dessen bewusst? Allein durch die Tatsache, an einem Ort wie diesem sein zu dürfen, hier zuzugehören, allein durch die Tatsache hier zu sein, ist unsere Menschlichkeit ganz umarmt, und zwar trotz und jenseits unseres eigenen Bösen, unserer Probleme, unserem Unverständnis. Aber wer in der Welt hat eine solche Möglichkeit, sein Leben so umarmt zu wissen?
Aber stellt dieser Moment des Gebets gerade eben für uns nur einen frommen, «gottesfürchtigen» Akt dar, oder ist er nicht vielmehr die Bejahung der Wirklichkeit, der intensivsten Wirklichkeit, die wirklicher als all meine Gefühlszustände, als all meine Probleme ist? «Deine Huld besteht für immer und ewig; / deine Treue steht fest im Himmel». Die Kirche erzieht uns schon allein durch diesen Gestus dazu, die Vernunft zu erweitern: «Schau, die Wirklichkeit ist etwas mehr, als all das, was du im Moment fühlst, sie ist mehr, als was dich gerade beunruhigt, sie ist mehr, als das, auf was du dich selbst gewöhnlich verkürzt». Es würde ausreichen, Seine Gegenwart im Blick zu behalten, um uns jeden Augenblick danach zu verzehren, bis ins Mark gerührt zu sein.
Diese Gegenwart hat sich uns Armen zugewandt, wir wurden und werden fortwährend mit dieser Intensität angeschaut. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, verstehen wir das, was wir tun, nicht: Denn nur dies ermöglicht es uns, uns jeden Morgen von Neuem auf den Weg zu machen, und dies ist es - vor allem anderen - was unser Ich in dieser Umarmung ergreift, in der Begleitung durch diese Gegenwart, so dass wir keine Furcht mehr vor uns selbst haben oder davor, den Tag, der vor uns liegt anzuschauen. Mit diesem Blick können wir den Weg der Gewissheit wiederaufnehmen, den wir versucht hatten, zu verlassen; der Blick dieser Gegenwart erlaubt es uns, das was wir sind anzuschauen. Was sind wir? «Ich habe mich selbst gesucht. Man sucht nichts anderes als dies»33, schrieb Pavese. Wir suchen uns selbst. In jeder Situation, in einem jeden Gegenstand, nach dem sich der Mensch sehnt, sucht er nichts anderes, als sich selbst. Aus diesem Grund fühlen wir uns von dem Satz, den wir diesen Exerzitien als Titel vorangestellt haben, beschrieben: «Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert?»34. Wir sind hier, um uns darin zu begleiten, wir selbst zu werden. Unsere Gemeinschaft hat kein anderes Ziel. Diese Gemeinschaft erlaubt es uns, vor dieser Verwirrung, die wir um uns herum sehen und die oftmals auch uns ergreift, zu stehen, ohne davor zu erschrecken, die Gewalt zu besiegen, mit der viele unser Herz «ruhig stellen» wollen. Die Gewalt und die Verwirrung können diese Suche nach uns selbst, diese Sehnsucht nach Fülle, nicht zerstören.
Der erste Aspekt des Weges besteht darin, uns der Ungeheuerlichkeit unserer Sehnsucht bewusst zu werden, uns dessen, wonach sich unser Herz sehnt, bewusst zu werden. Welche Zärtlichkeit zeigt Jesus, wenn er einen jeden von uns anschaut und dabei sagt: «Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert?» Man kann in der Tat die ganze Welt gewinnen und sich selbst dabei verlieren, weil das «sich selbst» eines jeden von uns größer als die Welt ist: Unser Ich ersehnt viel mehr, die ganze Welt reicht dafür nicht aus. Wir können alles haben und uns selbst verlieren. Welch Gnade, dass es jemanden gibt, der uns so wie Jesus in unserer Wahrheit anschaut, der uns nicht mit «Trostpflästerchen» auf den Arm nimmt, sondern die ganze Größe der Sehnsucht, die uns konstituiert, umarmt. Man versteht also, was wir in der Einführung gesagt haben: die Einsamkeit wird durch die Größe hervorgebracht, die wir daher erfahren, weil die Sehnsucht nach Totalität weder durch uns selbst, noch durch die anderen gestillt werden kann. Dies mag uns oftmals als Unglück erscheinen: Wir verstehen nicht, dass dies in Wirklichkeit die mächtigste Behauptung der Würde unseres Ichs ist.
Wenn wir beginnen unsere Menschlichkeit zu lieben, kann uns keiner auf den Arm nehmen. Wer sich hingegen seiner Menschlichkeit bewusst ist und diese gebraucht, mit ihr einen jeden Vorschlag, jeden Blick, jeden Versuch prüft: ständig den Vergleich mit dem eigenen Herzen anstellt, kann von niemandem auf den Arm genommen werden. Wenn uns jemand auf den Arm nimmt, so geschieht das deshalb, weil wir uns auf den Arm nehmen lassen. Indem wir so wie wir sind geschaffen wurden, hat uns das Geheimnis die Instrumente des Weges in die Hand gegeben. «Wenn du willst, dass dich niemand auf den Arm nimmt, dann nimm das, was ich dir gegeben habe, dein Herz, deine Menschlichkeit, deine Unverhältnismäßigkeit, diese Sehnsucht nach Fülle, die dich konstituiert, nimm sie in die Hand und gebrauche sie, gebrauche deine Menschlichkeit und vergleiche alles mit ihr!» Lewis sagte: «Was Ich an der Erfahrung mag [d.h. alles im ständigen Vergleich mit dem Herzen leben], ist, dass sie eine so ehrliche Sache ist. Ihr könnt alle möglichen falschen Abzweigungen nehmen [man darf nicht erschrecken]; aber haltet die Augen offen, und ihr werdet nicht lange weitergehen können, bevor die Warnsignale erscheinen. Vielleicht habt ihr euch selbst etwas vorgetäuscht, aber die Erfahrung versucht nicht, euch zu täuschen. Das Universum sagt die Wahrheit, wenn wir es nur aufrichtig auf die Probe stellen»35. Man kann auf dem Weg nach Bari sein und dabei glauben, sich auf dem Weg nach Mailand zu befinden, aber die Erfahrung betrügt uns nicht: wir werden nicht sehr weit kommen, ohne dass da Schilder stehen, die uns sagen: «Du irrst dich! Siehst du nicht, dass du nach Bari fährst anstatt nach Mailand?» Die Erfahrung betrügt uns nicht. Aber seid ihr euch bewusst, dass wir inmitten dieser Verwirrung die mächtigste Waffe in der Hand haben, die uns selbst am meisten gehört? Niemand, nicht einmal das, was ich euch sage, kann sie besiegen. Dein Herz gehört dir - dir! - und gleichzeitig ist es objektiv, du kannst es nicht selbst verändern. Ihr könnt euch selbst betrügen, aber (und darin besteht die Schönheit eines Weges wie dem unsrigen), auch die Fehler helfen, weil man durch sie lernt.
Ich werde der Bewegung, Don Giussani, immer dankbar dafür sein, dass er mir dieses Instrument bewusst in die Hände gegeben hat. Natürlich besaß ich meine Menschlichkeit schon, aber ich war mir ihrer Tragweite als Instrument um den Weg zu beschreiten, als Fähigkeit des Vergleichs mit allem, nicht bewusst. Ich wusste bereits - ich hatte das im Seminar gelernt - was die Menschlichkeit war, ich hatte dass, was die Kirche über die Unverhältnismäßigkeit des Menschen sagt, studiert; aber die erzieherische Tragweite, die existenzielle Tragweite all dessen kannte ich nicht. Sie zu entdecken erfüllte mich mit Begeisterung: denn es war mir möglich, ein Instrument in der Hand zu haben, um den Weg zu beschreiten. Daher sagte ich zu Don Giussani: «Ich werde dir immer dankbar sein, weil ich seitdem einen menschlichen Weg gehen durfte».
Wenn jemand die Augen offen hält, dann verfügt er über die Fähigkeit, wenn inmitten der Hölle etwas auftaucht, das nicht zur Hölle gehört, dies zu entdecken, es zu unterscheiden; er verfügt über die Fähigkeit, es zu beurteilen, den Akzent des Wahren wahrzunehmen, der unverwechselbar ist. Man kann sich mit der eigenen Haltung, der eigenen Erziehung, der persönlichen Geschichte in diametralen Gegensatz dazu befinden, aber wenn man etwas Wahres findet, dass einem so sehr entspricht, der Menschlichkeit so sehr entspricht, erkennt man dies sofort. Wir alle - sowohl die, die seit langem dabei sind als auch die, die zum ersten Mal hier sind - wir wurden dadurch überzeugt. Das Christentum besteht darin, auf dem eigenen Weg einer andersartigen Menschlichkeit zu begegnen, etwas zu begegnen, dass sich unserer bemächtigt, einem Blick, einer Gegenwart, einer Neuheit, einer menschlichen Andersartigkeit zu begegnen. Und so eröffnet sich vor unseren Augen ein neuer Horizont. Und was diese Begegnung uns vorschlägt ist leicht zu verstehen. Niemand muss uns sagen, was wir zu tun haben, denn wenn jemand auch nur ein Minimum an Leidenschaft für die eigene Bestimmung hat, dann will er daran teilhaben, will dabei sein.
Also genügt es, wie wir gestern gesagt haben, «dabei zu bleiben», zu folgen. In diesen Zeiten bedarf es, wie der heilige Augustinus sagte, eines starken Glaubens, den man in dieser menschlichen Andersartigkeit sieht, und gute Freunde.36 Diese beiden Dinge gehören zusammen und sind nicht voneinander getrennt. Bleiben und folgen. Aber wie? Es handelt sich um ein Zusammensein, das unsere Sehnsucht nach Totalität nicht lähmen darf, das die Neugier, den Grund der Andersartigkeit zu entdecken, nicht lähmt. Daher ist es ein Zusammensein der Arbeit und des Kampfes, weil wir durch diese Sehnsucht nach Fülle konstituiert sind. Wir können nicht einfach mechanisch zusammen sein, nur um die Zeit zu verbringen. Wir können uns nicht auf den Arm nehmen: Wir sind dann Freunde, wenn wir gemeinsam auf die Bestimmung zu gehen, wenn wir uns darin helfen, auf die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Fülle zuzugehen. Ich versichere euch, dass ihr, wenn es nicht so ist, früher oder später weg gehen werdet - wenn ihr mit eurer Freundin nicht gemeinsam auf die Bestimmung zu geht, werdet ihr sie früher oder später verlieren, wie es überall geschieht, weil unsere Sehnsucht, Sehnsucht nach Unendlichkeit ist. Daher können wir unsere Freundschaft nicht einfach als ein «schönes Zusammensein» begreifen: Unser Zusammensein ist dann schön, wenn es in einem gemeinsamen Kampf besteht, wenn es darin besteht, gemeinsam in dieser Spannung zu leben. Ich will nicht, dass das Zusammensein mit euch die Intensität meiner Sehnsucht nach Fülle auch nur um einen Millimeter verkürzt, ich will das nicht, ich will eine solche Gemeinschaft nicht.
Welche Pracht hingegen ist eine Gemeinschaft, in der man sich bewusst begleitet! Heute morgen habe ich euch mit dem Bewusstsein betrachtet, dass ihr alle ein Herz habt, das euch alles ersehnen lässt: genau das macht es mir unmöglich, euch zu verkürzen, euch auf den Arm zu nehmen, lässt mich in Gemeinschaft mit euch sein, erlaubt es mir, euch mir nahe zu fühlen, euch als Begleiter und Freunde wahrzunehmen, weil wir diese gleiche Vibration in uns tragen. Wir alle sind von dem gleichen Ereignis berührt worden - es hat uns ergriffen und sich unserer bemächtigt - wir sind zusammen, um ihm Raum zu geben. Hier haben wir eine Waffe, die Vernunft heißt.
Wir, die wir uns oftmals auf unseren Gefühlszustand verkürzen, uns in unseren Horizont einschließen, in unsere Sorgen, haben eine Waffe in der Hand: unsere Vernunft. Gebrauchen wir sie, zücken wir diese Waffe, um uns nicht «einschließen» zu lassen: die Wirklichkeit und unser Bedürfnis sind größer als unser Maß. Helfen wir uns also darin, die Vernunft zu erweitern, um nicht zu ersticken. Wie aber ist es möglich nicht zu ersticken? Indem wir dem Ereignis ständig Raum geben. Wie auch immer unsere Umstände sein mögen, so kann doch keiner behaupten, dass er sich diesem Blick, der ihn erreicht und durchdrungen hat, nicht öffnen könne. Wer konnte verhindern, dass Zachäus sich am Tag danach beim Aufwachen daran erinnerte, sich ganz von diesem Blick, mit dem ihn Jesus angeschaut hatte, ergriffen fühlte? Niemand. Wie auch immer der Gefühlszustand gewesen sein mag, mit dem er aufgestanden war, konnte ihn nichts daran hindern, er selbst zu sein, dem Raum zu geben, was ihm geschehen war, diesen Blick einzulassen. Dies nennt sich «Gedächtnis», Gedächtnis eines gegenwärtigen Blickes: denn es handelt sich in der Tat um etwas Gegenwärtiges und um keine Erinnerung; es ist in unsere Geschichte in einem Moment eingetreten, und bleibt auch heute, erreicht uns heute.
Finden wir uns nicht mit der Verkürzung des Glaubens auf unseren ethischen Versuch ab, eine widerwärtige Wirklichkeit zu leben. Nicht dies ist die Wirklichkeit: die Wirklichkeit lässt sich nicht darauf verkürzen. Daher müssen wir die Vernunft gebrauchen. Schau die ganze Hässlichkeit an, das Dunkel, von dem du sprichst, und sag mir: ist das alles? Kannst du auch in deinem Elend, wenn du dich selbst von deinem eigenen Bösen vernichtet siehst, diesen Blick auslöschen? Erziehen wir uns dazu, eine jede Sache herauszufordern, unsere Vernunft zu gebrauchen, um uns nicht in unser Maß einschließen zu lassen, um nicht in der Zelle zu ersticken. So werden wir nicht gezwungen und dazu verdammt sein, zu fliehen.
Wer oder was, welche Krankheit, welche Beschwernis, kann uns daran hindern, Seine Gegenwart anzuerkennen? In dieser Situation, in der ich mich selbst nicht mehr ertrage, in dieser Situation der Beschwernis, der Sorge, der Krankheit, ich, der ich alles hässlich finde... - wenn ich das alles fühle und mir dessen bewusst bin, dann nur deshalb, weil ich bin. Und gerade da ich bin, ist jetzt, in diesem Augenblick, nichts evidenter für mich als die Tatsache, dass ein Anderer mich hervorbringt. Und das könnt auch ihr nicht verhindern: ihr seid da. Ihr könnt auf die ganze Welt wütend sein, aber in diesem Augenblick seid ihr geschaffen: und darüber entscheidet nicht ihr. Wie es in dem Blues von Baldwin heißt: «Du weißt, dass ich nicht an Gott glaube, Oma», sagt Richard. «Nicht du entscheidest», antwortet sie!37 Du bist erschaffen und daher liebt dich Einer und umarmt dich. Wer kann uns daran hindern, ständig wieder das Fenster zu öffnen, um nicht zu ersticken und diesen Blick zu erfahren?
In der Zeitung Il Foglio vom 8. Dezember erzählt Luigi Amicone von der Erkrankung seiner 19jährigen Tochter an Leukämie. Wie hat er ihr angesichts der Rebellion gegenüber einer solchen Nachricht geholfen? Mit welcher Waffe? Indem er die Vernunft gebrauchte, indem er sie daran erinnerte, dass sie auf Grund einer Krankheit ihrer Mutter während der Schwangerschaft gar nicht geboren werden sollte: «Diese Tochter wird sterben», sagte ihm seine Frau unter Tränen. Und er antwortete ihr: «Diese Tochter ist ein Geschenk, das Leben gehört nicht uns, vertrauen wir uns also an». Und an genau daran hat er sie erinnert: «Diese Tochter, die gar nicht geboren werden sollte, bist du. Aber du bist geboren, du bist da. Dass ist die ganze [die unverkürzte] Wahrheit: nicht uns, sondern einem Anderen gehört das Sein». Daraufhin ist Lucilla [die Tochter] ganz still, sagt nichts, und nickt dann mit dem Kopf und sagt ihr «Ja, so ist es»38.
Dies ist die Waffe der Vernunft. Alles andere als ein Sentimentalismus! Auch das Gefühl von mir selbst ändert sich, weil etwas Anderes hereinkommt. Die ganze Wirklichkeit ist dies, nicht das, auf das wir es reduzieren. Van Gogh schreibt: «Das ändert nichts daran, dass ich ein enormes Bedürfnis [so nennt er das Bedürfnis nach etwas anderem] nach Religion habe; also gehe ich nachts nach draußen, um die Sterne zu malen, und ich träume immer von einer Gruppe von lebendigen Gestalten meiner Freunde»39. Es gibt etwas anderes, auf das wir den Blick richten können: man kann die Augen zu den Sternen wenden oder seiner Tochter die ganze Wahrheit sagen, oder man kann, wie unser Freund Nicola, der vor Kurzem gestorben ist, die eigene Krankheit als Zeugnis dafür zu leben, dass nichts uns daran hindern kann, unser Fenster zu öffnen: «Ich wache morgens auf und danke dafür, sein zu dürfen, und meine erste Sehnsucht ist die Neugier: wie wird sich mir Christus heute zeigen? Jetzt! Sofort! [Jetzt, sofort, es geht nicht darum dies auf Später zu verschieben!] Dann sehe ich meinen Vater, der mir die Medizin und den Kaffe bringt, meinen Bruder, der mir in allem hilft, genauso wie mein anderer Bruder, meine Mutter, die da wartet und ebenfalls zu allem bereit ist.... Was soll ich sagen? Ich fühle mich gewollt und umarmt. Wenn ich in den Bunker der Strahlentherapie geschoben werde fühle ich mich nie allein! Es scheint mir, als hätte ich dort eine Gemeinschaft aus einer anderen Welt, ausgehend von Don Giussani, den ich immer um ein seinen Beistand bitte»40.
Mit dem, was uns geschehen ist, können wir die ganze Hässlichkeit, alle Krankheiten, alle Situationen angehen. Wer diesen Weg nicht geht, wer nur hier ist, um seinen Sitz zu wärmen, kann diese Gewissheit nicht erlangen. Beschweren wir uns dann auch nicht! Keiner hat euch versprochen, dass ihr die Gewissheit erlangt, indem ihr einfach nur da seid. Nein! Wir sind zusammen, aber in der Arbeit, indem wir uns auf dem Weg, von dem wir gesprochen haben, helfen! Wer diesen Weg nicht geht, wird Christus nie erkennen können!
Wenn ich euch diese Dinge sage, dann deshalb, weil auch ich dachte, bereits alles zu wissen. Nach all den Jahren im Priesterseminar - ich bin mit zehn Jahren eingetreten -, nachdem ich zehn Jahre Priester war und nach der Doktorarbeit in Theologie, glaubte ich schon, etwas zu wissen. Aber wie ich vorhin gesagt habe, war es die Begegnung mit der Bewegung, die es mir ermöglicht hat, einen menschlichen Weg zu gehen und eine «vernünftige» Gewissheit zu erlangen, die ich mir nie vorgestellt hätte. Ich glaubte schon zu wissen, wer Christus ist, aber ich kannte ihn nicht: nur in der Erfahrung hat sich meinen Augen enthüllt, wer Christus ist. Ich wusste nicht, dass er sich in der Wirklichkeit, in den Umständen so mächtig zeigt. Er zeigt sich in der Wirklichkeit: man muss weder eine Gebrauchsanweisungen anwenden, noch muss man sich frömmlerisch geben. Alles wurde seitdem zur Gelegenheit, mehr zu entdecken, wer Christus ist. Meine Sehnsucht hat einen Gegenstand gefunden und ist nicht mehr wie ein wandelndes Pulverfass: Seine Gegenwart hat mich so überrascht, dass sich meine Sehnsucht verändert hat. Meine Sehnsucht hat sich verwandelt, weil sie einen Gegenstand gefunden hat. Nicht weil ich Priester bin, sondern weil ich diesen Gegenstand der Sehnsucht meiner Menschlichkeit gefunden habe: dies ließ mich eine nie geahnte Fülle erreichen, die gleichzeitig auch meine Sehnsucht «verändert» hat, sie in ihrer Wahrheit enthüllt hat. Dass sich die Sehnsucht verändert, dass man beginnt, tatsächlich eine andere Sache zu ersehnen, kann nicht das Ergebnis einer Ethik sein. Oftmals unterlässt man gewisse Dinge, weil sie durch die Moral verboten sind. Viele denken, dass das Christentum genau deshalb ein großer Reinfall ist, weil es gewisse Dinge verbietet. Aber eine Moral - also wenn einer gewisse Dinge nur deshalb nicht tut, weil er es nicht darf, aber wenn er dürfte, diese Dinge sofort machen würde - wird die Sehnsucht nie verändern. Daher sind die Christen, die so leben, sowohl jetzt als auch später arm dran, weil sie so wie alle anderen leben - nur ein bisschen weniger. Dies interessiert mich nicht, und ich denke nicht, dass es irgendwen von euch interessiert. Mich interessiert es, zu überprüfen, ob es etwas gibt, was die Sehnsucht erfüllt, was das Leben mehr als alle Phantasie erfüllt, mehr als alle gewagten Unternehmungen, mehr als alle nur vorstellbaren Dummheiten; man wird auch der Dummheiten überdrüssig und genau deshalb, weil wir uns nach Befriedigung, Fülle und Glück sehnen, sehnen wir uns nach Christus. Wir sind keine Verrückten: wir sind Personen, die sich nach einer immer größeren Befriedigung und genau darum nach Christus sehnen. Und wir ersehen ihn nicht als Gegenstand unserer Frömmigkeit: ein Gegenstand der Frömmigkeit, wie auch die Ethik, verändert die Sehnsucht nicht, erfüllt sie dir nicht. Nur etwas Wirkliches erfüllt sie.
Dies ist der Weg, den wir vor uns haben. Das Seminar der Gemeinschaft ist ein entscheidendes Instrument um uns darin zu begleiten. In diesem Moment der Verwirrung wieder Spuren christlicher Erfahrung41 zur Hand zu nehmen, also eines der drei Bücher, mit denen Don Giussani begonnen hat, bedeutet auf synthetische Art und Weise die ursprünglichen Faktoren der christlichen Erfahrung wieder aufzugreifen. Ich füge hier ein Problem der Methode an: wir können es uns nicht erlauben, in der Schule der Gemeinschaft das Wort zu ergreifen, wenn nicht ausgehend von der gemachten Erfahrung. Irgendwelche «Reden zu schwingen» - es handle sich dabei um Verantwortliche oder jeden anderen - dient niemandem, oder besser, dient nur dem Nihilismus. Bleiben wir bei der Erfahrung bzw. messen wir uns mit der Erfahrung, weil uns dies ein jedes Mal mehr mit Begeisterung für Christus erfüllen wird.

1 L. Giussani, «Wie man Christ wird», in: Spuren Nr. 9, Oktober 2006, S. 2.
2 Vgl. Lk 9,25.
3 L. Giussani, «Wie man Christ wird», a.a.O.
4 P.P. Pasolini, Teorema oder die nackten Füsse. - 2. Aufl., Aus d. Italien. von Heinz Riedt. - München: Piper. 1980, S. 188.
5 Novalis, Das allgemeine Brouillon, Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99, Nr. 857. hrsg. von Hans-Joachim Mähl. - Hamburg : Meiner. 1993, S. 194.
6 F.W. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), Berlin 1973, S. 225.
7 L. Giussani, Der Weg zu Wahrheit ist eine Erfahrung, Eos Klosterverlag, St. Ottilien 2006, S. 70.
8 Ebd. S. 71.
9 «Gott scheitert nicht, auch heute nicht»: Predigt Benedikts XVI. an die Bischöfe aus der Schweiz (7. November 2006)
10 Luigi Giussani: Warum die Kirche? 1. Teilband, S. 5.
11 Benedikt XVI., Ansprache an der Universität Regensburg, 12. September 2006.
12 L. Giussani: Der religiöse Sinn. S. 37.
13 Ebd. S. 26.
14 I. Calvino: Die unsichtbaren Städte, München, Hanser 1979, S. 175.
15 L. Giussani, Si può vivere così?, Bur, Milano 1994, S. 39.
16 Joh 9,1-41.
17 L. Giussani, Si può vivere così?, a.a.O., S. 60.
18 Ebd. S. 40f.
19 L. Giussani, Generare tracce nella storia del mondo, Rizzoli, Milano 1998, S. 25.
20 C. Tresmintant, L`intelligenza di fronte a Dio, Jaca Book, Milano 1981, S. 98.
21 L. Giussani, Warum die Kirche?, S. 12f.
22 L. Giussani, Am Ursprung des christlichen Anspruchs, S. 57.
23 Vgl. Lk 9,25.
24 Augustinus, De civitate Dei, XIX, 8.
25 L. Giussani, Avvenimento di libertà, Marietti, Genova 2002, S. 95-96.
26 Vgl. Jer 31,3.
27 Vgl. Lk 19, 1-10.
28 Vgl. Jh 6,67-68.
29 Vgl. L. Giussani, Generare tracce..., a.a.O., S. 32-33.
30 Vgl. Lk 19,5
31 1Kor 1,6-7.
32 Ps 89,3.
33 «Ho cercato me stesso. Non si cerca che questo» C. Pavese, Dialoghi con Leucò, Einaudi, Torino 1999, S. 78.
34 Vgl. LK 9,25.
35 Vgl C.S. Lewis, Überrascht von Freude, Wuppertal 1992, S. 215.
36 Vgl. Augustinus, De civitate Dei, a.a.O.
37 Vgl. James Baldwin: Blues for Mister Charlie. Dial Press, New York 1964, S. 19. Übersetzung hier in Anlehnung an die ital. Ausgabe James Baldwin, Blues per l'uomo bianco, Feltrinelli, Milano 1965, pp. 39-40.
38 L. Amicone, «La palpebra di Carlo e la leucemia di mia figlia Lucilla», in Il Foglio, 8. Dezember 2006, S. 3.
39 V. van Gogh: Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Bodo Placata, aus dem niederländischen und französischen von Christel Captijn-Müller und Winfried Jung.
40 «Unglaubliche Dinge», in Spuren 11, Dezember 2006, S. 7.
41 Vgl. L. Giussani, Der Weg zu Wahrheit, S. 67-104.